Habermas: Ein intellektuell-moralischer Bankrott

In dem Plädoyer von Jürgen Habermas für Verhandlungen mit dem Aggressor Russland manifestiert sich das historische Versagen großer Teile der Nachkriegsgeneration „kritischer“ deutscher Intellektueller. Nach jahrzehntelangem Aufsagen der Beschwörungsformel „Nie wieder“ zeigen sie sich unfähig oder unwillens, einen Genozid mitten in Europa zu erkennen und ihm konsequent entgegenzutreten. Der intellektuelle und moralische Defekt, der dem zugrunde liegt, wurde indes bereits vor dreißig Jahren sichtbarim Angesicht des Bosnienkriegs.

Die meisten selbst der schärfsten Kritiker der jüngsten Einlassung von Jürgen Habermas zum russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hielten es in ihren Repliken auf seinen Text in der Süddeutschen Zeitung für angebracht, sich vor seiner Autorität als bedeutender Denker zu verbeugen. Im Gegensatz zu dem unsäglichen „Manifest für Frieden“ der Putin-Lautsprecherinnen Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht sei seine Stellungnahme ein argumentaiv ernst zu nehmender Beitrag zur Debatte um ein mögliches Ende des Kriegs.

Dem kann ich in keiner Weise folgen. Gerade weil Habermas eine intellektuelle Kapazitätät von ganz anderem Kaliber darstellt als die genannten Papageien der Kreml-Propaganda, wiegt das ideelle wie moralische Versagen, das in seinem Traktat zum Ausdruck kommt, besonders schwer – und ist in diesem Sinne besonders schändlich. Es ist nichts anderes als eine Bankrotterklärung des deutschen „kritischen“ Geists.

Infame Aussagen

Dabei sind Habermas in der Tat immerhin zwei Punkte zugute zu halten: Anders als bei den „Manifest“-Schreiberinnen werden ihm seine Gedanken nicht direkt von der Kreml-Propagandazentrale vorgegeben, sondern sind Resultat seiner eigenen Gedankengänge. Und er spricht sich nicht explizit gegen Waffenlieferungen aus und verlangt somit zumindest nicht, die Ukraine wehrlos ihren Schlächtern auszuliefern.

Doch erweist sich die Begründung für seine Forderung nach möglichst raschen Verhandlungen mit Russland als nicht weniger armselig und ignorant als die der Verfasserinnen des „Manifest“ und ihrer Gefolgschaft. Habermas´ wortreiches Raisonnement läuft auf die Behauptung hinaus, zwischen dem Aggressor Russland und seinem Opfer, der Ukraine, könne „ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden.“ Auf eine derartig infame Aussage kann man nur entweder aus grenzenloser Dummheit oder aus Zynismus kommen. Als könnte die Ukraine darauf aus sein, „ihr Gesicht zu wahren“, und als ginge es bei ihrem Verteidigungskrieg nicht vielmehr darum, ihre pure Existenz als Nation sowie das Leben und die Menschenwürde seiner Bürger vor der Vernichtung zu bewahren!

In dieser Formulieruneg von Habemas enthüllt sich, was seiner vermeintlich differenzierten Argumentation tatsächlich zugrundeliegt: die Gleichsetzung von Aggressor und überfallenem Opfer als zwei Kriegsparteien, die jeweils „Forderungen“ aneinander hätten – obwohl die Ukraine doch in Wirklichkeit keine andere Forderung an Russland stellt als die, in Frieden und in Sicherheit vor dessen Aggression innerhalb ihres eigenen Territoriums existieren zu können. Die vermeintlichen gegenseitigen Forderungen aber, von denen Habermas fantasiert, seien laut ihm zwar „einstweilen“ noch „einander diametral entgegengesetztkönnten aber am Ende doch in einen „Kompromiss“ überführt werden. Der als größter deutsche Sozialphilosoph der Gegenwart gefeierte Denker ist in anderen Worten also der Meinung, zwischen der Forderung eines Serienmörders, sein Opfer solle gefälligst stillhalten, wenn er ihm das Messer in die Kehle rammt, und der „Forderung“ des Opfers, am Leben bleiben zu dürfen, sei ein „für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss“ möglich!

