Von Syrien bis Belarus: Der Kern des Problems ist Putin

Kommt Putin etwa wieder mit allem davon? Der belarusische Diktator Lukaschenko wird von der EU zu Recht endlich härter sanktioniert. Doch an die Macht, ohne die er seine Untaten nicht verüben könnte, trauen sich die Europäer noch immer nicht heran. Wohin das führt, kann man in anderen Teilen der Welt studieren.

In Syrien hat sich der Diktator und Massenmörder Baschar al-Assad soeben in einer zynisch inszenierten Wahlfarce mit willkürlich festgelegten 95,1 Prozent Stimmenanteil zum Präsidenten wiederwählen lassen. Er triumphiert auf den Trümmern seines eigenen Landes, das er in Waffenbrüderschaft mit seinen Schutzmächten Russland und Iran in Schutt und Asche hat legen lassen.

Gut die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist durch deren systematisch gegen die Zivilbevölkerung und auf die Zerstörung ziviler Infrastruktur gerichteten Kriegsführung in die Flucht getrieben worden, über 500 000 Menschen verloren in diesem Gemetzel bisher ihr Leben. Diejenigen, die überlebten und bleiben konnten, versinken zum Großteil im Elend, während sich die in mafiotischen Strukturen organisierte Klientel Assads maß- und schamlos bereichert – nicht zuletzt an den zur Linderung der Not der syrischen Bevölkerung bestimmten humanitären Hilfsgeldern der internationalen Gemeinschaft, die das Regime für seine eigenen Zwecke abzweigt.

In Belarus wütet der Repressionsapparat des Autokraten Lukaschenko mit zunehmender Enthemmung gegen das, was von der dortigen Demokratiebewegung noch übrig geblieben ist. Zuletzt hat er in einem Akt von Luftpiraterie ein westliches Passagierflugzeug kapern und aus ihm heraus den exilierten oppositionellen Journalisten Roman Protassewitsch verhaften lassen, der dann vor laufender Kamera – offensichtlich durch Misshandlungen erzwungene – Geständnisse ablegen musste

Moskaus Globalstrategie

Was haben diese jüngsten Ereignisse miteinander zu tun? Dass es sie ohne Wladimir Putin, dessen Regime bei der Auslöschung demokratischer Bestrebungen rund um die Welt Regie führt, nicht gäbe. Die Repression in Belarus ebenso wie die grauenvollen Zustände in Syrien können nicht losgelöst von Moskaus Globalstrategie der Unterdrückung von Demokratiebewegungen, der neoimperialistischen Ausbreitung seines autoritären, kleptokratischen Herrschaftsmodells, der gewaltsamen Außerkraftsetzung des internationalen Rechts und der mit den Mitteln des hybriden Kriegs betriebenen Unterminierung der westlichen Demokratien betrachtet werden.

Putins Politik des antidemokratischen Rollbacks beschränkt sich keineswegs auf den von ihm zum russischen Einflussgebiet erklärten postsowjetischen Raum – auch wenn die Ukraine weiterhin das bevorzugte Ziel seiner Aggressions- und Eroberungsgelüste ist. In Belarus wendet der Kreml die gleiche Methode an, die es bereits an anderen Schauplätzen erprobt hat: an von ihm gestützten Diktatoren um jeden Preis festzuhalten und den Forderungen der demokratischen Opposition unter keinen Umständen auch nur im Geringsten nachzugeben, bis diese schließlich ermüdet und zerfällt.

Auf der Basis dieses ebenso simplen wie skrupellosen Konzepts hatte der Kreml in Venezuela den Autokraten Maduro, als er schon zur Flucht entschlossen war, zum Durchhalten gedrängt. Und obwohl Maduros Position für einen Moment bereits aussichtslos schien, ist es ihm so gelungen, seine Herrschaft ungeachtet des internationalen Sanktionsdrucks zu zementieren, während die dortige Opposition mittlerweile tief demoralisiert ist. Die Gefahr wächst dramatisch, dass sich dies in Belarus wiederholt.

Gesetzlosigkeit holt uns ein

Indem der Westen zugelassen hat, dass die Kriegsallianz Moskau-Teheran-Damaskus in Syrien das internationale Recht systematisch außer Kraft setzte – bis hin zum Einsatz von Giftgas -, bestärkte er Putin in seiner Überzeugung, es auch überall sonst ungestraft mit Füßen treten zu können. Mit Lukaschenkos Flugzeug-Coup ist dieses Verfahren nun endgültig auch in ganz Europa angekommen. Das zur Schau gestellte Entsetzen darüber in den politischen Führungsetagen des Kontinents trägt jedoch auch Züge von Heuchelei. Längst hätte man begreifen müssen: Wer die fundamentalen Prinzipien des internationalen Rechts in scheinbar fernen Weltregionen preisgibt, muss damit rechnen, dass die Gesetzlosigkeit bald auch ins eigene Haus Einzug hält.

