Der Vormarsch der Taliban zur ganzen Macht in Afghanistan geht schneller voran als es selbst die größten Pessimisten befürchtet hatten. Schon in den nächsten 30 bis 90 Tagen könnte nach Einschätzung von US-Geheimdiensquellen der „Washington Post“ auch die Hauptstadt Kabul in ihre Hände fallen.
Für die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter größten Anstrengungen und Opfern die Grundlagen für eine humanere und freiere Zukunft der afghanische Gesellschaft gelegt haben, bedeutet dies, ohnmächtig auf den Vollzug ihres Schicksal warten zu müssen wie zum Tode Verurteilte auf ihre Exekution. Es geht einem durch Mark und Bein und lässt einem den Atem stocken, die in Kabul ausharrende afghanische Filmregisseurin und Drehbuchautorin Sahraa Karimi in einem Beitrag des ARD-Kulturmagazins „titel thesen temparamente“ sagen zu hören: „Ich weiß, dass sie mich töten werden“. Und die Fassungslosigkeit mitzuempfinden, mit der sie die ganze zerstörerische Dimension des abrupten Beschlusses, Afghanistan fallen zu lassen, auf den Punkt bringt: „Wir haben Zeit gebraucht, zu wachsen. Und gerade jetzt, wo wir bereit sind für wirkliche Entwicklung, werden wir von allen verlassen.“
Der Westen liefert die Afghaninnen und Afghanen sehenden Auges der Willkür der islamistischen Extremisten aus. Jedem klar denkenden Beobachter musste von Anfang an klar sein, dass das von Donald Trump im Frühjahr 2020 geschlossene und von seinem Nachfolger Biden nunmehr in die Tat umgesetzte „Abkommen“ mit den Taliban eine Farce war. Es sollte lediglich der Absicht, Afghanistan so schnell wie möglich sich selbst zu überlassen, ein fadenscheiniges Alibi verleihen. Einer verheerende Illusion gab sich hin, wer ernsthaft glaubte, die Taliban würden sich an irgendeine in diesem Deal gegebene Zusage halten. Die Unterzeichnung dieses Abkommens war für sie nur ein taktischer Schachzug zwecks Beschleunigung des US-Abzugs, der ihnen den Weg zur ganzen Macht im Land frei machen würde.
Kaltschnäuzigkeit und Schande
Kaum mehr als ein Alibi sind auch die sporadischen Luftschläge, mit denen die US-Luftwaffe die Taliban jetzt noch aufhalten soll. Dasselbe gilt für Präsident Bidens Beteuerung, die USA würden die afghanische Regierung auch weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Dass er hinzufügt, die afghanischen Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, aber die Afghanen müssten schon auch selbst für ihren Staat kämpfen wollen, mutet geradezu zynisch an. Denn so berechtigt der Hinweis auf die korrupte Verantwortungslosigkeit und die langjährige Unfähigkeit der verantwortlichen afghanischen Politiker, ihre marode Armee zusammenzuhalten und zu motivieren, auch sein mag, so abwegig ist die Vorstellung, dass die durch den US-Abzug endgültig demoralisierten und von Auflösung bedrohten Regierungstruppen nun plötzlich zu siegreicher Schlagkraft finden würden.
Die Europäer indes haben kein Recht, sich über die Kaltschnäuzigkeit, mit der sich Washington von Afghanistan abwendet, zu echauffieren. Dass die USA dort nicht auf Dauer alleine die Knochen hinhalten würden, nachdem sich ihre europäischen Nato-Verbündeten längst aus den Kampfeinsätzen verabschiedet hatten, war abzusehen. Und die Deutschen haben sich mit ihrem verbliebenen Restpersonal plus sämtlicher Gerätschaft bereits eilends aus dem Staub gemacht, lange bevor der letzte US-Soldat vom Hindukusch abgezogen ist. Im Gegensatz zu den USA war Berlin dabei noch nicht einmal bereit, wenigstens jenen Afghanen, die vor Ort für die Bundeswehr gearbeitet haben, unbürokratisch sicheres Asyl zu gewähren. So spektakulär die Rücksichtslosigkeit ist, mit der Biden dem Hindukusch den Rücken kehrt – das verstohlenere, aber umso erbärmlichere Verhalten der Deutschen ist an Schändlichkeit nicht zu übertreffen. Ohnehin scheint die einige wirkliche Sorge, die die Europäer bezüglich Afghanistan umtreibt, die vor einer neuen Flüchtlingswellen zu sein, könnte diese doch den rechtspopulistischen Demagogen weitere Wählerstimmen zutreiben.
