Xi und Putin oder Der Leninismus als Wiedergänger

Leninismus reloaded: Zum Abschluss seines kürzlichen Moskau-Besuchs rief der chinesische Staats-und Parteichef Xi Jinping seinem „lieben Freund“ Wladimir Putin aufmunternd zu, es seien in der Welt Veränderungen im Gange „wie seit hundert Jahren nicht mehr“. Gemeint war damit, dass der historische Moment zur Zerschlagung der von den Werten des westlichen Liberalismus geprägten Weltordnung gekommen sei. Ihr will Xi im Bunde mit dem russischen Vernichtungskrieger den Garaus machen.

In der Tat wird mit der chinesisch-russischen Aggressorenachse für den Westen ein Alptraum wahr, wie er sich selbst in der Hochphase des Kalten Kriegs nicht materialisiert hatte. Damals waren die komunistischen Großmächte Sowjetunion und China immerhin miteinander verfeindet, was der freien Welt Spielräume zum Manövrieren zwischen ihnen eröffnete, bis hin zu Möglichkeiten, sie gegeneinander auszuspielen. Heute aber knüpfen die Erben dieser totalitären Mächte wieder an ihre weltrevolutionären Ursprünge an – an die Zeit vor rund hundert Jahren, als der Leninismus die historische Bühne betrat. Als unheimlicher Wiedergänger kehrt dieser jetzt zurückinzwischen freilich reduziert um die Utopie einer klassenlosen kommunistischen Idealgesellschaft und amalgamiert mit den ideologischen Ausläufern des Faschismus, der ebenfalls vor gut einem Jahrhundert über die Welt hereinbrach.

Die Illusion von 1989-91

Nach dem demokratischen Umsturz in Europa 1989/90 und der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 schienen der Kommunismus und seine Staatsideologie, der „Marxismus-Leninismus“, nur noch eine böse historische Erinnerung zu sein. Zwar blieb China, immerhin das bevölkerungsreichstes Land der Welt, der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei unterworfen. Und auch in Kuba, Nordkorea, Vietnam und Laos hielten sich Diktaturen an der Macht, die unmittelbar oder in abgewandelter Form der marxistisch-leninistischen Staatslehre folgen. Doch im Westen herrschte lange Zeit die Überzeugung vor, auch diese Regime würden in absehbarer Zukunft zusammenbrechen oder sich im Sinne westlicher Standards von Marktwirtschaft und Menschenrechten „liberalisieren“.

Noch Barack Obama pflegte autokratischen Staaten vorzuhalten, sie stünden „auf der falschen Seite der Geschichte“. Er gab damit der in den westlichen politischen Eliten weit verbreiteten Gewissheit Ausdruck, die Zeit arbeite für die weltweite Durchsetzung der Demokratie. Inzwischen kann man sich dessen jedoch längst nicht mehr sicher sein. Zunehmend aggressiv und expansiv agierende autoritäre Mächte wie Russland und China haben den Westen global in die Defensive gedrängt und bauen ihren Einfluss auf der internationalen Bühne weiter aus, während die ideellen Grundlagen der westlichen Demokratien zunehmend ausgehöhlt zu werden drohen.

Dabei wenden sowohl China als auch Russland im Kern jene Herrschaftstechniken an, die zuerst von Lenin und den Bolschewiki in der Folge ihres Oktoberputschs von 1917 entwickelt wurden. Unter dem neuen starken Mann Xi Jinping wird in der Volksrepublik China der „Marxismus-Leninismus“ als allmächtige Staatsideologie massiv aufgewertet, und namentlich die Person Lenins erfährt dort wieder zunehmend kultische Verehrung. Der kommunistische Machtapparat beschränkt sich nicht mehr wie unter Xis Vorgängern auf die Propagierung eines mit kommunistischen Phrasen ausgeschmückten extremen chinesischen Nationalismus. Xi preist das chinesische Herrschaftssystem vielmehr wieder offensiv als vorbildhaftes Modell für die gesamte Menschheit  an und nutzt diese Erlösungsbotschaft als Rechtfertigung dafür, den globalen Vorherrschaftsanspruch Pekings mit brachialen Methoden voranzutreiben. Damit knüpft er an den aus Lenins Theorien abgeleiteten weltrevolutionären Impetus des Regimes in seiner Frühphase unter Mao Tse-Tungs an – freilich mit einer unvergleichlich größeren Wirtschaftskraft im Rücken als sie diesem zur Verfügung stand

Wahnhafte Züge

Zur Totalüberwachung und Gleichschaltung der Gesellschaft, die gleichfalls an seine frühen Jahre erinnern, nutzt und entwickelt das chinesische Regime avancierteste digitale Technologie. Es konterkariert damit die Vorstellung, kommunistische Herrschaft müsse unweigerlich in den ökonomischen Niedergang führen. Stattdessen hat es die Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems erfolgreich in den Dienst der Zementierung seiner Macht gestellt – und damit realisiert, was schon Lenin mit seiner „Neuen Ökonomischen Politik“ der Jahre 1921-28 intendiert hatte. Ungeachtet seiner ideologischen Fixierung verbündet sich das chinesische Herrschaftssystem dabei mit politischen und gesellschaftlichen Kräften jeglicher Couleur (beziehungsweise korrumpiert sie), wenn dies dem eigenen Vorteil dient.

