Die Kraft der pluralistischen Demokratie erneuern!

2023 könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, das über das Schicksal der demokratischen Zivilisation entschieden hat. Um den gegenwärtigen massiven Großangriff ihrer Todfeinde zu überleben, muss die pluralistische Demokratie politisch und militärisch aufrüsten – sich aber auch ihrer ideellen Kraft wieder klarer bewusst werden. Dafür gilt es, einen „klassischen“ Theoretiker des Pluralismus wiederzuentdecken.

Die Existenz der westlichen Demokratien ist bedroht wie seit 1945 nicht mehr. Die Regime Russlands und Chinas haben der demokratischen Welt und ihren Grundwerten de facto den Krieg erklärt und drängen sie in die Defensive. In der Ukraine überzieht Russland ein demokratisches europäisches Land bereits offen mit einem Vermichtungsfeldzug. Die Bestrebungen des totalitären Regimes in Peking, sich Taiwan, eine freiheitliche Demokratie, militärisch einzuverleiben, werden immer bedrohlicher. Darüber hinaus hat der islamistische Terrorismus – wie der Mordanschlag auf den britischen Schriftsteller Salman Rushdie vergangenen Sommer ebenso wie jüngst der geplante, zum Glück vereitelte Terroranschlag in Nordrhein-Westfalen belegen – nichts von seiner Gefährlichkeit verloren.

Im Iran und in Afghanistan versuchen islamistische Regime mit äußerster Brutalität und Grausamkeit einen Grundpfeiler der modernen Zivilisation einzureißen: den Anspruch der Frauen auf Menschenwürde, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Die Machthaber der Islamischen Republik Iran setzen Terror, Folter und Vergewaltigung ein, um die Stimme der Frauen zum Schweigen zu bringen, die sich in der jüngsten iranischen Aufstandsbewegung machtvoll Gehör verschafft hat. Ob in Belarus, im Freiheitskrieg der Ukraine oder jetzt im Iran: Überall übernehmen Frauen zunehmend die Führungsrolle im Kampf für Menschenrechte und Demokratie. Es ist daher folgerichtig, dass sie verstärkt den Hass und die Vernichtungswut der antizivilisatorischen Despotien auf sich ziehen.

In Afghanistan wird das derzeit auf besonders grauenvolle Weise deutlich. Lange war im Westen fleißig die Mär kultiviert worden, die Taliban hätten sich „gemäßigt“. Sie diente der westlichen Politik und Öffentlichkeit dazu, sich bei der Auslieferung Afghanistans an die totalitären islamistischen Schlächter ein etwas besseres Gewissen zu machen. Inzwischen zeigen die Taliban längst ihr wahres Gesicht – das von Anfang an alle hätten erkennen können, die es erkennen wollten. Jetzt aber, da die Tatsachen für sich sprechen, ist die grauenvolle Realität in Afghanistan weitestgehend aus der Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit verschwunden. Was es den westlichen Regierungen, und namentlich der Bundesregierung, leicht macht, abgegebene Schutz- und Hilfszusagen an die im Stich gelassene afghanische Zivilgesellschaft nicht einzuhalten,

In allen Lebensbereichen werden die Frauen in Afghanistan nach und nach ihrer Grundrechte beraubt – und damit die gesamte Gesellschaft totalitärer Gleichschaltung unterworfen. Auspeitschungen, öffentliche Hinrichtungen, Steinigungen und Amputation zählen wie in ihrer ersten Herrschaftsperiode auch jetzt wieder zu den gängigen Horrorpraktiken der Taliban-Diktatur. Ihre Verurteilung durch westliche Regierungen bleibt aber einstweilen bloßes Lippenbekenntnis.

