Putin greift nach Belarus und rückt auf das freie Europa vor

In Europa droht sich das sicherheitspolitische Kräfteverhältnis drastisch zugunsten von Putins neoimperialem Autoritarismus zu verschieben. Mit der fortschreitenden Kontrolle, die es über Belarus gewinnt, erzielt Moskau einen faktischen Teritorialzuwachs, der das freie Europa eigentlich in höchsten Alarmzustand versetzen müsste. Wobei die erste Zielscheibe des durch die drohende gänzliche Übernahme von Belarus zusätzlich befeuerten russischen Aggressionsdrangs die Ukraine wäre – aber bei weitem nicht die letzte. Doch der Westen versäumt es, dieser bedrohlichen Entwicklung durch entschiedene Sanktionsmaßnahmen entgegenzuwirken. Und die Parteien im deutschen Bundestagswahlkampf nehmen von ihr noch nicht einmal Notiz.

Das jüngste gemeinsame Militärmanöver Russlands mit den Truppen des Lukaschenko-Regimes ist nur einer in einer Reihe von höchst besorgniserregenden Schritten hin zu einer – offiziellen oder faktischen – Eingliederung von Belarus in die Russische Föderation. Der belarusische Diktator hätte ohne die Rückendeckung und Anleitung Putins dem Volksaufstand im eigenen Land nicht standhalten können. Zwar verfügt er noch über einen offenbar intakten eigenen Repressionsapparat, doch dürfte dieser nur deshalb noch derart stabil sein, weil er die Macht Russlands hinter sich weiß. Lukaschenko, dem bislang zuweilen widerspenstigen Spießgesellen des Kreml, mag es zwar widerstreben, seine absolute Machtstellung Putins Willen unterzuordnen. Doch da er keine andere Option mehr zur Bewahrung seiner Herrschaft hat, dürfte er im Zweifelsfall bereit sein, sein Land scheibchenweise dem Kreml auszuliefern. Dieser wiederum muss an dem von ihm eigentlich ungeliebten Lukaschenko festhalten – doch nur so lange, bis er in Belarus zuverlässigere Statthalter installieren kann. Die äußert brutale Repression des Regimes hat die beeindruckend mutige belarusische Oppositionsbewegung im Inneren des Landes fürs erste erstickt, und auch wenn sie ihren Widerstand von Außen her ungebrochen fortsetzt, wird sie auf sich allein gestellt an dieser sich abzeichnenden fatalen Entwicklung kurz- und mittelfristig nichts ändern können.

Mit der Gleichschaltung und faktischen Angliederung von Belarus aber rückte Putins unmittelbarer Herrschaftsbereich erhebllch näher an das demokratische Europa heran. An der gesamten Ostgrenze der baltischen Staaten und der Hälfte der Ostgrenze Polens entstünde dann ein potenzielles Aufmarschgebiet für die russische Militärmacht. Und die Ukraine wäre dann nicht nur im Osten und Südosten, sondern auch vom Norden her von Putins Russland umringt. Diese Umzingelung aber würde die Gelüste Moskaus, die ganze Ukraine durch eine offene militärische Invasion wieder in seinen Einflussbereich zurückzuzwingen, massiv befeuern. Das ideologische Rechtfertigungsszenario dafür hat Putin bereits öffentlich dargelegt, als er kürzlich in einer geschichtsfälschenden Rede die Russen und Ukrainer – wie übrigens auch die Belarusen – zu „einem Volk“ erklärte.

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Nicht nur die horrenden Menschenrechtsverletzungen in Lukaschenkos Folterstaat müssten den Westen daher zu einem deutlich schärferen Vorgehen gegen das Lukaschenko-Regime, aber eben vorrangig auch gegen den Kreml und seine entscheidende Rolle bei der brutalen Unterdrückung der belarusischen Opposition bewegen. Auch im Interesse der eigenen Sicherheit dürfen die europäischen Demokratien nicht untätig zusehen, wie das Land in Putins neosowjetischem Imperium aufgeht. Putin baut unterdessen seinen autoritären Mafia-Staat zu einer offenen Diktatur aus – die dreiste Manipulation der jüngsten Duma-Wahlen ist ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg.

Das Europäische Parlament fordert in einer jüngst verabschiedeten Entschließung, die EU und ihre Mitgliedstaaten müssten klarstellen, “dass sie unter keinen Umständen Versuche Russlands akzeptieren werden, sich Belarus einzuverleiben, da diese Eingliederung dem Willen des belarussischen Volkes nicht entspräche und von einem dazu nicht legitimierten Machthaber ausgehandelt würde.”.Im Blick auf die anhaltende russische Annexion der Krim und Besetzung des Donbass verlangt das EU-Parlament unter anderem die Verschärfung von Sanktionen, den Stopp von Nord Stream 2 und den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT. Es wird höchste Zeit, dass die europäischen Regierungen endlich diesen klaren Vorgaben der EU-Parlamentarier folgen und die dringend erforderliche schärfere Gangart gegenüber Putins Aggressionspolitik explizit auch im Blick auf das drohende Schicksal von Belarus einschlagen.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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