Die Prigoschin-Farce und Russlands Vernichtungswut

Während westliche Experten eifrig darüber spekulierten, wie lange der Söldnerführer Jewgenij Prigoschin wohl noch zu leben habe, bis ihn Putin aus Rache für seine vermeintliche „Meuterei“ umbringen lässt, oder ob der Prigoschin-„Coup“ umgekehrt Putins Macht irreparabel destabilisiert habe, fand nur fünf Tage nach diesem denkwürdigen Ereignis angeblich eine Besprechung zwischen dem Kreml-Autokraten und den Anführern privater Söldnertruppen statt — Prigoschin eingeschlossen. Diesem soll Putin dabei gesagt haben, er könne seinen Faux Pas ja wieder gut machen, indem er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj „beseitigt“ und dessen Kopf in den Kreml bringt. Ob und wie sehr sich der russische Führer und sein brutalster Scherge gemeinsam über diese Idee amüsiert haben, ist nicht überliefert. Menschenschlächter haben ihren eigenen Humor.

Allerdings ist auch dieser Bericht, den der Kreml offenbar selbst lanciert hat, wiederum nur mit Vorsicht zu genießen. Wenn aus der „Putsch“-Scharade um Progoschin vom Westen überhaupt eine Lehre zu ziehen ist, dann diese: Statt sich in wildwuchernder Kreml-Astrologie zu ergehen, sollte man endlich aufhören, irgendetwas für bare Münze zu nehmen, was die diversen Verbrechergestalten im putinistischen Machapparat intern aufführen oder dazu von sich geben.

Denn zu den bevorzugten psychologischen Kriegsführungstechniken des Kreml gehört es, die westliche Öffentlichkeit zu verblüffen, zu verwirren und auf falsche Fährten zu locken. Was wirklich hinter dem ominösen kurzzeitigen Aufmarsch der „Wagner“-Söldner Richtung Moskau am 24. Juni gesteckt hat, ist bis heute weitestgehend unbekannt. Ganz sicher aber hat es sich nicht um seinen „Putsch“ oder eine „Meuterei“ gegen Putin gehandelt. Wenn es nicht gar eine einzige Inszenierung Putins selbst zwecks Täuschung der westlichen Öffentlichkeit und Disziplinierung der eigenen Reihen war, war, so ging es dabei doch allenfalls um ein Machtgerangel zwischen diversen Cliquen innerhalb des mörderischen putinistischen Herrschaftssystems – um einen Wettstreit darum, wer von ihnen den völkermörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine am effektivsten und grausamsten zu führen vermag.

Doch selbst wenn sich diverse Akteure in diesem Machtapparat gegenseitig an die Gurgel gehen sollten, heißt das noch lange nicht, dass dies die Zerstörungsenergie des russischen Terrorstaats abschwächen würde. Im Gegenteil, diese Konkurrenz stachelt nur noch mehr die Vernichtungswut und den Sadismus seiner Protagonisten an, mit denen sie über ihre Opfer in der Ukraine und anderswo herfallen.

Polen im Visier

Das unmittelbare Resultat der Turbulenzen um Prigoschin jedenfalls ist, anders als von zahllosen westlichen „Experten“ vorschnell herbeigeträumt, keine Erschütterung des Putinschen Machtsystems. Ihre direkte Folge ist vielmehr, dass die „Wagner“-Söldner jetzt in Belarus stehen, wo sie angeblich die dortigen Truppen „zur Verteidigung“ ausbilden sollen – in Wahrheit aber, um eine weitere Front gegen die Ukraine sowie gegen die NATO-Staaten Polen und Litauen aufzubauen. Ins Visier genommen haben sie die sogenannte Suwalki-Lücke, jenen teils in Polen, teils in Litauen gelegenen Landstreifen zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad, die vom westlichen Bündnis nur schwer zu verteidigen ist. Offenbar werden bereits Prigoschin-Kämpfer, als Flüchtlinge getarnt, von Belarus aus über die litauische und polnische Grenze in dieses Gebiet geschleust.

Begleitet wird dies von offenen Drohungen Putins, der Polen kürzlich vorhielt, dessen Westgebiete seien „ein Geschenk Stalins“. Wenn Polen das vergessen habe, müsse man es daran „erinnern“. Diese Ankündigung des Kreml-Despoten muss sehr ernst genommen werden, denn er kleidet die Deklaration seiner Kriegspläne mit Vorliebe in geschichtsfälschende „historische“ Betrachtungen. So ging der vollständigen Invasion der Ukraine im Februar 2022 ein knappes halbes Jahr davor ein „historischer“ Grundsatzartikel Putins voraus, in dem er das ukrainische ebenso wie das belarusische Volk für inexistent erklärte und behauptete, beide seien in Wahrheit Teil der russischen Nation. In derselben Weise könnte Putins jüngste Geschichtsklitterung der Startschuss für den bevorstehenden direkten Angriff auf NATO-Gebiet sein. Wer das für unmöglich hält, hat aus der Erfahrung mit der russischen Aggression nichts gelernt. Putin hat immer genau da zugeschlagen, wo die westliche Öffentlichkeit nicht glauben wollte, dass er diese oder jene Operation wagen würde.