Habermas wagt es indes nicht auszusprechen oder weigert sich zu erkennen, was der von ihm eingefordete „Kompromiss“ im Klartext bedeuten würde: dass die Ukraine Teile ihres Territorium an den Aggressor abgeben müsste. Und ihm ist offensichtlich nicht klar oder er nimmt es billigend in Kauf, dass das russische Regime din diesem Fall auf den ihm zugeschlagenen okkupiertem Gebieten seinen völkermörderischen Plan zur Auslöschung der ukrainischen Identität ungestört weiter in die Tat umsetzen könnte.

Habermas und der Atomkrieg

Zwar nennt Habermas den russischen Überfall einen „völkerrechtswidrigen, ja kriminell geführten Angriff auf Existenz und Unabhängigkeit eines souveränen Staates„. Doch dass es sich dabei um einen systematischen Vernichtungskrieg in genozidaler Absicht handelt, die von den Kreml-Herrschern im Vorhinein offen proklamiert wurde und von ihnen täglich bekräftigt wird, kommt ihm nicht über die Lippen. Er hat das entweder nicht mitbekommen oder ignoriert es wissentlich, um seiner These, aufgrund der Gefahr, dass er sich zu einem atomaren Weltkriegs ausweiten könnte, gehe es bei diesem Krieg um Höheres als das Schicksal der Ukraine, scheinbares Gewicht zu verleihen.

Dabei fällt der Meisterdenker ganz einfach nur auf Putins plumpen Propagandatrick herein, der westlichen Öffentlichkeit durch wüste Drohungen mit Atomschlägen Angst einzujagen. Bei näherer Betrachtung spricht jedoch sehr wenig dafür, dass der Kreml-Herrscher diese Drohungen tatsächlich wahr machen wird. Auf die Befürchtungen im Westen, zusätzliche Militärhilfe für die Ukraine könne zu einer „Eskalation“ des Konflikts und sogar zum Einsatz von Atomwaffen führen, entgegneten jüngst die Sicherheitsexperten John Herbst, David J. Kramer, and William Taylor: „Trotz all seiner starken Worte hat Putin kein aussagekräftiges Indiz dafür geliefert, dass Russland nuklear agieren wird. Ganz im Gegenteil: Kyjiw und westliche Regierungen haben wiederholt Putins rote Linien überschritten, doch der Kreml hat Russlands Atomarsenal nie tatsächlich in Alarmbereitschaft versetzt.“

In Wahrheit verhält es sich genau anders herum als Habermas suggeriert: Nur ein Sieg der Ukraine kann den Dritten Weltkrieg verhindern. Wenn er dabei schon kompetenten westlichen Militär- und Sicherheitsexperten nicht zuhören will, sollte er vielleicht zumindest russischen Exilanten wie Michail Chodorkowski Gehör schenken, denen die Motive Putins und des Putinismus aus erster Hand bekannt sind. Nur der militärische Sieg der Ukraine, betont Chodorkowsi, könne den Kreml von der Ausweitung seiner Angriffspläne auf ganz Europa, wenn nicht auf die ganze Welt abhalten: „Wenn das nicht passiert, werden wir uns als Nächstes über einen Krieg Russlands gegen die Nato unterhalten müssen. Denn Putin kann nicht mehr aufhören – selbst, wenn er wollte. Das hat er übrigens auch öffentlich gesagt.“ Bereits vor dem 24.2. 22 hat Putin zu seinem Ziel erklärt, die Nato auf den Status von 1997 zurückzudrängen. Und mittlerweile machen er und seine Propagandisten längst keinen Hehl mehr daraus, dass sie ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine nur als die erste Schlacht in ihrem großen Krieg gegen den „kollektiven Westen“ betrachten, den sie zerschlagen wollen – und mit ihm die gesamte auf dessen Werten basierende internationale Ordnung.