Dass der Leninismus in einer mutierten Variante seinen vermeintlichen historischen Tod überlebt hat, zeigt sich in anderer Form auch in Russland. Zwar folgt der Kreml unter Wladimir Putin keiner kommunistischen Heilslehre mehr, und sein Regime orientiert sich mehr an dem Ordnungsideal des Zarenreichs als an den umstürzlerischen Lehren Lenins. Doch beruht Putins Herrschaftssystem auf der Macht der Geheimdienste, die aus der von Lenin geschaffenen Tscheka hervorgegangen sind, und steht so in dieser wesentlichen Hinsicht in der Kontinuität des Sowjetsystems. Von diesem übernommen hat es auch seine fundamentalistische Feindschaft gegen den westlichen Liberalismus, der ihm als Negativfolie für seine Selbstdefinition dient und neuerdings immer wahnhaftere apokalyptische Züge annimmt.

Alle im Westen immer wieder aufbrandenden anderslautenden Erwartungen zum Trotz hat sich die von Putin zum Herrschaftsmodell ausgebaute Symbiose aus Geheimdiensten und organisierter Kriminalität einstweilen als stabil erwiesen. Statt unter dem Druck von Krisen wie der Corona-Pandemie ins Wanken zu geraten, hat es sich in großen Schritten zu einer offenen terroristischen Diktatur entwickelt. Mehr noch, der Kreml hat seine kriegerische Aggressionspolitik, sei es gegenüber der Ukraine oder in Belarus, sei es in Syrien oder in Gestalt seines hybriden Cyber- und Informationskriegs gegen die westlichen Demokratien, immer weiter radikalisiert  – kulminierend im genozidalen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Nation. Auch dieser Zwang zum permanenten expansiven Angriff zwecks Legitimierung seiner Herrschaft ist ein Erbe des Leninismus.

Leninismus von Rechts

Dabei stützt sich der Kreml auf ideologische Hilfstruppen sowohl auf der radikalen Linken wie Rechten, die in den westlichen Demokratien als Schallverstärker seiner Desinformationskampagnen fungieren. In Deutschland sind das die rechtsnationale AfD am einen und die SED-Nachfolgepartei Die Linke am anderen Extrem des politischen Spektrums, wobei sich die links-rechts-gestrickte Putinistin Sahra Wagenknecht zunehmend als Mittlerin zwischen beiden Richtungen profiliert. Dieses faktische Querfront-Bündnis erinnert daran, dass der Leninismus historisch keineswegs nur in der extremen Linken Wurzeln geschlagen, sondern  auch bei der extremen Rechten einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.

So betrachteten sowohl Benito Mussolini als auch Joseph Goebbels in seiner Frühphase – bevor er Hitler bedingungslos als seinen Messias anerkannte – Lenin als Vorbild und Archetypen jener Art von Führer, den sie sich auch an der Spitze ihrer „völkischen“ Bewegung wünschten. Innerhalb der deutschen extremen Rechten existierte nach dem Ersten Weltkrieg eine starke Strömung, die für ein Zusammengehen Deutschlands mit der Sowjetunion gegen den verhassten Westen optierte. Diese als „Nationalbolschewismus“ bezeichnete Richtung, die den westlichen Liberalismus und nicht den Kommunismus als ihren Hauptfeind betrachtete, interpretierte die russische Revolution als eine „völkische“ Erhebung gegen die „Dekadenz“ der westlichen Zivilisation. Unter der Oberfläche der kommunistischen Ideologie breche sich in Russland ein ursprünglicher, von westlichem Individualismus und Materialismus unverbildeter „Volksgeist“ Bahn.  