Gewiss ist die Lage in Syrien als auch in Venezuela von der in Belarus in vieler Hinsicht sehr verschieden. Doch ein Prinzip wird in allen drei Ländern deutlich: Indem der Kreml durch sein Eingreifen angeschlagenen Despoten die Haut rettet, macht er sie zu seinen willfährigen Vasallen. Das gilt für Assad wie für Lukaschenko: Ein belarusischer Despot, der die Fortsetzung seiner Herrschaft nur der Macht des Kreml verdankt, wird damit für Moskau zu einem gefügigen Befehlsempfänger und willfährigen Vollstrecker seiner großrussisch-imperialen Ambitionen. Die Befürchtung ist daher begründet, dass die forcierte Anpassung der Strukturen des Landes auf den Gebieten von Militär, Sicherheit, Wirtschaft, Energie und Verwaltung an das Herrschaftsmodell Putins das Vorspiel zum Anschluss von Belarus an die Russische Föderation darstellt. Wäre dieser erst einmal vollzogen – dann erst würde Putin Lukaschenko, der sich lange Zeit für seinen Geschmack zu eigensinnig geriert hat, nicht mehr brauchen.

Der Kardinalfehler der EU seit dem Beginn der Unterdrückung des demokratischen Aufstands im vergangenem Sommer war es, nur das Lukaschenko-Regime zu sanktionieren – und auch das nur völlig unzureichend -, die dafür in letzter Instanz verantwortliche Macht, nämlich Putins Russland, jedoch von Strafmaßnahmen auszunehmen. Viel zu lange redeten sich europäische Staatenlenker und Strategie-Experten ein, Putin könne als Kooperationspartner bei der Zügelung Lukaschenkos und der Herbeiführung eines Ausgleichs zwischen Staatsmacht und demokratischer Opposition gewonnen werden. Deshalb dürfe man ihn nicht durch gegen ihn gerichtete Sanktionen verschrecken.

Krampfhaft bewahrte Illusion

Weder der versuchte Giftmord und die spätere willkürliche Einkerkerung Alexej Nawalnys noch die forcierte Aggression gegen die Ukraine, die mit dem russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze jüngst einen neuen Höhepunkt erreichte, konnte die Europäer von ihren krampfhaft bewahrten Illusionen in die potenzielle Dialog- und Kompromissbereitschaft Putins abbringen. Lukaschenkos terroristische Operation, die er offenkundig niemals ohne – mindestens- die Rückendeckung Putins gewagt hätte, hat nun immerhin endlich zu einer größeren Entschlossenheit der EU geführt, den Despoten in Minsk härter zu sanktionieren.

Doch warum zögert die EU noch immer, den sich daraus zwingend ergebenden nächsten Schritt zu gehen und den Preis, den der Kreml für seine Zementierung eines diktatorischen Folterregimes zu zahlen hat, deutlich in die Höhe zu treiben? Es fragt sich, welchen Beweis die Europäer noch brauchen, um Putins Russland als das einzustufen, was es ist: Kein nur temporär verirrter potenzieller „Stabilitätspartner“, sondern ein zu allem entschlossener Feind der freien demokratischen Welt und aller Werte und Prinzipien, für die sie steht.

In Deutschland sind die Apologeten und Beschwichtiger des Putin-Regimes quer durch die politischen Lager, allen voran die Kreml-Parteien AfD und Die Linke, freilich schon wieder mit Hochdruck dabei, den Anteil des Kreml an Lukaschenkos Piratenakt zu leugnen oder herunterzuspielen. Und weit davon entfernt, mit Blick auf Putins Machenschaften in Alarmzustand versetzt zu werden, setzt die deutsche Politik unverdrossen ihren eingefahrenen Kurs der Leisetreterei gegenüber dem Kreml fort.

„Kein Öl ins Feuer gießen“?

Dass der grüne Co-Vorsitzenden Robert Habeck kürzlich aus diesem Konsens ausscherte und sich für die Lieferungen von Defensivwaffen an die Ukraine aussprach, löste sogleich einen überparteilichen Aufschrei aus, verbunden mit der stereotypen Mahnung, man dürfe bloß nicht noch mehr „Öl ins Feuer“ des mit neutralistischem Unterton so genannten „Ukraine-Konflikts“ gießen. Der fatale Widersinn, einer von einer autoritären Macht akut bedrohten, befreundeten europäischen Demokratie die Unterstützung bei der Verbesserung seiner Verteidigungsfähigkeit zu verweigern, weil das den Aggressor „noch mehr reizen“ könnte, fällt nach wie vor nur wenigen klügeren Köpfen unter den deutschen Politiker/inn/en auf (s. hier: Thomas Erndl (CSU) über Ukraine-Krise: »Waffenlieferungen dürfen kein Tabu sein« – DER SPIEGEL).

