Nehmt die Ukraine jetzt endlich in die Nato auf!

Dass der Ukraine weiterhin die Nato-Mitgliedschaft verwehrt wird, ist ein verhängnisvoller Anachronismus – und ein schwerer strategischer Fehler des Westens.. Im eigenen Interesse muss namentlich Europa seine Haltung in dieser Frage grundlegend ändern

Die Verhandlungen über die Beendigung des Kriegs in der Ost-Ukraine kommen keinen Schritt voran. Russland macht keinerlei Anstalten, die Besetzung des östlichen ukrainischen Territoriums zu beenden, von der Krim gar nicht zu reden. Im Gegenteil, Wladimir Putin hat erst kürzlich erneut bekräftigt, dass er die illegalen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, – die in Wahrheit vom Kreml gesteuerte Verbrecherregime sind und unter anderem mitten in Europa Folterlager unterhalten – noch massiver unterstützen will. Und ungeachtet des offiziell in Kraft befindlichen Waffenstillstands nehmen die Aggressionshandlungen der russischen Besatzungstruppen und ihrer lokalen Hilfstruppen wieder zu: Waren an der Frontlinie im zweiten Halbjahr 2020 fünf ukrainische Soldaten gefallen, sind es seit Anfang dieses Jahres bereits zehn.

Es ist offensichtlich, dass man Putin nicht von der Gewährung von Zugeständnissen wird überzeugen können, ohne starke neue Druckmittel gegen ihn einzusetzen. Dazu gehört auch, ein sicherheitspolitisches Signal zu setzen, das dem Kreml deutlich macht, dass ihm die Fortsetzung der Okkupation einen deutlich höheren Preis abfordern wird als bisher – und dass er damit ein erheblich erhöhtes Risiko eingeht.

Die Nato ist ein Instrument friedlicher Integration

In diesem Zusammenhang hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jetzt mit Nachdruck die Aufnahme des Landes in den Mitgliedschafts-Aktionsplan (MAP) der Nato angemahnt. Dieses Programm dient dazu, ein Land schrittweise in die Vollmitgliedschaft des Atlantischen Bündnisses zu führen. Zur Erfüllung der Kriterien dafür gehört nicht nur die Anpassung der militärischen Strukturen an den Nato-Standard, sondern auch die Entwicklung und Festigung der rechtsstaatlichen Grundlagen, auf denen die Armee eines demokratischen Staats beruhen muss.

Der MAP hat sich in früheren Jahren als höchst effektives Instrument zur Heranführung der osteuropäischen Staaten an die westlichen Demokratien erwiesen. Für die Ukraine würde die Aufnahme in das Programm daher nicht nur einen enormen Zugewinn an Sicherheit bedeuten. Sie wäre auch ein zusätzlicher starker Motor für das Vorantreiben der innenpolitischen Reformen, insbesondere der Korruptionsbekämpfung, mit der sich das Land noch immer schwer tut.

Bereits 2008 wollten die USA unter Präsident George W. Bush die Ukraine und Georgien in den MAP aufnehmen. Damals verhinderten dies die Europäer, allen voran Deutschland, mit der Begründung, man wolle Russland nicht zu verstärkter Feindseligkeit gegenüber dem Westen provozieren. Seitdem sind zuerst Georgien und dann die Ukraine Opfer der militärischen Aggression Moskaus geworden. Wären die beiden Länder Teil der Nato gewesen, hätte der Kreml dies wohl kaum gewagt. Umgekehrt wird also ein Schuh daraus: Wo der Schutzschirm der Nato gespannt ist, vermindert sich die Aggressionslust Moskaus und damit die Kriegsgefahr.

Die bestehende Logik der Nato, nach der die Aufnahme eines neuen Mitglieds nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass dieses nicht in einen militärischen Konflikt verwickelt ist, erweist sich im Blick auf die Ukraine als absurd. Denn dass der Krieg in der Ukraine nicht beendet werden kann, liegt ja keineswegs an der Ukraine, sondern an der Unnachgiebigkeit des Aggressors. Behält also die Nato ihre Logik bei, kann der Kreml die Aufnahme der Ukraine ins westliche Bündnis auf Dauer verhindern – ganz einfach, indem er seine kriegerische Aggression fortsetzt.