In der Gegenwart hat sich Steve Bannon, vorübergehend Chefberater der Trump-Administration und bis heute einflussreicher Einflüsterer des Ex-Präsidenten, als einen „Leninisten“ bezeichnet. Damit meinte er, dass er das amerikanische Regierungssystem keineswegs transformativ verändern, sondern – unter der Regie einer kleinen, zu allem entschlossenen ideologischen Avantgarde – vollständig zerschlagen wolle. Er stellt sich damit in die Tradition von „konservativen Revolutionären“ der Weimarer Republik wie Hans Freyer, der in seinem Pamphlet „Revolution von Rechts“ (1931) den nationalrevolutionären Umsturz als historische Überbietung der von Marx prophezeiten proletarischen Revolution dargestellt hat. Diese, meinte Freyer, setze nur die Ansprüche einer Klasse durch und gehe daher an Radikalität nicht weit genug. Erst die nationalistische Umwälzung mit ihrem Ziel einer organischen „Volksgemeinschaft“ sei wirklich frei von Partikularinteressen. Allein sie könne daher den fundamentalen Bruch mit der bürgerlich-liberalen Epoche herbeiführen.

Berufung zur Willkür

Den „konservativen Revolutionären“ der Weimarer Republik imponierte an Lenin der dezisionistische Voluntarismus, mit dem er aus ihrer Sicht in den Lauf der Geschichte eingriff, um ihr eine radikal andere Richtung zu geben. Auch sahen sie  in Lenin die Verkörperung einer mythischen Führerfigur, in der sich alle Energien, Eigenschaften  und Sehnsüchte eines „Volkstums“ bündelten. Mit Donald Trump hat sich zuletzt die amerikanische radikale Rechte die Karikatur eines solchen Anführers zu ihrer Erlöserfigur erwählt.

Der Kern der „völkischen“ Lenin-Rezeption bestand darin, Lenins unbedingten Willen zur Macht von der an „objektive  Gesetzmäßigkeiten“ gebundenen marxistischen Geschichtstheorie abzulösen. Und damit lagen sie nicht ganz falsch. Marx und Engels hatten die volle Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus als Voraussetzung für eine erfolgreiche proletarische Revolution betrachtet. Nur auf der Basis von deren ökonomischen und gesellschaftlichen Errungenschaften könne der Sozialismus errichtet werden. Lenin aber wollte mit der Realisierung der kommunistischen Diktatur nicht so lange warten, bis der Kapitalismus seine progressive historische Rolle ausgespielt haben und an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gegangen sein würde. Um zu rechtfertigen, dass die proletarische Revolution auch in einem ökonomisch und sozial rückständigen Land an der Tagesordnung sei, drehte er die Reihenfolge der Marxschen Zukunftsvision um: erst müsse die „proletarischen Diktatur“ errichtet und dann erst die Entwicklung der für den Sozialismus notwendigen Produktivkräfte vorangetrieben werden. Nach Lenins Vorstellung musste die kapitalistische Entwicklung, die an Russland weitgehend vorbeigegangen war, unter den Bedingungen einer bereits aufgerichteten kommunistischen Herrschaft nachgeholt werden.

Aus dieser vermeintlichen historischen Berufung zu ihrer Willkürherrschaft leiteten die Leninisten ihr oberstes Gebot ab, die einmal errungene absolute Macht unter keinen Umständen mehr aus den Händen zu geben. Als Essenz des Leninismus hat sich so die Verabsolutierung des Machterhalts und die grenzenlose Selbstermächtigung der ihn sichernden Repressionsapparate erwiesen. Diese Apparate sind getreu der leninistischen Lehre an kein über dem Willen der Führung stehendes Gesetz und an keinerlei moralische Begrenzungen gebunden. Mehr noch, ihre Willkürtaten geben sie als Akte der Befreiung von den Fesseln einer angeblich verlogen liberal-humanistischen Moral aus. Das erklärt nicht zuletzt den Eifer, mit dem heute die russischen Desinformationsapparate die westlichen Werte zu unterminieren und als perfide Täuschung zu entlarven versuchen.

Als die leninistischen Machthaber in Moskau und Peking noch dem Ideal der kollektivierten Planwirtschaft verpflichtet waren, mussten die besitzenden Klassen im Westen befürchten, von ihnen enteignet und womöglich liquidiert zu werden, sollten sich ihre weltrevolutionären Pläne jemals verwirklichen. Heute jedoch versprechen die Erben des Leninismus ihnen die Möglichkeit grenzenloser, durch keine Rechtsstaatlichkeit eingeschränkte  Bereicherung, wenn sie mit ihnen gemeinsame Sache machen – während sie zugleich die breiten Bevölkerungsschichten gegen die vermeintlich volksfeindliche Vorherrschaft der liberalen Eliten aufwiegeln. In dieser mutierten Form, die scheinbar gegensätzlichen antiliberalen Ideologien von links- bis rechtsaußen ein Dach bietet, ist der Leninismus wieder zu einer eminenten Bedrohung für die westlichen Demokratien geworden.

Der Text ist die leicht überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Fassung meines im April 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Essays.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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