Der Westen darf die Ukraine nicht länger hinhalten

Vorbemerkung: Beim EU-Ukraine-Gipfel in Kyjiw am 12. Oktober hat Brüssel seine Unterstützung für die Ukraine bekräftigt und den Ausbau der Beziehungen auf verschiedenen Feldern zugesagt. Auch wurde erstmals in einer gemeinsamen Erklärung von EU und Ukraine Russland als unmittelbar beteiligte Konfliktpartei im Donbass-Krieg bezeichnet. Doch das Drängen der ukrainischen Regierung auf eine konkrete Beitrittsperspektive in die EU blieb erneut ohne Resonanz. Präsident Wolodymyr Selenskyj kommentierte dies so: “Wir gehen einen Weg, aber wo ist die Ziellinie? Gibt es eine? Jeder Ukrainer möchte dieses Signal hören.” Er drückte damit die wachsende Ungeduld und Enttäuschung des Landes angesichts der von westlicher Seite praktizierten Hinhaltetaktik aus. Meine Analyse der schleichenden Entfremdung der Ukraine vom Westen, die kurz vor dem Gipfel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienenen ist, wird dadurch bestätigt. Hier der Text des NZZ-Artikels in leicht ergänzter und überarbeiteter Fassung:

Seit der siegreichen „Revolution der Würde“ von 2013/14 bekennt sich die Ukraine eindeutig zur europäisch-atlantischen Integration und damit zur definitiven Loslösung vom Einflussbereich Moskaus, den Putins Russland im Zuge seiner neoimperialen Ambitionen massiv befestigen will. Die Ukraine hat die Mitgliedschaft in EU und NATO sogar als Staatsziel in ihre Verfassung aufgenommen. Und vonseiten der transatlantischen Demokratien fehlt es nicht an verbalen Bekenntnissen, sie auf ihrem Weg nach Westen mit ganzer Kraft unterstützen zu wollen.

Doch obwohl – oder gerade weil – sich die maßgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der heutigen Ukraine den westlichen demokratischen Werten weiterhin existenziell verbunden fühlen, wachsen bei ihnen die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der vom Westen abgegebenen Versprechungen. Die Ukraine fühlt sich von ihm zunehmend zurückgestoßen und hingehalten, um sich die Tür zu einer möglichst raschen „Normalisierung“ seiner Beziehungen zu Russland offenzuhalten.  

Eine Reihe von aus ukrainischer Sicht enttäuschenden Entwicklungen hat zuletzt zu diesem schleichenden Entfremdungsprozess beigetragen. Der massive russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und auf der Krim brachte im Frühjahr die akute Gefahr einer offenen Invasion des Landes mit sich. Doch die EU konnte sich dennoch nicht zu einer Verschärfung ihrer Haltung gegenüber dem Kreml durchringen. Befürworter einer solchen härteren Linie wurden von Deutschlands Außenminister Maas als „Schlauberger“ abgetan, deren „Konfrontationsgeschrei“ man sich nicht anschließen dürfe. Berlin und Brüssel wünschten vielmehr „Dialog und gute Nachbarschaft mit Russland.“

Generalprobe für den Überfall

Dass Putin seinen Truppen schließlich doch nicht den Marschbefehl gab, beruhigt in der Ukraine indes niemanden. Vielmehr wird das Manöver als eine Art logistische Generalprobe für einen kommenden Überfall betrachtet – und als massiver Einschüchterungsversuch, mit dem sich der Kreml sdas Land gefügig machen will. Auf der Konferenz „Yalta European Strategy“ (YES) Mitte September in Kyjiw bejahte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ausdrücklich die Frage, ob er einen offenen Krieg Russlands gegen die Ukraine in den kommenden Jahren für möglich halte. Den ideologischen Vorwand dafür hat Putin bereits öffentlich dargelegt, als er kürzlich in einer von massiven Geschichtsfälschungen strotzenden Rede die Russen und Ukrainer – wie auch die Belarusen – zu “im Grunde einem Volk” erklärte.

