Deutsche Beschwichtigung. Das Erbe des Genscherismus

Niemand hat die Außenpolitik der Bundesrepublik so nachhaltig geprägt wie Hans-Dietrich Genscher, der von 1974 bis 1992 ihr Außenminister war – und damit auch die außenpolitische Kontinuität über den Wechsel von der sozialliberalen zur schwarz-gelben Koalition hinaus verkörperte. Genscher starb vor fast genau fünf Jahren, Ende März 2016. Der Genscherismus jedoch wirkt fort – wie man derzeit an der wachsweichen Reaktion der Bundesregierung auf die militärische Eskalationsdrohung Russlands gegen die Ukraine erkennen kann.

Die Bundesregierung verharrt auch angesichts des massiven russischen Truppenaufmarsches gegen die Ukraine in passiver Zurückhaltung und belässt es bei unverbindlichen Appellen „an alle Seiten“. Jüngst hat Merkel mit Putin telefoniert, ohne ihm konkrete Konsequenzen für den Fall eines Angriffs anzukündigen. Putin nutzte das Gespräch vielmehr, um die Ukraine zu denunzieren und die Kanzlerin unter Druck zu setzen, die russischen Bedingungen für eine „Friedenslösung“ im Donbass zu akzeptieren. Einzelne explizite Proteste vonseiten einiger Koalitionspolitiker an die Adresse Moskaus waren ebenfalls mit keiner konkreten Sanktionsdrohung verbunden.

Das in der deutschen Politik und Öffentlichkeit grassierende Gerede vom „Säbelrasseln“ und davon, der Kreml wolle offenbar „Joe Biden testen“, dient dabei der Verharmlosung und dem Schönreden der ganz realen und akuten Gefahr einer russischen Großinvasion zu bloß symbolischen Machtspielchen. Treffend formulieren dazu die Grünen-Bundestagsabgeordneten Manuel Sarrazin (Sprecher für Osteuropa) und Omid Nouripour (Sprecher für Außenpolitik) in einer Erklärung: „Beide Seiten gleichermaßen zur Deeskalation aufzufordern, wie es die Bundesregierung tut, ist fast schon zynisch und spielt vor allem der russischen Propaganda in die Hände“. Und: „Die Bundesregierung kann angesichts der zunehmenden Gewalt nicht warten, bis Putin im Donbass vollendete Tatsachen geschaffen hat.“

Genau das jedoch ist ein entscheidende Manko der deutschen Russland-Politik: Dass stets darüber spekuliert wird, was Putin wohl tun wird, um dann darauf zu reagieren, statt von vorneherein vom schlimmsten Fall auszugehen und sich auf ihn vorzubereiten. Was Putin alles zuzutrauen ist, hat er in der Ukraine 2014, in Syrien seit 2015 und an vielen anderen Orten auf dem Globus schließlich hinreichend bewiesen. Dass sich die deutsche Außenpolitik zu diesem Erkenntnisschritt als chronisch unfähig erweist, belegt, wie sehr sie noch immer im Bann des Genscherismus steht.

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Die Frage, was „Genscherismus“ sei, beantwortete der britische Publizist Timothy Garton Ash einmal pointiert so: „Man möchte freundschaftliche Beziehungen mit dem Himmel, vertiefte Partnerschaft mit der Erde, aber auch fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hölle.“

In der Tat: Wenn etwas die Außenpolitik Hans-Dietrich Genschers charakterisierte, dann die Überzeugung, dass jeder noch so explosive Konflikt mit jeder noch so aggressiven autoritären Macht durch beharrliche Diplomatie entschärft und auf Dauer in einen friedlichen Ausgleich der Interessen überführt werden könne. Dass Genscher mit dieser Haltung Recht behalten habe, ist in der deutschen politischen Kultur zu einer geradezu religiös verfestigten Grundüberzeugung geworden. Spricht die friedliche Vereinigung Europas nach der Umwälzung von 1989/90 – an der Genscher zweifellos einen verdientstvollen Anteil hatte – nicht dafür, dass unbeirrtes Reden und Aufeinanderzugehen am Ende auf allen Seiten die Vernunft obsiegen lässt?