Es ist eine Schande mit entsprechender geistiger Vorbereitung. Über Jahre hinweg haben zahlreiche Stimmen in Politik und Medien der westlichen Öffentlichkeit eingetrichtert, die Nato-Mission am Hindukusch sei ein einziger kostspieliger Fehlschlag. Warum also, so die daraus folgende Suggestion, noch länger an einer ohnehin verlorenen Sache festhalten? Für die Fortschritte, die in Afghanistan in 20 Jahren ungeachtet aller fortgesetzten schreienden Missstände in dem geschundenen Land tatsächlich erzielt wurden, hat sich hierzulande aber kaum noch jemand interessiert. Wie groß die Errungenschaften vor allem der afghanischen Frauen in Wirklichkeit sind, offenbart sich untrüglich erst im Kontrast zu der totalitären Barbarei, in die das Land jetzt zurück katalpultiert wird.
Geht einmal euren Phrasen nach
Weithin geglaubt worden ist im Westen lange Zeit auch das absurde Gerücht, die Taliban hätten sich im Laufe der Zeit ihrer Entfernung von der Macht „gemäßigt“, und es sei daher eine rationale Machtteilung mit ihnen möglich und erstrebenswert. Solches haltloses Wunschdenken half dabei, sich für den Tag, an dem man mit dem Verrat ernst machen würde, ein gutes Gewissen anzutrainieren.
Jetzt aber hilft kein Wegsehen und kein Schönreden mehr. Das Gerede darüber, dass Afghanistan sowieso ein hoffnungsloser Fall sei, muss sich nun an dem manifesten Schicksal realer Menschen messen lassen, für die die Rückkehr der Taliban den Verlust ihrer Freiheit und Würde, und in großer Zahl ihres Leben bedeutet. Aus dem Abstraktum „Afghanistan“, für das es den Einsatz angeblich nicht mehr lohne, treten jetzt konkrete Einzelne mit Gesichtern und Namen hervor, deren Aussicht auf Knechtschaft, Folter und Tod man achselzuckend hinnimmt. Die ersten, die dabei über die Klinge springen werden, sind jene, die sich an vorderster Front und mit größter Opfebereitschaft für exakt die Werte eingesetzt haben, die dem Westen angeblich so heilig sind. Alle, die die Preisgabe Afghanistans herbeigeredet haben, trifft jetzt ein Wort Georg Büchners aus seinem Revolutionsdrama „Dantons Tod“: „Geht einmal Euern Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“
Die Preisgabe Afghanistans bedeutet für den Westen aber nicht nur einen moralischen Offenbarungseid. Auch machtpolitisch und strategisch ist das ein folgenschweres Desaster. Niemand wird dem Westen künftig noch irgendeine internationale Schutzverpflichtung und das Versprechen abnehmen, Menschenrechte zu verteidigen. Für die autokratischen Machthaber in Moskau und Peking ist dies ein weiterer Triumph, zielt ihre ganze Propaganda doch auf den Nachweis, dass die westliche Werte nichts als pure Heuchelei und die Zukunftsversprechen der in Wahrheit schwächlichen liberalen Demokratien bloße Trugbilder seien. Nicht von ungefähr haben sich Russland und China längst mit den Taliban auf gutem Fuß gestellt, schrecken sie für ihre übergeordnete Bestrebung, den Westen (namentlich die USA) globalpolitisch größtmöglich zu schwächen, doch vor keiner präzise kalkulierten Mesalliance zurück. Die strategische Selbstentmachtung des Westens am Hindukusch können sie als einen weiteren bedeutenden Erfolg auf dem Weg zu der von ihnen erstrebten antiliberalen Weltordnung verbuchen, in der sich enthemmte Gewalt und Verbrechen auszahlen – ein Prinzip, in dem sie mit den Taliban nahtlos übereinstimmen.