Statt jedes Mal nur auf jeweils einzelne neue aggressive Akte des Putin-Regimes zu reagieren, müsste der Westen endlich eine gemeinsame, global zusammenhängende und präventive Abschreckungsstrategie gegenüber Russland entwickeln. Doch auch die anfänglich bekundete Entschlossenheit des neuen US-Präsidenten, die russische Aggression global zurückzudrängen, scheint sich mittlerweile merklich abgeschwächt zu haben. Der kopflose US-Rückzug aus Afghanistan, durch den Washington nicht zuletzt auch dem mit den Taliban verquickten Russland das Feld überlässt, Bidens wiederholt betonte Versicherung, man strebe ein „konstruktives“ Verhältnis zu Moskau an, und sein Verzicht auf die Sanktionierung deutscher Unternehmen, die am Bau von Nord Stream 2 beteiligt sind (was der Aufgabe des amerikanischen Widerstands gegen die Realisierung von Putins Renommier-Projekt gleichkommt) – all das sind Anzeichen dafür, dass sich Bidens Russland-Politik eher der konzilianten Linie der Europäer anzunähern beginnt als umgekehrt.

Offenbar hat Biden die Grundsatzentscheidung getroffen, dass China als die größere Bedrohung für die Sicherheit der USA und die internationalen Ordnung zu betrachten sei als Russland, das er eher nur als einen lästigen Störenfried einstuft. Doch so wahr es sein mag, dass das totalitäre China mit seiner enormen Wirtschaftskraft auf lange historische Sicht der weit mächtigere Herausforderer des Westens ist – zumindest für die europäischen Demokratien stellt Putins Aggressionspolitik die akutere existenzielle Bedrohung dar. Und es gibt weltweit kaum noch einen explosiven Konfliktherd, in dem Russland nicht in destruktiver Weise involviert ist. Selbst der Terror der Hamas gegen Israel wird vom Kreml zumindest indirekt begünstigt – durch seine strategische Allianz mit dem Iran, der die palästinensischen Terroristen finanziert, ausrüstet und ideologisch befeuert.

Dass Biden mit Putin Mitte Juni zu einem ersten Gipfeltreffen zusammenkommen wird, erweckt vor diesem Hintergrund einen zwiespältigen Eindruck. Denn in der gegenwärtigen Situation könnte dieses Treffen wie eine Aufwertung des Kreml-Herrschers zum unverzichtbaren globalpolitischen Gegenüber der westlichen Führungsmacht auf Augenhöhe wirken. Wie konsequent der US-Präsident Putin entgegentreten wird, hat für den zukünftigen Umgang des Westens richtungsweise Bedeutung: Entweder es gelingt Biden, ihm glaubhaft deutlich zu machen, dass seine globale Aggressionspolitik ab jetzt auf den entschiedenen Widerstand des Westens stoßen wird. Oder er bestärkt ihn durch zu großes Entgegenkommen ihn seiner Einschätzung, dass solche ernsthafte Gegenwehr von den westlichen Demokratien nicht mehr zu erwarten ist.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Ich hoffe, dass sich solche Einsicht allmählich durchsetzt. Doch wie so oft mögen es viele Menschen nicht, wenn man ihnen schlichte Wahrheiten vor die Nase hält. Ist sie unerträglich, wendet man sich von ihr ab.
    Vor vielen, vielen Jahren als die Hoffnung verflogen war, dass man von Putin einen positiven Beitrag zum Gedeihen des Menschengeschlechts erwarten kann, fing ich damit an mich intensiver mit der russischen Politik zu beschäftigen. Aber es gab es denn nicht irgendwas Positives über die russische Politik zu berichten? Nach ein paar durchaus glücklichen Reformen im Steuerrecht vor zwanzig Jahren, fand ich wenig bis nichts. Was aber auffällig insbesondere an der russischen Aussenpolitik erscheint ist dieses permanente destruktive agieren. Putin will Konflikte nicht beilegen, sondern schürt sie gezielt zum eigenen Vorteil. Ob Georgien oder die Ukraine, ob Moldau oder Syrien… Die Konflikte gäbe es ohne Russland nicht oder nicht mehr. Schwerer wiegt aber, dass sein Agieren auf erstaunlich viel Verständnis, wenn nicht sogar Gegenliebe bei uns stößt. Extremisten aller Länder lieben ihn und sie lieben ihn nicht ohne Grund. Von ihm bekommen sie die Unterstützung, die andere ihnen verweigern. Den Diktatoren auf diesem Planeten gilt er als sicherer Schutzpatron. Sein Erfolg beruht aber eben auch darauf, dass man ihn gewähren lässt, statt ihn in seine Schranken zu weisen. Europa will nicht. Die USA haben auch noch andere Baustellen und Deutschland hat schon panische Angst, wenn auch nur der „Gesprächsfaden abreissen könnte“.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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