Joe Biden – Kenner und Unterstützer der Ukraine

Selenskyjs Vorstoß in Richtung Nato-Mitgliedschaft kommt zum richtigen Zeitpunkt. Denn mit Joe Biden amtiert nun ein US-Präsident, der ein ausgewiesener Unterstützer des Strebens der Ukraine nach Demokratie und Selbstbestimmung sowie ein exzellenter Kenner der Landes ist. Zur Neuaufstellung der transatlantischen Beziehungen sollte dringend auch die Neu-Justierung des gemeinsamen westlichen Umgangs mit Russland und der Beziehungen zu den Nationen gehören, die der Aggression des russischen Neo-Imperialismus unmittelbar ausgesetzt sind. Diesen gilt es mit deutlich verstärkter Kraft den Rücken zu stärken.

In einem Artikel auf der Website des Atlantic Council begründet nun der Außenminister der Ukraine nachdrücklich, warum die Aufnahme des Landes in die Nato überfällig ist. Dmytro Kuleba macht darin deutlich, was der tiefere Hintergrund für die fortgesetzte Weigerung namentlich der Europäer ist, diesen notwendigen Schritt zu vollziehen. Es ist der Mythos von der Umzingelung Russlands durch den Westen, den die russische Propaganda erfolgreich in das westeuropäische Bewusstsein eingebrannt hat. In Wahrheit war die Erweiterung der Nato niemals ein aggressiver Akt gegen Russland – im Gegenteil, sie hat entscheidend zur Sicherung des friedlichen Miteinanders und der Stabilität in Europa beigetragen und damit auch die Voraussetzungen für ein stabiles und kooperatives Verhältnis zur Russischen Föderation geschaffen. Nicht die Nato, sondern die Haltung Putins hat verhindert, dass es zu Letzterem bisher nicht gekommen ist.

Was die Ukraine bereits für die Nato tut

Kuleba verlangt zur Recht, dass sich die Europäer endlich von dem Einfluss der Kreml-Propaganda frei machen und selbstbewusst zu ihren eigenen Werten als Grundlage einer möglichen zukünftigen Entspannung des Verhältnisses zu Russland steht – was auch bedeutet, denjenigen mit offenen Armen zu begegnen, die diese Werte teilen. Und der Außenminister macht zudem darauf aufmerksam, in welchem Ausmaß die Ukraine, wie auch Georgien, bereits heute als Bestandteile der Nato agiert:

Die Ukraine und Georgien sind für die Nato von Bedeutung. Selbst in ihrem derzeitigen Status als Partner und Nicht-Mitglieder verteidigen sie de facto die Ostflanke des Bündnisses und spielen eine entscheidende Rolle für die Sicherheit der Schwarzmeerregion.

Die Ukraine hat jahrzehntelang an Nato-geführten Missionen teilgenommen. In jüngerer Zeit hat die COVID-19-Krise die Vorteile der Synergien zwischen der Ukraine und der Nato deutlich gemacht. Die Nato hat der Ukraine einige dringend benötigte medizinische Ausrüstung zur Verfügung stellt, um der Pandemie entgegenzuwirken, während die einzigartige Ukrainische Flotte von Antonow-Frachtflugzeugen es den Mitgliedern der Allianz ermöglichte, dringend medizinische Versorgung zu erhalten. (Meine Übersetzung, R.H.)

Auch ohne MAP hat die Ukraine übrigens in den vergangenen Jahren bereits viel für die Angleichung ihrer militärischen Strukturen an die Nato-Standards getan. Es wird höchste Zeit, dieser Realität Rechnung zu tragen und die Anstrengungen der Ukraine an der Seite des westlichen Bündnisses zu honorieren , indem dieses ihr endlich das eigentlich Selbstverständliche gewährt: die offizielle Aufnahme in seine Mitte.

Lesen Sie auch mein Interview mit dem ukrainischen Außenminister in der Januar/Februar-Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik: Wir werden Krim und Donbass niemals aufgeben.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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