Angriff von innen

Doch auch von Innen her werden die pluralistischen Demokratien in ihrem Kern angegriffen – durch Ideologien von rechts und links, die sich indes zu immer größerer Ununterscheidbarkeit vermischen. Gemeinsam ist beiden Richtungen die Konstruktion eines kollektiven Subjekts, in dessen Namen sie eine allein gültige absolute Wahrheit auszusprechen behaupten. Während sich die extreme Rechte auf „das Volk“ als eine vermeintlich homogene Einheit beruft, die sie einer „abgehobenen liberalen Elite“ entgegen stellt, betrachtet sich die „postkoloniale“ Linke als die einzig authentische Stimme der Gesamtheit aller einstmals vom Westen Kolonisierten und ihrer Nachfahren.  Damit negieren diese Strömungen das Grundverständnis moderner Demokratien, die in ihren Bürgern rechtlich gleichgestellte, selbstbestimmte Individuen sehen, die sich in freiwilligen Zusammenschlüssen organisieren können, um politischen Einfluss zu gewinnen – ohne dass dadurch die Pluralität der Interessen und Überzeugungen angetastet und die Legitimität dieser Vielfalt infrage gestellt werden darf.

Um diesen Grundsätzen neue Anziehungskraft zu verleihen, empfiehlt sich die Rückbesinnung auf Denker, die ihnen ein intellektuelles Gerüst gaben. Kaum ein anderer Theoretiker der freiheitlichen Demokratie hat die grundlegende Differenz zwischen dem identitären und dem pluralistischen Staats- und Gesellschaftskonzept so präzise aufgezeigt wie der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der einer breiteren Öffentlichkeit heute dennoch kaum noch bekannt ist.

Der 1898 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geborene Fraenkel engagierte sich in der Weimarer Republik als Rechtsanwalt und Sozialist für die Gewerkschaftsbewegung. 1938 in die USA emigriert, studierte er dort intensiv die staatsrechtlichen und ideellen Grundlagen der amerikanischen Demokratie, was ihn zunehmend von seinen ursprünglichen sozialistischen Idealen abrücken ließ. Nach 1945 diente er im Auftrag der US-Regierung als Berater beim Aufbau eines neue Rechtssystems im von der japanischen Herrschaft befreiten Korea, bis er 1950 nach Deutschland zurückkehrte.

Demokratie im Sinne Ernst Fraenkels 

Als Professor der politischen Wissenschaft in Berlin avancierte Fraenkel zu einem maßgeblichen Vordenker der deutschen Nachkriegsdemokratie. Seine als „Neopluralismus“ bezeichnete Theorie formulierte er explizit als Antwort auf die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Als deren Wurzel betrachtete er die Vorstellung von einem vorgefertigten „Gemeinwohl“, nach dessen Vorgaben die Gesellschaft zu formieren sei. Hatte sich Fraenkel zunächst primär gegen autoritäre Staatsvorstellungen der nationalistischen Rechten wie die des Staatsrechtlers Carl Schmitt gewandt, geriet er in den 1960er Jahren in heftige Konfrontation mit der linksradikalen Studentenbewegung. Deren Aktionsformen erinnerten ihn an die Gewaltmethoden der Nationalsozialisten und ihrer SA-Sturmtrupps in der Endphase der Weimarer Republik. Zutiefst abgestoßen war Fraenkel auch vom aggressiven Antiamerikanismus der studentischen Linken. Im Gegenzug  wurde der jüdische Remigrant, der dem Holocaust entkommen war, von diesen jungen Deutschen als „Reaktionär“ abgestempelt. Kurzzeitig erwog Fraenkel deshalb sogar, ein zweites Mal aus Deutschland zu emigrieren.

Im Gegensatz zu dem Denken in der Tradition von Jean-Jaques Rousseau und seinem Konzept eines über dem Willen der Einzelnen stehenden „Gemeinwillens“ (volonté générale) bestand Fraenkel darauf, dass das Gemeinwohl erst durch die Auseinandersetzung und Kompromissfindung zwischen Interessengruppen entsteht, die gegeneinander um Einfluss kämpfen. Der offen ausgetragene Konflikt widerstreitender Interessen ist daher laut Fraenkel kein Makel freier Gesellschaften, sondern die Quelle ihrer Stärke. Voraussetzung dafür seien allerdings verfassungsrechtlich gesicherte Verfahren, die den Konflikt in institutionelle Bahnen lenken.