Aber wie oft ist all das, namentlich im Streit mit vermeintlichen globalstrategischen „Realisten“, schon gesagt und prognostiziert worden, und wie schwer fällt es zunehmend, es nun erst recht immer wieder sagen zu müssen! Angesichts des Grauens, das jetzt über Afghanistan kommt, gehen einem die Worte aus. Und es bleibt nur Fassungslosigkeit.
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Wie WICHTIG DOCH LEUTE WIE SIE SIND!!, DINGE BEIM NAMEN NENNEN, DER REALITAET INS AUGE SEHEN WENNGLEICH DAS DIE GRAUSAMKEIT NICHT SCHMÄLERN KANN DOCH WENIGSTENS BENANNT!
Leider ein nur allzu wahrer, zutreffender Kommentar – in jeder Hinsicht.
Die „westliche Welt“, insbesondere die Amerikaner, Deutschen, und andere Europäer haben sich ganz klar der fahrlässigen Tötung, bzw. der billigenden Inkaufnahme des Massenmordes an der afghanischen Bevölkerung durch die Taliban schuldig gemacht. Das ist die Toleranz des Völkermordes, den die Taliban in ihrer grenzenlosen Verachtung jeglicher mitmenschlichen Regung unter grausamster Brutalität gnadenlos ausüben, und sie blicken hohnlachend voller Verachtung auf die „Nato-Verbündeten“, die sich klammheimlich durch das Hintertürchen aus dem Lande Afghanistan davonschleichen…….
Um es mit den Worten Jesu in der Bibel zu kommentieren: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.
Der Schlußsatz sollte eigentlich lauten: „Herr, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun“. Hier irrt also die Bibel.
Dieser Rückzug ist eine Schande für die Europäer. Die nach Europa strebenden Flüchtlinge , die vor entsetzlichen Grausamkeiten nun fliehen müssen , sind dringend aufzunehmen ,auch wenn in ihrem schutz ex talibans die Reise ins gelobte land antreten werden.
Ich bin ebenfalls fassungslos. Ich bin tief beunruhigt angesichts der Tatsache, dass sich der Westen und die USA von einer verantwortlichen Geopolitik verabschiedet haben. Gnade uns Gott
Auch ich stimme dem Autor zu, der überhastete Rückzug ist eine menschliche, militärische und geopolitische Katastrophe. Er scheint für die „ Schurkenstaaten“ mit ihren sekundär profitierenden Unterstützern ( China und Russland) ein willkommenes Geschenk zu sein. Aber es sind weiterhin viele Unbekannte im Spiel.
Für mich war das „Welt“- Interview mit 4 -Sterne- General Domröse sehr aufschlußreich: der Hauptgrund des Totalkollaps der afghanischen Armee liegt in dem mangelnden Gefühl, einen schützenswerten Staat ( Heimatland) zu verteidigen. Das Staatskonstrukt Afghanistan ist eine englische Erfindung mit Grenzziehungen am Schreibtisch. Die Menschen fühlen sich viel mehr ihren Stämmen und Volksgruppen verbunden als so einem theoretischen Gebilde Staat oder Nation. Das selbe Dilemma legt m.E. In der Levante und grossen Teilen Afrikas vor, wo willkürliche Grenzziehungen zu immer schwärenden Konflikten fühen.
Fazit: wir werden wohl mit regionalen (War-) Lords, Stammesältesten o.ä. verhandeln und in Diplomatie und Kriegstechnik in diesen Regionen völlig umdenken müssen.
Aber allen heute klugen Kritikern ins Buch geschrieben: was hätte man vor 20 Jahren anders machen sollen? Geschichte wird nun mal nach vorn gelebt und nach hinten beurteilt….