Verharmlosung

Doch Habermas hat von all dem offenbar nichts begriffen hat oder will nichts davon begreifen – nicht, worum es bei dem Krieg gegen die Ukraine tatsächlich geht, noch um was es sich bei dem russischen Regime in seinem Wesen handelt. Er hält Putins Russland offenbar immer noch für eine zwar imperial-aggressive, aber doch irgendwie „rational“ kalkulierende Macht, die lediglich darauf aus sei, Territorien zu erobern, um sich dann unter bestimmten Voraussetzungen mit etwas weniger davon zufrieden zu geben.

Habermas durchschaut nicht, was für alle, die es wissen wollen, längst offensichtlich ist: Die Auslöschung der Ukraine stellt nicht nur irgendein beliebiges Ziel des Kreml dar – die putinistische Wahnideologie hat sie vielmehr zu einer Frage von Sein oder Nichtsein Russlands erklärt. Dass die Ukraine als selbstständige Nation vernichtet und in einen russischen Vasallenstaat verwandelt werden müsse, stellt ein zentrales, seine Identität konstituierendes Glaubensbekenntnis dieses von apokalyptischem Irrationalismus getriebenen Regimes dar, auf das es so wenig verzichten kann wie etwa das iranische islamistische Regime auf sein Credo, Israel müsse von der Landkarte getilgt werden. Nicht umsonst delirieren propagandistische Einpeitscher des Kreml bereits von einem „heiligen Krieg“.

Bei seiner Verharmlosung des russischen Terrorstaats schreckt Habermas nicht einmal davor zurück, dem Westen eine Mitschuld an der brutalen Kriegsführung Putins in die Schuhe zu schieben. Stellt er doch in den Raum, die Annexion der von Russland eroberten (und zum Teil schon wieder verlorenen) Gebiete in der Ostukraine sei „vielleicht eine, wie auch immer unkluge, Antwort“ Putins „auf den Fehler der westlichen Allianz“ gewesen, Russland von Anbeginn über das Ziel ihrer militärischen Unterstützung für die Ukraine vorsätzlich im Unklaren zu lassen. Denn das ließ die für Putin unannehmbare Aussicht auf einen regime change offen. Demgegenüber hätte das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert.“

Das Muster des Appeasement

Was sich hinter diesem verqueren Gedankengang verbirgt ist nichts anderes als die Suggestion, Putin gebärde sich in der Ukraine so aggressiv, weil er sich tatsächlich vom einem regime change durch den Westen bedroht fühle – und nicht etwa, weil er den Westen zerstören will. Demnach würde sich Putin weniger „unklug“ (!) verhalten, wenn der Westen ihn nicht durch allzu weitgehende Antworten auf seine Aggression verschrecken und ihm implizit zusichern würde, er könne das seit 2014 geraubte ukrainische Territorium behalten, würde er nur von den am 24.2. überfallenen Teile der Ukraine ablassen. Diese Habermassche Logik entspricht nichts anderem als dem klassischen Muster des Appeasements, wie er dem Münchner Abkommen von 1938 zugrundelag.

Einen wunden Punkt berührt Habermas in seinen Text jedoch tatsächlich, wenn er die Frage stellt, was denn geschehen werde, sollte die Ukraine trotz aller westlicher Waffenlieferungen dem Ansturm der russischen Invasoren nicht mehr standhalten können. Der Westen, so Habermas, hätte dann nur noch die Wahl, selbst direkt in den Krieg einzugreifen oder die Ukraine im Stich zu lassen. Da die NATO-Staaten aber – aus Habermas´ Sicht zu Recht – ersteres um jeden Preis vermeiden wolle, werde es wohl auf letzteres hinauslaufen. Doch neuralgisch ist dieser Punkt in einem ganz anderen Sinne als Habermas es meint. Der tatsächliche Fehler der NATO bestand nämlich eben genau darin, ihr aktives Eingreifen in den Krieg von Anfang an kategorisch auszuschließen. Indem sie diese Frage nicht zumindest offen ließ, ermutigte sie Putin darin, sich bei seiner bestialischen Kriegsführung keinerlei Grenzen aufzuerlegen. Um Druck auf ihn auszuüben, müsste das westliche Bündnis wenigstens jetzt diese kategorische Aussage zurücknehmen.

Habermas´komplette Fehleinschätzung der Lage kommt freilich weder überraschend noch ist sie präzedenzlos. Es handelt sich um ein strukturelles Versagen seines intellektuellen und moralischen Kategoriensystems angesichts einer Realität, die nicht mehr in sein akademisches Schema passen will. Seine Unfähigkeit oder sein Unwille, einen Genozid zu erkennen und sich unzweideutig auf die Seite der Opfer zu stellen, ist indes bereits vor dreißig Jahren, angesichts des Bosnienkriegs, offenbar geworden.

„So etwas wie Shoa“

1996 hatte ich die Hintergründe dieses Bankrotts des deutschen „kritischen Denkens“ in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Merkur“ analysiert. Aus aktuellem Anlass hier noch einmal die Habermas betreffenden Passagen. Die darin getroffenen Schlussfolgerungen haben ihre Gültigkeit leider bis heute behalten:

Deutsche Linksintellektuelle wie Habermas hatten (…) ihr ethisches Selbstverständnis vor allem aus der moralischen Verpflichtung abgeleitet, ein neues Auschwitz müsse für alle Zukunft unmöglich gemacht werden. Wie hoch der Anspruch gesteckt war, zeigt eine Äußerung von Jürgen Habermas aus dem Jahre 1986. In einem Gespräch erklärte er damals, „die konkreten, partikularen, in ganz bestimmten Lebensformen verwurzelten Moralen“ seien »heute nur noch akzeptabel, wenn sie einen universalistischen Kern haben. Denn sie müssen im Ernstfall verhindern können, dass so etwas wie ´Shoa´ wieder passiert. Sonst sind sie nichts wert und lassen sich nicht rechtfertigen.“ Im nächsten Atemzug empörte sich Habermas über die amerikanische Militäraktion gegen Libyen, mit der die Reagan-Administration 1986 Vergeltung für die terroristischen Aktivitäten Gaddafis üben wollte: „Die Aktion gegen Libyen − die ich im übrigen für so katastrophal halte, dass ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder einer Demonstration angeschlossen habe −, diese Aktion verstößt gegen das Völkerrecht und gegen eine ganze Reihe leicht einsehbarer Normen. Sie setzte zum Beispiel mutwillig das Leben Unschuldiger aufs Spiel; das ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen.“ (Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Frankfurt: Suhrkamp 1987.)

Habermas’ Gedankensprung von der Shoa zum amerikanischen Bombenangriff auf Libyen ist symptomatisch für den Kurzschluss im Denken einer ganzen Generation deutscher „engagierter Intellektueller“: Sie vermischten die Maxime „Nie wieder Auschwitz“ mit der Maxime „Nie wieder Krieg«. Als in Bosnien im Sommer 1995, nach dem schmählichen Scheitern aller Versuche, den Metzeleien durch Beschwichtigung Einhalt zu gebieten, nur noch die Alternative zwischen der Duldung des Völkermords und dem Einsatz kriegerischer Mittel blieb, entschied sich die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen standhaft gegen den Krieg. Folgerichtig ignoriertensie, so gut es ging, die Barbarei in Bosnien und engagierten sich mit um so größerem Eifer in einer Boykottkampagne gegen die französischen Atomtests im Pazifik. Allen voran Günter Grass: Mit den Atomversuchen, so zürnte er in einem Brief an Kenzaburo Oe, »erniedrigt sich ein hochzivilisiertes Land zur barbarischen Tiefstform« (FR, 8.August 1995). Den Krieg in Bosnien erwähnt er dagegen nur in einem Nebensatz − als er moniert, dieser verdränge im Bewußtsein der Öffentlichkeit unzulässigerweise andere Kriegewie den „der türkischen Armee gegen die Kurden“.

Die Konzentration auf die Beendigung eines konkreten Krieges mußte Grass ein Ärgernis sein, weil damit in seiner Sicht der Kampf gegen „den Krieg“ als solchen verwässert wurde. Es bedurfte wohl erst einer Extremsituation wie der in Bosnien, um endgültig sichtbar zu machen, daß diese Art von Moralismus zu nichts anderem als Zynismus führt.