Der militärische Aspekt wird ausgeblendet

Für diese vermeintliche Wahrheit steht der im Laufe seiner späten Jahre als Elder Statesman in den Bereich der Legenden verklärte Genscher wie kein anderer. Es verwundert daher nicht, dass seine Appelle nach der Annexion der Krim und der russischen Besetzung des Donbass, im aktuellen Konflikt mit Russland „verbal abzurüsten“ und einen „konstruktiven Dialog“ mit Moskau zu suchen, in der deutschen Öffentlichkeit hohe Autorität besaß. In einem Beitrag im „Handelsblatt“ ließ Genscher 2014 den Mythos aufleben, der Kollaps des sowjetischen Imperiums sei Resultat einer klugen Überzeugungsstrategie gegenüber den kommunistischen Führern gewesen. „Mit der Politik der Ostverträge und als Motor des KSZE/OSZE-Prozesses“, schrieb er, „erreichten wir Entfeindung und schließlich Kooperation zwischen Ost und West.“

Doch diese Erzählung blendet die Voraussetzung aus, unter der Entspannungsschritte im Europa des Kalten Kriegs überhaupt erst möglich wurden: die militärischen Abschreckung. Bevor sich die Sowjets auf den Aufbau europäischer Sicherheitsstrukturen einließen, musste ihr Expansionsdrang erst durch die furchtbare Drohung mit totaler atomarer Vernichtung gestoppt werden. Gewiss, die deutsche Ostpolitik und der Helsinki-Prozess seit 1975 haben im Effekt zur inneren Aufweichung des kommunistischen Lagers beigetragen. Doch Genscher verschwieg, dass die Sowjets die Entspannungsphase der 70er-Jahre auch zur Hochrüstung mit SS-20-Mittelstreckenraketen nutzten. Die Kompromissbereitschaft des Westens hatten sie als Zeichen seiner Schwäche und Erpressbarkeit ausgelegt.

Genscher hätte dies 2014 eigentlich selbst am Besten wissen müssen. War er doch maßgeblich daran beteiligt, den Nato-Doppelbeschluss zu formulieren und durchzusetzen, mit dem der Westen Ende der 1970er-Jahre auf diese Bedrohung antwortete. Die Ankündigung, ihrerseits mit Raketen nachzurüsten, wurde von der Nato mit Verhandlungsangeboten kombiniert. Erst als der Kreml erkennen musste, dass es der Westen mit seiner Aufrüstungsabsicht ernst meint, schwenkte er auf Kooperation ein. Die vermeintliche Erlösergestalt Gorbatschow erschien erst auf der Bühne, als die Sowjetunion befürchten musste, durch die USA unter Ronald Reagan „totgerüstet“ zu werden.

Bedrohung durch Putin heruntergespielt

Eine Entsprechung zum Prinzip des Doppelbeschlusses fehlt jedoch heute. Putin treibt seine Aggression voran, weil er die Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft des Westens bezweifelt. Nur wenn ihm diese glaubhaft vor Augen geführt werden und er durch eine effektive Abschreckung von der weiteren Verfolgung seines Expansionsdrangs abgehalten wird, können die von Genscher am Ende seines Lebens eingeforderten neuen Kooperationsprojekte mit Russland eine realistische Grundlage gewinnen.

Genschers Mythenbildung trug jedoch wesentlich dazu bei, dass der Aspekt militärischer Stärke als notwendigem Element des Umgangs mit einer autoritären Macht im deutschen Diskurs bis heute weitgehend tabu ist. Mehr noch, Genscher spielte noch 2014 die Bedrohung auf gespenstische Weise herunter, indem er Putins Politik der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen in Europa aus allen möglichen angeblichen Versäumnissen des Westens ableitete, um immerhin zu konzedieren: „Natürlich ist auch die Politik Moskaus nicht frei von Fehlern.“

So nimmt das im „Genscherismus“ angelegte Äquidistanzdenken fast karikaturhafte Züge an. Genscher berief sich auf das Versprechen der Wendezeit, ein „gemeinsames Haus Europa“ mit Russland zu bauen, abstrahierte aber von den Werten, auf denen es beruhen sollte – nämlich denen der pluralistischen, rechtsstaatlichen Demokratie. Diese waren 1991 sogar von der noch existierenden Sowjetunion als bindend anerkannt worden. Dass der Konflikt um die Ukraine in erster Linie einer zwischen der Ausbreitung der Demokratie und ihrer autoritären Zurückdrängung ist, kam jedoch bei Genscher nicht vor.