Tatsächlich spitzt sich die Bedrohungslage für die Ukraine immer mehr zu. Weit davon entfernt, in den Verhandlungen über den Donbass auch nur geringste Zugeständnisse zu machen, treibt Moskau die De-facto-Annexion der besetzten ostukrainischen Gebiete voran. So erhielten seit 2019 ungefähr 600 000 Bewohner der illegalen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk die russische Staatsbürgerschaft und wurden dementsprechend zu den jüngsten russischen Duma-Wahl zugelassen. Auf der Krim rüstet der Kreml massiv auf und unterdrückt jedes Bekenntnis zur ukrainischen Identität mit massiver Repression vor allem gegen die Krimtataren. Im Zuge einer systematischen Kolonisierung der ukrainischen Halbinsel wurden seit ihrer Annexion 2014 etwa eine halbe Million Russen auf der ukrainischen Halbinsel angesiedelt.

Hinzu kommt die wachsende Kontrolle, die Putins Russlands über Belarus gewinnt. Der dortige Diktator Alexander Lukaschenko könnte sich ohne die massive Unterstützung Putins bei der brutalen Niederhaltung der demokratischen Protestbewegung nicht mehr an der Macht halten. Er hat sich so in vollständige Abhängigkeit vom Kreml begeben. Das kürzliche gemeinsame Manöver Russlands mit den Truppen Lukaschenkos ist nur eines von vielen Anzeichen für den drohenden – offiziellen oder faktischen – Anschluss von Belarus an die Russische Föderation. Damit aber wäre die Ukraine nicht nur mehr im Osten und Südosten, sondern auch vom Norden her von Putins Russland militärisch umzingelt.

Angst, im Stich gelassen zu werden

Doch der Westen, und namentlich die EU, zieht daraus keine sicherheitsstrategischen Konsequenzen. So gilt in Deutschland die Lieferung von Defensivwaffen an Kyjiw nach wie vor als tabu – woran sich auch unter der sich abzeichnenden neuen Bundesregierung kaum etwas ändern wird. Und weiterhin wird der Ukraine eine konkrete Beitrittsperspektive in die NATO und die EU verweigert. Dabei ist sie längst eng in die Strukturen des westlichen Bündnisses eingebunden. So beteiligten sich an der Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen auch ukrainische Soldaten.

Jüngst stieß die (zu diesem Zeitpunkt noch amtierende) estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid die ukrainische Führung vor den Kopf, als sie bei der YES-Konferenz erklärte, es könne noch 20 Jahre dauern, bis die Ukraine die Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme in die EU erfülle. Das saß besonders tief, gelten die baltischen Staaten doch als die vehementesten Unterstützer der Ukraine innerhalb der Union. Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba reagierte entsprechend gereizt: Er sei es leid, dass Mängel im Reformprozess von der EU vorgeschoben würden, um ihre grundsätzliche Abneigung gegen die Aufnahme der Ukraine zu verschleiern. Selenskyj hatte zuvor betont, sein Land betreibe die Reformpolitik um seiner selbst willen, und nicht, um anderen zu gefallen. Er wolle nicht immer wieder vergeblich an Tore klopfen, die sich längst hatten öffnen müssen. Schließlich brauche nicht nur die Ukraine die EU und die NATO, sondern diese bräuchten nicht weniger die Ukraine.

Die Vereinbarung  zwischen Washington und Berlin zu Nord Stream 2, mit der die neue US-Regierung grünes Licht für die Fertigstellung von Putins Gaspipeline gab, wird in Kyjiw als ein Wortbruch von US-Präsident Joe Biden betrachtet, der Selenskyj zuvor zugesichert habe, alles für deren Verhinderung zu tun. Dass der Nord-Stream-2-Deal ohne ukrainische Beteiligung ausgehandelt wurde, wertet man dort als eklatanten Bruch das vom Westen verkündeten Prinzips, keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine zu führen.

Dabei ist Selenskyj erst kürzlich mit großzügigen US-Hilfs- und Kooperationszusagen von seinem Besuch in Washington zurückgekehrt – auf militärischem und wirtschaftlichem ebenso wie auf dem Gebiet der Cybersicherheit und bei der COVID-Pandemiebekämpfung. Doch zu einem konkreten Zeitplan für die NATO-Mitgliedschaft will sich auch Biden nicht äußern. Der überstürzte und chaotische Abzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan sowie die von Biden veränderte strategische Priorität in Richtung Asien nähren zudem unterschwellige Ängste, im Ernstfall von den USA doch im Stich gelassen zu werden.