Es zerrt an den Nerven

Die Bereitschaft, das Leben Unschuldiger aufs Spiel zu setzen, ist die Voraussetzung für jede kriegerische Handlung. Es ist richtig, darauf immer wieder hinzuweisen, um das Bewusstsein wachzuhalten, dass alle Kriege, auch wenn sie für noch so »gerechte« Ziele geführt werden, schreckliche Konsequenzen haben. Wer aber, wie Jürgen Habermas, daraus folgerte, Kriegshandlungen seien, da sie Unschuldigen das Leben kosten können, unter keinen Umständen zu rechtfertigen“, musste in letzter Konsequenz vor den Betreibern von „so etwas wie ´Shoa´“ kapitulieren. Dies zeigte sich, als der von Habermas beschworene „Ernstfall“ nur wenige hundert Kilometer vor unserer Haustür eintrat.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Srebrenica kann nicht mit Auschwitz gleichgesetzt werden. Aber wer möchte ernsthaft daran glauben, dass eine universalistische Moral, die Srebrenica zulässt, an irgendeinem fernen Tage ein neues Auschwitz verhindern könnte? Als in Europa − und nicht in einem fernen Erdteil − drei Jahre lang ein ethnischer Vernichtungskrieg wütete, konnte oder wollte die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen darin den seit fünfzig Jahren als Menetekel an die Wand gemalten Ernstfall“ nicht erkennen. Wieder galt ihre bohrende Sorge vor allem denjenigen, die Opfer einer wie auch immer begrenzten westlichen Militärintervention werden könnten, und sie wurden nicht müde davor zu warnen, eine solche Aktion müsse den Krieg auf dem Balkan zwangsläufig ausweiten und verlängern. Währenddessen weiteten die Soldatesken der Warlords Milosevic, Karadzic und Tudjman den Krieg gegen die unschuldige Zivilbevölkerung in Bosnien nach Belieben aus, und die im Auftrag von UN und NATO in Srebrenica stationierten niederländischen Truppen gaben, befehlsgemäß kampflos, ihre Schutzbefohlenen zum Abschlachten frei.

Erst nachdem die politische und moralische Katastrophe des demokratischen Europa mit dem Fall von Srebrenica vollendet war, sprach sich Jürgen Habermas doch noch für eine begrenzte militärische Aktion in Bosnien aus − wenn auch nur „schweren Herzens« und »mit Bauchschmerzen“, wie er in einem Interview (Spiegel vom 7.August 1995) gestand: „Moralisch gesehen“, rechtfertigte Habermas seine jahrelange Option gegen eine Intervention, „lädt der, der aktiv eingreift, die größere Verantwortung auf sich. Krieg heißt: töten, töten lassen, vorsätzlich das Risiko des Todes eingehen und unschuldige Opfer in Kauf nehmen.“ Er habe in bezug auf den Balkankrieg „immer Verständnis für einen hinhaltenden Kurs der − sagen wir − geringeren Verantwortung“ gehabt. „Wer Krieg führt, ist bereit zu töten. Wer möchte denn diese Verantwortung übernehmen? Ich sah keinen Grund, irgendwen mit meiner Stimme, die ja sowieso nicht zählt, in einen Krieg zu treiben.“ Auf den Einwand, der Preis für den »hinhaltenden Kurs« sei es immerhin gewesen, ethnische Vertreibung und Ausrottung hinzunehmen, konzedierte Habermas etwas kleinlaut: „Ja, das zerrt an den Nerven“.