Für ein Pathos des Unvollkommenen

Dazu bedarf es laut Fraenkel neben dem „kontroversen Sektor“, in dem die nie endenden Auseinandersetzungen um den richtigen Weg für die Gesellschaft ausgetragen werden, auch eines Bereichs, in dem Konsens über die für ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbaren Normen und Werte besteht. Dieser nicht-kontroverse, konsensuale Sektor erfährt heute in vielen westlichen Demokratien eine gefährliche Erosion. Im digitalen Zeitalter wird es vielfach zur Gewohnheit, Anspruch auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu erheben. Das trägt dazu bei, dass die schwerfälligen prozeduralen Mechanismen der Demokratie einmal mehr als zu langwierig und ineffektiv und daher als antiquiert empfunden werden.

Gegen diese Haltung müssen die Verteidiger der pluralistischen Demokratie ein Pathos des Unvollkommenen setzen. Sie müssen deutlicher vermitteln, dass der demokratische Prozess, so quälend und unbefriedigend er oft sein mag, keine unzumutbare Last, sondern das kostbarste Gut freier Gesellschaften ist. Denn nur er bietet zuverlässigen Schutz vor utopischen Absolutheitsansprüchen,  seien sie rückwärtsgewandter oder „progressiver“ Art. Eine Gesellschaft bleibt nur frei, wenn sie sich zu ihrer ewigen Unfertigkeit bekennt und allen falschen Versprechungen auf „Heilung“ durch eine oktroyierte „Ganzheit“ widersteht.

Um sich gegen den Ansturm des neuen Autoritarismus behaupten zu können, müssen die Demokratien nicht nur ihre militärischen Abwehrkräfte erheblich stärken. Auch auf dem Gebiet der Ideen ist Aufrüstung dringend geboten. Dazu gilt es, sich wieder stärker mit den Prinzipien vertraut zu machen, auf denen die modernen demokratischen Gesellschaften gründen – um sie selbstbewusst gegen ihre inneren wie äußeren Feinde ins Feld zu führen. Die Kenntnis des Werks und Lebens Ernst Fraenkels kann dabei eine eminente Hilfe sein.

Der Text ist die erweiterte und aktualisierte Fassung meiner Kolumne, die zuerst auf Ukrainisch hier und auf Deutsch hier erschienen ist.

.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Sehr geehrter Herr Herzinger ich danke Ihnen sehr für diesen Beitrag. Anknüpfen möchte ich an“Dieser nicht-kontroverse, konsensuale Sektor erfährt heute in vielen westlichen Demokratien eine gefährliche Erosion.“ und frage mich in diesem Kontext; wo liegen die Ursachen für den Vertrauensverlust weiter Teile unserer Gesellschaft in unsere Institutionen?
    Es ist schwer dieser Frage auf die Spur zu kommen, da immer rigoroser der Besitzstand verteidigt wird, weil Meinungsführer sicher zu wissen glauben wo der Feind auszumachen ist und auf diesem Wege plurale Vielfalt in Meinungsghettos parzelliert werden.
    Da wir gegenwärtig mit vielen Aspekten von Schuld konfrontiert sind, habe ich bei Karl Jaspers“Die Schuldfrage“ nachgelesen und Angebote- wie Gespräche wieder gelingen könnten- gefunden. Der Text, eine Vorlesung von 1946 , zeigt, aus einem tiefen demokratischen und humanistischem Verständnis, Wege aus Verstrickung und Verirrung, die wieder zueinander führen. könnten. Aber es braucht neben dem Willen des Einzelnen auch einen politischen Willen.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt