Schloss Elmau: Was die G7 aus seiner Historie lernen kann

Zum zweiten Mal nach 2015 findet der G7-Gipfel in Schloss Elmau statt. Das abgeschiedene Feriendomizil in den oberbayerischen Alpen scheint auf den ersten Blick nicht mehr zu sein als ein mit allen Annehmlichkeiten zeitgemäßer Erholungskultur ausgestattetes Luxusressort mit traumhaft schönem Bergpanorama.

Doch die Geschichte des 1916 erbauten und nach einem Großbrand 2005 weitgehend originalgetreu wiederaufgebauten Hauses birgt überraschende Einblicke in die ideologische Disposition des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert. In Elmau spiegelt sich komprimiert die Mentalitätsgeschichte eines deutschen bildungsbürgerlichen Milieus, das seine angeblichen humanistischen Ideale an den Nationalsozialismus verriet und auch nach 1945 kulturkritische Vorbehalte gegen die deutsche Westintegration beibehielt. Dass die innere Distanz deutscher Eliten zum Westen bis heute nicht gänzlich überwunden wurde, zeigt sich aktuell an der zögerlichen Haltung, die Deutschland bei der gemeinsamen Unterstützung der Ukraine gegen die russische Invasion einnimmt.

Bei Johannes Müller, dem Gründer von Schloss Elmau, handelte es sich um einen protestantischen Theologen, der mit der lutherischen Kirche brach und danach eine seinen persönlichen Visionen entsprechende religiöse Botschaft predigte. Zentral war für ihn die Vorstellung, der Einzelne könne sich dem Göttlichen nur durch die Überwindung des „Ich“ und das Aufgehen in einer innigen Gemeinschaft nähern.

Mit dem Schloss, dessen Bau ihm durch die Spende einer adligen Verehrerin ermöglicht worden war, verfügte Müller nun über einen beeindruckenden Ort, an dem er seine wachsende Anhängerschaft empfangen und sie unbehelligt von störenden Einflüssen der verachteten modernen Zivilisation seine lebensreformerischen Vorgaben praktizieren lassen konnte. Im gemeinschaftlichen Tanz zu klassischer Musik etwa sah Müller einen Weg, sich aus der vermeintlich verhängnisvollen Gefangenschaft im Ego zu befreien und mit einem „Du“ zu verschmelzen. Seine antiindividualistischen und antimodernistischen Ideale mit völkisch-nationalistischer Tendenz fanden große Resonanz in nationalkonservativen, aber durchaus auch in liberal orientierten Kreisen.

Erlösung von „Ichsucht“?

Müller legte sich in der Zeit der Weimarer Republik nämlich politisch nicht fest, sondern gab seine Philosophie als eine über die „niedrigen“ Interessenskämpfe der Gegenwart erhabene spirituelle Lehre aus. Umso überraschender war es für viele seiner Anhänger, dass er sich 1933 mit glühender Hingabe zu Adolf Hitler bekannte. Auch wenn er die Ideologie der NSDAP nicht gänzlich teilte, glaubte er doch im „Führer“ den von Gott gesandten Erlöser des deutschen Volkes von der „Ichsucht“ zu erkennen.

Den NS-Machthabern blieb Müllers Weltanschauung gleichwohl suspekt, doch sie duldeten lange das esoterisch angehauchte Treiben seiner Elmauer Gemeinde. 1944 jedoch wurde Johannes Müller unter Hausarrest gestellt und das Schloss in ein Wehrmachtslazarett umfunktioniert. Nach Kriegsende stufte die US-Besatzungsmacht den Schlossherren, der seine Hitler-Verehrung jetzt einen „Irrtum“ nannte, als NS-Täter ein und beschlagnahmte sein Anwesen. Elmau wurde nun zum Erholungsheim für „Displaced Persons“, in dem sich Holocaust-Überlebende auf die Rückkehr in ein menschenwürdiges Dasein vorbereiten konnten.

1949 starb Johannes Müller, und zwei Jahre später erhielt seine Familie das Schloss zurück. Weit davon entfernt, die eigenen Überzeugungen nach ihrer strukturellen Nähe zum NS-Ungeist zu hinterfragen, wie er sich etwa in der berüchtigten Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ manifestiert hatte, folgten Müllers Anhänger unbeirrt weiter den Lehren ihres Meisters und den von ihm verordneten Ritualen. Sie drückten so ihre latente Abneigung gegenüber der „verwestlichten“ Bundesrepublik und deren „amerikanisierter“ Kultur aus.

Schloss Elmau wird westlich

Doch diese Konstellation änderte sich radikal, als Dietmar Müller-Elmau, ein Enkel Johannes Müllers, Mitte der 1990er Jahre die Leitung des Schlosses übernahm. Schon als Jugendlicher  hatte er gegen den in Elmau grassierenden Antimodernismus und Antiamerikanismus rebelliert, in dem er auch Elemente des Antisemitismus verborgen sah. Er ging zum Studium nach New York und baute in den USA eine erfolgreiche Computer-Softwarefirma auf, die er schließlich verkaufte, um mit dem Erlös die dringend  notwendige Renovierung des Schlosses in Angriff zu nehmen.

Aber auch programmatisch und konzeptionell stellte Müller-Elmau das Schloss völlig neu auf. Ab jetzt sollte dort der in Deutschland noch immer wirksamen Affekt gegen den vermeintlich kulturell „wurzellosen“ Westen und seine „Konsumgesellschaft“ bekämpft werden, der selbst die gemäßigte bürgerliche Mitte für die totalitäre NS-Ideologie anfällig gemacht hatte. Dazu lockte der neue Schossherr gezielt die besten internationalen geisteswissenschaftlichen Köpfe, vorwiegend aus den USA und Israel, zu großen Tagungen nach Elmau. Auch geben dort seitdem weltweit führende Stars aus Klassik und Jazz viel beachtete Konzerte. Inzwischen hat die offene und von Vielfalt geprägte Atmosphäre das Schloss zum beliebten Urlaubsziel führender deutscher wie ausländischer Politiker sowie anderer prominenter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens werden lassen.

Dass sich die Regierungschefs der führenden Industrienationen der demokratischen Welt in Schloss Elmau versammeln, krönt die Vision Diemar Müller-Elmaus, es zu einem Zentrum des transatlantischen Austauschs zu machen. War Elmau einst ein Hort des antiwestlichen Ressentiments, so steht es heute für dessen Überwindung und das offensive Bekenntnis zu den Werten der freien Welt. Es ist daher ein höchst angemessener Ort für den G7-Gipfel. Denn mehr als je zuvor seit 1945 steht heute die Zukunft der westlichen Demokratien auf dem Spiel. Nur wenn der Westen dauerhaft vereint und konsequent der russischen Aggression wie auch anderen totalitären Bedrohungen die Stirn bietet, wird er überleben. Die dazu nötigen Beschlüsse zu fassen, obliegt nicht zuletzt der G7. Die Geschichte und Gegenwart von Schloss Elmau ist geeignet, sie dazu zu inspirieren,

Der Text erscheint zugleich auf Ukrainisch als Kolumne in Український тиждень (Ukrainian Week; tyzhden.ua).

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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