Ob von vorneherein so geplant oder nicht – der Ausgang der Prigoschin-Scharade besteht somit darin, dass der russische Aggressor nun in verschärftem Ausmaß auch NATO-Territorium bedroht. Im Westen aber klammert man sich an die Vorstellung, das Putin-Regime sei tendenziell bereits so weit geschwächt, dass es sich in absehbarer Zeit zu ernsthaften Verhandlungen über einen „gerechten Frieden“ genötigt sehen werde. Dies verkennt vollständig das tatsächliche Wesen des putinistischen Herrschaftssystems, dessen einziger Daseinsgrund der bis zum Äußersten fortgesetzt Krieg und die skrupellose Zerstörung von allem ist, das der Errichtung der Vorherrschaft der „russischen Welt“ des Verbrechens über ganz Europa im Wege steht.

Zynisches Spiel

Die anhaltenden Illusionen in die potenzielle Friedensfähigkeit des russischen Verbrecherstaats und in die Möglichkeit, ihn durch Zurückhaltung zu besänftigen, ist der Hintergrund für die Weigerung der NATO bei ihrem jüngsten Gipfel, der Ukraine endlich eine konkrete Beitrittsperspektive zu gewähren. Diese Konzession aus Furcht, Russland könne dadurch zu noch größeren Untaten „provoziert“ werden, hat ein verheerendes Signal westlicher Schwäche und Verzagtheit an das Putin-Regime gesendet.  

Dieses hat darauf sofort mit einer weiteren Verschärfung seiner Aggression geantwortet. So kündigte es das Getreideabkommen mit der Ukraine auf und droht seitdem, Getreidetransportschiffe anzugreifen. Und Putin lässt nun Ziele unmittelbar an der rumänischen Grenze bombardieren, also in nächster Nähe zumNATO-Territorum. Damit will der Kreml-Herrscher zeigen, „dass es ihm egal ist, wie nah seine Angriffe am NATO-Gebiet sind“, diagnostiziert der rumänische Politologe Armand Gosu treffend: „Putins Ziel ist es, die NATO in ihrer Unentschlossenheit vorzuführen.“ Tatsächlich reagiert das westliche Bündnis darauf wachsweich bis gar nicht und scheut sich weiterhin, dem Kreml klare rote Linien aufzuzeigen. Warum? Gosu spricht wohl die bittere Wahrheit aus, wenn er darauf die Antwort gibt: Weil es „eine Eskalation um jeden Preis vermeiden“ will. „Die Eliten im Westen sind des Krieges inzwischen müde geworden und fürchten eher den Zusammenbruch Russlands als eine Niederlage der Ukraine“ (s. dazu auch hier und hier). Deshalb werde die Ukraine auch nicht so unterstützt, wie es für ihren Sieg notwendig wäre, so Gosu: „Es ist ein zynisches Spiel.“

Diese Zynismus erfährt gegenwärtig einen neuen Höhepunkt in der Weigerung der Bundesregierung, der Ukraine die dringend benötigten Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Neuerdings „prüft“ man in Berlin angeblich zwar, diese Lenkwaffen doch bereitzustellen – aber mit der Einschränkung, sie so zu modifizieren, dass sie kein russisches Gebiet erreichen können. Mittlerweile zielt der Aggressor mit Marschflugkörpern hemmungslos auf die ukrainische Zivilbevölkerung und ermordet zahlreiche ukrainische Bürger. Der Ukraine aber soll verwehrt werden, die russischen Basen auf dem Territorium des Aggressors zu zerstören, von denen aus diese Mordwaffen abgefeuert werden!

Vor dem Hintergrund dieses schändlichen Versagens bei der konsequenten Unterstützung der Ukraine wirkt die westliche Kaffeesatzleserei über mögliche Risse in Putins Machtsystem wie der Versuch, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigennach der Logik: Wenn Russland sich im Grunde selber schwächt, fällt es ja nicht so sehr ins Gewicht, dass wir es nicht entschlossen genug bekämpfen. Dabei ist die heiß diskutierte Frage, ob sich Putins Herrschaft eher stabilisiert oder destabilisiert, im Grunde falsch gestellt. Denn für ein Regime wie dieses kann beides zugleich zutreffen. Herrscht in Russland doch eine „Stabilität“, die von ganz anderer Art ist als das, was im Westen darunter verstanden wird. Bei dem russischen „Staat“ handelt es sich um ein Mafiasystem, das sich aus der schrankenlosen Gewalt heraus, die es hemmungslos nach innen wie nach außen praktiziert, permanent selbst reproduziert.

