Manès Sperber: Demokratien müssen bewaffnet sein

Zum Vermächtnis antitotalitärer Denker des 20. Jahrhunderts gehört auch die Absage an einen falsch verstandenen und fehlgeleiteten Pazifismus. Einer, der sie besonders eindringlich formuliert hat, war Manès Sperber.

Es gibt zwar kein rundes Jahrestags-Datum dafür, aber dennoch genügend aktuellen Anlass, daran zu erinnern: Im Oktober 1983, auf dem Höhepunkt der massenhaften Protestdemonstrationen gegen die Nato-Nachrüstung, wurde der in der Ukraine geborene Schriftsteller Manès Sperber mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt – unter heftigen Protesten aus den Reihen der von ihm kritisierten „Friedensbewegung“ und der damals noch fundamentalpazifistischen Grünen.

Ihren Zorn zog Manès Sperber auf sich, weil er seine Preisrede dazu genutzt hatte, vor der Selbstentwaffnung Europas angesichts der Bedrohung durch den sowjetischen Totalitarismus zu warnen. Ausdrücklich bekannte er sich zur Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen in Europa im Zuge der Nato-Nachrüstung sowie zur Notwendigkeit der atomaren Abschreckung. Und das gerade, weil ihm jeglicher Krieg zutiefst verhasst war – seine Familie hatte schon 1916 vor dem Kriegsgeschehen aus ihrer ukrainischen Heimat flüchten müssen. Sperbers Mahnung, dass es jedoch eine Illusion sei, man könne den Frieden durch Nachgiebigkeit gegenüber der Erpressung von totalitären Aggressoren erhalten, ist heute so aktuell wie damals

„Kriegshetzer“ ist eine Nazi-Vokabel

Diese Einsicht Sperbers ist die Essenz ebenso reicher wie schmerzlicher Erfahrungen eines Lebens im Zeichen rassischer wie politischer Verfolgung durch zwei mörderische totalitäre Systeme. Der großartige Manès Sperber kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn Putin-Trolle, Islamistenversteher und andere glühende Liebhaber des Weltfriedens von links bis rechts wieder mal jeden als „Kriegshetzer“ brandmarken, der sich angesichts neuer Bedrohungen für die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der freien Welt einsetzt. Die wenigsten Zeitgenossen wissen, dass es sich bei dieser Denunziationsvokabel um eine Wortschöpfung der Nazi-Propaganda handelt, die von den Propagandisten des roten Imperialismus freudig übernommen wurde (oder war es doch umgekehrt?).

In seiner Rede sagte Manès Sperber:

„In den 30er Jahren wurde meinesgleichen von Goebbels und seinen Tintenkulis als Kriegshetzer beschimpft, sooft wir davor warnten, den stetig wachsenden Forderungen Hitlers nachzugeben und durch Kapitulation am Ende den Krieg unvermeidlich zu machen. Und nun leben wir seit Jahrzehnten in der Ära pseudo-ideologischer Erpresser. Jeder aber sollte wissen, dass Erpresser um so mehr verlangen und um so bedrohlicher werden, je öfter man ihnen nachgegeben hat. (…) Wer jedoch glaubt und glauben machen will, dass ein waffenloses, neutrales, kapitulierendes Europa für alle Zukunft des Friedens sicher sein kann, der irrt sich und führt andere in die Irre. Wer für die Kapitulation vor jenem bedrohlichen Imperium eintritt, das seit dem Zweiten Weltkrieg mehrere europäische Staaten in Satelliten verwandelt hat, irrt sich und führt andere in die Irre.“

Antiamerikanismus ist Undankbarkeit

Nichts an Aktualität verloren hat leider auch die Kritik dieses konsequenten jüdischen Humanisten am grassierenden europäischen Antiamerikanismus. Sie ist so zeitgemäß wie Sperbers Appell für ein Europa, das seine militärische Verteidigungsfähigkeit aus eigener Kraft gewährleisten muss, statt sich auf den Schutzschirm der Vereinigten Staaten zu verlassen. Scharf lehnte Manès Sperber jedoch alle Tendenzen ab, die mit dieser Forderung einen antiamerikanischen Affekt oder gar die Gleichsetzung der „Supermächte“ USA und Sowjetunion verbanden:

Und nun noch zwei Nachbemerkungen: die erste bezieht sich auf die Amerikafeindschaft vieler Europäer, auf ihre aggressive Undankbarkeit, die wohl die niederträchtigste Form individueller wie nationaler Selbstbehauptung ist. Jene, für welche die europäische Kultur mehr ist als ein beinahe unerträglicher Überanspruch; für jene, die mit allen Fibern am geistigen Reichtum Europas hängen, bleibt der Unterschied zwischen diesem alten Kontinent und dem Amerika von heute, jener alten europäischen Kolonie, sehr bedeutsam. Es geht da kaum um Wertung oder Entwertung, sondern vielmehr um eine Identitätsfrage. Weder Russland noch Amerika wären geworden, was sie sind, wenn Europa ihnen während langer Jahre nicht als Vorbild, als geistige Heimstätte oder als abschreckendes Beispiel gedient hätte. Wer nun behauptet, dass Europa heute durch die Vereinigten Staaten von Amerika gleichermaßen wie durch das sowjetische Imperium gefährdet wird, ist in meinen Augen durch aggressive Undankbarkeit verblendet. Andererseits ist es wahr, dass Europa seinen Schutz nur den eigenen Kräften und keiner Supermacht anvertrauen darf.

Diese Passage seiner Preisrede kulminierte in einem wahrhaft denkwürdigen Satz, der das Credo wehrhafter Verteidiger der Freiheit sowie das Dilemma, vor das liberale Demokratien in ihrem Verhältnis zu militärischer Rüstung gestellt sind, meisterhaft knapp auf den Punkt bringt:

Wir alten Europäer aber, die den Krieg verabscheuen, wir müssen leider selbst gefährlich werden, um den Frieden zu wahren.“

Die gesamte Dankesrede Manès Sperbers in der Frankfurter Paulskirche, die in Abwesenheit des erkrankten Preisträgers von dem deutsch-französischen Publizisten Alfred Grosser verlesen wurde, sowie die Laudatio von Siegfried Lenz finden sich zum Hören hier.

Manès Sperber wurde 1905 in Zablotow, einem jüdischen Schtetl in Galizien (heute das westukrainische Sabolotiw), geboren. Seine Familie flüchtete im Ersten Weltkrieg nach Wien. Schon im Alter von 16 Jahren wurde Sperber durch die Bekanntschaft mit Alfred Adler, dem Begründer der vergleichenden Individualpsychologie, geprägt. Er entschied sich für ein Psychologiestudium und beschäftigte sich fortan vor allem mit der Frage nach Macht und Gewalt. Zwischen 1927 und 1933 lehrte der damals überzeugte Kommunist an verschiedenen Hochschulen in Berlin. 1933 muss er vor der einsetzenden Judenverfolgung in Deutschland fliehen und gelangt über Jugoslawien und die Schweiz nach Paris. Angesichts der stalinistischen Säuberungsprozesse wandte er sich 1937 vom Marxismus-Leninismus ab.  

Als französischer Soldat nahm er am Zweiten Weltkrieg teil und flüchtete nach der Niederlage Frankreichs in die Schweiz. 1950 erschien sein erster Roman „Der verbrannte Dornbusch“ – als erster Teil der autobiografisch geprägten Trilogie „Wie eine Träne im Ozean“ -, der seinen literarischen Ruhm begründete. Als skeptischer Humanist und unerbittlicher Kritiker totalitärer Systeme wurde Sperber einem großen Publikum bekannt. 1950 war er Mitbegründer des Kongresses für kulturelle Freiheit, einem Zusammenschluss liberaler Intellektueller, die sich gegen die Gleichschaltung des Denkens und der Kunst durch die kommunistische Ideologie wandten. Manès Sperber starb am 5. Februar 1984 in Paris im Alter von 78 Jahren.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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