Demokratie ist nicht verhandelbar

Doch zumindest in einem Punkt ist die heutige Realität gegenüber der zu Zeiten der Entspannungspolitik eine andere: Demokratie und nationale Selbstbestimmung haben sich auch in den einstigen sowjetischen Satellitenstaaten in Ost- und Mitteleuropa durchgesetzt. Sie sind so wenig verhandelbar wie das Recht unabhängiger Staaten wie der Ukraine, diesem Weg zu folgen. Eine Annäherung an Russland mit einer Einschränkung dieses Rechts zu bezahlen, würde nicht bedeuten, den Frieden sicherer zu machen, sondern das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Der Genscherismus war freilich nie im klassischen Sinne neutralistisch, die deutsche Verankerung im westlichen Bündnis war vielmehr sein Ausgangspunkt. Doch beruhte er auf dem Prinzip, die konfrontativen Elemente im Kalten Krieg weitgehend den Nato-Partnern zu überlassen und eine Sonderrolle der Bundesrepublik als einer Art Vermittlerin zwischen den Welten zu etablieren.

Diese Kunst des Heraushaltens war zu Zeiten Genschers als „Scheckbuchdiplomatie“ bekannt – und bei den westlichen Verbündeten berüchtigt. Ihren makabren Tiefpunkt erreichte sie, als sich die Bundesregierung durch finanzielle Leistungen von einer Beteiligung am Golfkrieg 1991 zur Befreiung Kuwaits von der irakischen Besetzung freikaufte. Zum beschämenden Skandal wurde dies, als Saddam Hussein als Reaktion auf den Angriff der US-geführten Koalitionstruppen Israel mit Raketen beschoss, wobei er sogar angekündigt hatte, diese mit Giftgas zu bestücken (was dann allerdings nicht eintraf). Es handelte sich dabei um Giftgas, das der irakische Diktator mit Hilfe deutscher Unternehmen hatte herstellen lassen. Dass Deutschland dennoch seinen militärischen Abstentionismus im Krieg gegen Saddam durchhielt, hinterließ in Israel eine tiefe Wunde.

Dunkle Flecken des Genscherismus

Das oberste Prinzip des Genscherismus, unter keinen Umständen „den Gesprächsfaden abreißen zu lassen“, geriet mit der Zeit tendenziell zum Selbstzweck – nicht nur gegenüber dem Sowjetblock. So hinderten Genscher auch die schwersten Menschenrechtsverletzungen und Terroraktivitäten Teherans nicht daran, in den 80er-Jahren deutsche politische und wirtschaftliche Sonderbeziehungen zu dem vom von den USA und anderen westlichen Ländern boykottierten iranischen Regime aufzubauen. Deutschland nutzte die Lücken, um der deutschen Wirtschaft zu noch besseren Geschäften mit der Islamischen Republik zu verhelfen. Spätestens daran wurde deutlich, dass die vermeintlich so hoch moralische bundesdeutsche Politik des „Ausgleichs“ nebst ihrer „Kultur der Zurückhaltung“ an vorderster Stelle stets auch knallharte nationale Interessenspolitik war.

Deutlich geworden war dies bereits nach dem Militärputsch in Argentinien 1976, als Genscher davon Abstand nahm, sich für die von der Junta verschleppte deutsche Studentin Elisabeth Käsemann einzusetzen. Die Interessen der deutschen Wirtschaft in Argentinien nicht durch zu starken Einspruch gegen die Diktatur zu beeinträchtigen, erachtete er offenbar als wichtiger als die Rettung des Lebens der deutschen Staatsbürgerin, die in den Geheimgefängnissen der Putschisten schwer gefoltert und schließlich ermordet wurde. Stillschweigend akzeptierte das Auswärtige Amt unter Genscher daher die Propagandalüge der Junta, es handele sich bei Käsemann um eine gefährliche Terroristin, die in einem Feuergefecht mit den Ordnungskräften getötet worden sei.

Solche dunklen Flecken in seiner außenpolitischen Bilanz können dem Nimbus der friedenspolitischen Lichtgestalt, den Genscher in der deutschen Öffentlichkeit genießt, jedoch nichts anhaben Dass der „Genscherismus“ der deutschen Außenpolitik gleichsam in den Genen sitzt, zeigt sich an Sätzen wie dem des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, den Nato-Beitritt der Ukraine zu befürworten, hieße, gegenüber Russland „zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen.“ Wer nicht in genscheristischer Logik befangen ist, könnte das so verstehen: Man darf den Brandstifter nicht dadurch provozieren, dass man seinem Opfer Löschwerkzeuge in die Hand gibt.

Der Text über Genscher basiert auf einem Artikel, den ich 2014 in der „Welt schrieb.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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