Flirt mit China?

Überdies verbindet Biden die US Unterstützung mit der deutlichen Forderung an die Kyjiwer Regierung, den inneren Reformprozess entschiedener voranzubringen. Das steigert auf ukrainischer Seite das Gefühl, nach doppelten Standards beurteilt zu werden. Verbitterung schwang mit, als Außenminister Kuleba jüngst einem Interview mit den britischen „Independent“ erklärte, die Ukraine könne sich am Ende nur auf die eigenen Kräfte verlassen und müsse sich zu einem „agilen Militärstaat“ wie Israel entwickeln. Im Umkreis der Selenskyj-Administration wurden jüngst gar Stimmen laut, die eine stärkere Anlehnung an China als Alternative zur ausschließlichen Westorientierung ins Spiel bringen.

Solche Erwägungen sind einstweilen freilich eher rhetorische Druckmittel in Richtung Washington und Brüssel als reale Option. Doch Anzeichen dafür, dass die intensiven Wirtschaftsbeziehungen der Ukraine zu China in politisches Wohlverhalten münden könnten, sind nicht zu übersehen. So hat Kyjiw im Juni eine von Kanada initiierte Eingabe an den UN-Menschenrechtsrat zugunsten der in China verfolgten Uiguren zuerst unterstützt, seine Unterschrift dann aber wieder zurückgezogen. Peking soll Kyjiw gedroht haben, die von ihm zugesagte Lieferung von COVID- Impfdosen an die Ukraine zu blockieren, sollte die ukrainische Regierung zu dem Antrag stehen.

Die ausufernde Korruption bleibt allerdings in der Tat die Achillesferse der jungen ukrainischen Demokratie. Und Skepsis darüber, wie ernst es die Selenskyj-Regierung ebenso wie die gesamte politische Elite des Landes mit ihrem behaupteten Willen zur institutionellen Reform tatsächlich meinen, ist durchaus angebracht. Ungebrochen ist unterdessen aber die Energie der aktiven Zivilgesellschaft. Sie wirkt als Turbo der Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und Antreiberin von Regierung und staatlichen Behörden zu höheren Reformtempo. Hier wächst eine junge Generation von genuinen Demokratinnen und Demokraten heran, die mittelfristig an die politischen Schalthebel der Macht gelangen kann.

Der Westen ist gefordert

Der Westen sollte sich gleichwohl nicht in der Sicherheit wiegen, die Orientierung der Ukraine am Vorbild der westlichen Demokratien sei unumkehrbar. Es wäre daher fahrlässig, sie mit Herablassung zu behandeln. So unzulänglich die ukrainische Demokratie noch sein mag, sie gegen Putins imperialen Autoritarismus zu verteidigen, ist für die Zukunft des gesamten demokratischen Europa von entscheidender Bedeutung.

Was die Ukraine jetzt dringend braucht, sind überzeugende Signale, dass es der Westen mit seinem Beistand tatsächlich ernst meint. Weil die Ukraine an vorderster Front der Verteidigung der ganzen freien Welt steht, wäre der nächstliegende Schritt, sie zügig in die westliche Vereidigungsallianz aufzunehmen. Damit würden sich für den Kreml der Preis und das Risiko für die Fortsetzung seiner Aggressionspolitik drastisch erhöhen. Wobei einer Vollmitgliedschaft in der NATO das Durchlaufen ihres Mitgliedschafts-Aktionsplans (MAP) vorgeschaltet ist.

Dessen Zweck ist es nicht nur, die militärische Standards eines Anwärterstaats an die des Bündnisses anzugleichen, sondern auch, seine rechtsstaatlichen Strukturen zu festigen und zu entwickeln. Für die Ukraine brächte die Aufnahme in MAP somit einen enormen Zugewinn an Sicherheit, wäre aber auch ein starker zusätzlicher Motor für innenpolitische Reformen – und damit für die weitere euroatlantische Integration des Landes.

Anmerkung: Die Schreibweise weicht im Text in einigen Punkten von der im NZZ-Artikel ab. So schreibt die NZZ noch immer „Weißrussland“ statt Belarus und „Kiew“ statt Kyjiw. Dies wurde von mir hier geändert.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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