Ausgeburten wie Prigoschin

Die Geschichte der Mafia kennt etliche Bandenkriege und Fehden zwischen konkurrierenden Gangsterbossen – doch so blutig auch immer diese inneren Machtkämpfe ausgetragen wurden, an der Ausbreitung des Mafiasystems an sich hat das nichts geändert. Für den Bestand einer zivilisierten Gesellschaft spielt es letzten Endes keine Rolle, ob der Mafia-Pate X oder Y die Geschäfte des organisierten Verbrechens kontrolliert. Es kann nur darum gehen, das kriminelle System im Ganzen zu zerschlagen oder zumindest so weit wie möglich einzudämmen.

In derselben Weise sollten wir die Vorgänge im russischen Mafia-Staat verfolgen: Ob nun Putin, Prigoschin oder irgendeine andere Ausgeburt der Unterwelt dort das Kommando führt – das System wird in seiner Aggressivität nicht nachlassen, bis es von der zivilisierten Welt in Gänze unschädlich gemacht worden ist. Darauf müssen sich alle Energien der freien Welt konzentrieren.

Das Bedürfnis, in das Putin-System Zerfallserscheinungen hineinzudeuteln, scheint jedoch unerschöpflich. Weit verbreitet war angesichts der Prigoschin-Scharade unter westlichen „Russlandkennern“ die Ansicht, Putin habe sich in dieser Situation öffentlich überfordert und verunsichert gezeigt. Dadurch sei nun seine Autorität als vermeintlich unfehlbarer Führer nachhaltig angeknackst. Aber das stützt sich auf kaum mehr als eine westliche Wunschprojektion. Die offizielle Propagandaversion jedenfalls lautet: Putin hat den Meuterern mit harter Bestrafung gedroht, und sofort haben sie pariert. Ein weiterer Beweis, dass der Große Führer alles unter Kontrolle und den Schutz von Staat und Bürgern fest im Blick hat. So wird es den Russen von der Propaganda rund um die Uhr eingebläut, und so wird es von einer vermutlich großen Mehrheit dankbar geglaubt. Oder doch zumindest unhinterfragt hingenommen, weil sich in den Hirnen festgesetzt hat, dass es sowieso keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge gebe.

Wahrheit gleich Lüge

Beliebtheit unter Analysten erfreute sich ebenfalls die These, nach der Prigoschin, indem er öffentlich ausplauderte, dass die offizielle Begründung für den Überfall auf die ganze Ukraine auf Lügen basiert die Glaubwürdigkeit des Regimes in den Augen seiner Anhänger nachhaltig untergraben habe. Das ist jedoch stark zu bezweifeln. Putins Gefolgschaft lässt sich nicht davon irritieren, wenn er als Lügner entlarvt wird. Wahrheit kontra Lüge ist für sie überhaupt keine Kategorie, sondern ausschließlich Stärke kontra Schwäche. Die Anhänger des Putinismus unterstützen den Krieg nicht, weil sie irgendeiner Begründung für ihn glauben würden, sondern weil sie sich an der Vorstellung berauschen, dass Putin den „dekadenten“ Schwächlingen da draußen in der Ukraine und im Westen mal so richtig zeigt, dass die Russen die Stärksten und daher die berufenen Herren der Welt sind.

Wir sollten endlich die Hoffnung darauf begraben, dass Aufklärung in welcher Form auch immer und überhaupt irgendeine Konfrontation mit Tatsachen in diesem Russland einen Sinneswandel herbeiführen oder auch nur Zweifel an der Berechtigung russischer Vernichtungskriege wecken könnte. Das setzt die Anerkennung rationaler Kriterien für die Wahrnehmung der Wirklichkeit voraus, die in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft nicht gegeben ist. Solch ein Sinneswandel wird allenfalls eintreten, wenn sich die vermeintlichen Schwächlinge unleugbar als die Stärkeren erwiesen haben und Putin mtsamt seiner gesamten Kamarilla in den rauchenden Trümmern ihrer obskurantistischen Wahnwelt sitzen werden. Das aber kann nur eintreten, wenn der russischen imperialen Vernichtungsmaschinerie in der Ukraine eine vollständige militärische Niederlage zugefügt wird.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Sehr geehrter Herr Herzinger,
    dies ist wieder ein sehr guter Artikel, dem ich nur in allen Punkten zustimmen kann. Mich ärgert die Zögerlichkeit des Kanzlers sehr. Die Ukraine muss alle Mittel schnellstens bekommen, um eine reelle Chance zu haben diesen barbarischen Krieg zu gewinnen. Das Putinsche Mafiasystem muss niedergerungen werden!
    Freundliche Grüße
    Sabine Spicker

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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