Puristische Ignoranz

Wenn auch sehr spät und zögernd, so löste sich Habermas am Ende doch noch von der Position eines erbarmungslosen Pazifismus, der sich auch durch das jahrelange Flehen der unschuldigen Bevölkerung von Sarajevo, Zepa und ˇSrebrenica, UN und NATO sollten endlich mit ihren Bombardements beginnen, in seiner puristischen Ignoranz nicht erweichen ließ. Aber es ist fraglich, ob Habermas verstanden hat, dass er mit der gequälten Revision seiner bisherigen Haltung die praktische Untauglichkeit seiner einst so offensiv verkündeten politischen Ethik eingestanden hat. An Bosnien hat sich erwiesen, dass die von Habermas 1986 aufgestellte Formel genau umgekehrt hättelauten müssen: Keine Ethik mit universalistischem Kern“ ist etwas wert, wenn sie nicht auf konkrete, partikulare „Lebensformen“ (auch jenseits der westeuropäischen Wohlstandsgrenze) praktische Anwendung finden kann; wenn sie keine Antwort darauf gibt, wer die zivilisatorischen Normen, die aus ihr folgen, gegen ihnen zuwiderlaufende „partikulare Moralen“ durchsetzen soll; wenn sie keine Auskunft darüber erteilen will, mit welchen konkreten Mitteln dies nötigenfalls zu geschehen habe.

Jürgen Habermas ist ein entschiedener Verfechter der deutschen Westbindung. Seine berechtigte Wertschätzung für die kulturellen und politischen Errungenschaften der demokratischen Zivilisation basiert aber auf einer weitgehenden Ausblendung der Tatsache, dass diese Errungenschaften nicht ohne eine unablässige, entschiedene Bereitschaft zur Abwehr ihrer inneren und äußeren Feinde denkbar sind. Habermas möchte vom Westen die Bürgerfreiheiten und zivilen Tugenden übernehmen, nicht aber dessen institutionalisierten Willen zur politischen und militärischen Selbstbehauptung.

Er sieht nicht, dass beides auf derselben moralischen Basis gründet und daß das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Abstrakte Appelle für eine Stärkung der UNO als supranationaler Rechtsinstanz können keine Antwort auf die Frage ersetzen, was der Westen tun soll, solange die schöne Vision nicht Wirklichkeit geworden ist. Die moralisch einwandfreie Forderung nach einer universalistischen Weltverfassung wird, wenn sie sich dem Problem der Durchsetzbarkeit zivilisatorischer Minimalstandards entzieht, zur Camouflage für politisch-ethische Verantwortungslosigkeit.

Viele Jahre lang hatte Habermas seine Aufgabe darin gesehen, den Prozess der Zivilisierung der deutschen politischen Kultur im Sinne westlicher demokratischer Werte zu befördern. Ende der achtziger Jahre glaubte er feststellen zu können, dass − in der Bundesrepublik − die Zivilisierung weitgehend gelungen sei. Als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, hatte Habermas Angst, diese schöne, so mühsam aufgebaute Zivilgesellschaft könne durch eine zu starke Erschütterung von außen in die Brüche gehen. Deshalb plädierte er dafür, sich aus allem so weit wie möglich herauszuhalten: Das zarte Pflänzchen deutscher Zivilkultur, deren Lebensfähigkeit er im Grunde zutiefst misstraut, hielt er noch nicht für reif, um aus dem Glashaus einer scheinbar befriedeten Nachkriegswelt entlassen und den Stürmen der Gegenwart ausgesetzt zu werden. Auch das: Eine Art von Besitzstandswahrung.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Vielen Dank für diese genaue Lektüre und Kritik des Plädoyers für Verhandlungen, ich bin froh, dass dieser Text so gründlich und genau liest. Mir ging es beim Lesen ähnlich, ich fragte mich, warum spekuliert dieser Text so viel über mögliche gute Begründungen des Aggressors für seinen Überfall? Es scheint, als wolle Habermas dem durch den Agressor herbeigeführten Sterben von UkrainerInnen doch noch einen Sinn geben. Wenn Habermas sein Plädoyer schließt mit dem Satz „Schon die Bereitschaft der USA, sich auf solche Verhandlungen von geopolitischer Reichweite einzulassen, könnte sich Putin zugutehalten.“. Hier klingt das Verb „zugutehalten“ für mich so, als sollten die LeserInnen auf eine höhere Vernunft verwiesen werden, die nur Habermas und Putin zugänglich wäre. Eine Wortzählung ergibt überdies: Der Name des ukrainischen Präsidenten – 0 Vorkommen, der Name des russischen Präsidenten – 6 Vorkommen – wie einseitig aus der Sicht Aggressors!

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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