Warum die „Ein-China-Politik“ keinen Sinn mehr ergibt

Hartnäckig hält sich im Westen die Fehleinschätzung, China könne als „Vermittler“ eines gerechten Friedens für die Ukraine gewonnen werden. In Wahrheit ist das chinesische Regime der Hauptsponsor des russischen Vernuichtungskriegs gegen die Ukraine und der Schutzherr der antiwestlichen Kriegsachse Russland-Iran-Nordkorea. Um diese Aggression abzuwehren, müssen die westlichen Demokratien ihre Strategie gegenüber China grundlegend ändern. Dies bedeutet zuallerst, dass sie das demokratische Taiwan nicht länger wie einen Paria-Staat behandeln dürfen. Zumal die „Ein-China-Politik“, mit der diese Haltung begründet wird, in ihrer zentralen Prämisse obsolet ist.

Befürworter verstärkter „diplomatischer Bemühungen“ zur Beendigung des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine wiederholen meist gebetsmühlenartig, man müsse dazu enger mit China zusammenarbeiten.  

Doch weit davon entfernt, Russland von seinem Vernichtungskrieg abbringen zu wollen, agiert Peking als graue Eminenz und Sponsor der antiwestlichen Kriegsachse Russland-Iran-Nordkorea, indem es hinter den Kulissen dafür sorgt, dass sie ihren globalen Aggressionskurs gegen die demokratische Zivilisation mit voller Kraft vorantreiben kann. Zwar exportiert China keine Waffen für den Krieg gegen die Ukraine, dafür aber Vorprodukte und Maschinen, mit denen sich Waffen bauen lassen. Es ist chinesische Waffen- und Dual-Use-Technologie, die Russlands Kriegsmaschine am Laufen hält und dem Kreml die massive Aufrüstung für den von ihm bereits fest eingeplanten Krieg gegen die Nato ermöglicht.

Chinesische Technologie findet sich auch in iranischen Drohnen, die Moskau für sein Bombardement gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur einsetzt – und die vom Iran kürzlich auf Israel abgefeuert wurden. Nicht nur Russlands Krieg hat die Rückendeckung des Xi-Regimes, sondern auch die verschärfte Aggression Teherans sowie seiner Stellvertretertruppen Hamas und Hisbollah gegen den jüdischen Staat.  

China ist kein „Vermittler“

Hartnäckig aber hält sich im Westen die Illusion, dem chinesischen Regime sei primär an Frieden und Stabilität in der Welt gelegen, und es betrachte den russischen Kriegskurs daher zumindest mit Unbehagen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nichts passt Peking besser ins Konzept als dass seine Verbündeten an verschiedenen globalen Schauplätzen Kriege anzetteln, die den Westen in wachsende Bedrängnis bringen, ohne dass China selbst als militärischer Akteur in Erscheinung treten muss.

Dass der chinesische Staatschef für europäische Aufrufe zur Friedensstiftung nur Verachtung übrig hat, demonstrierte er bei seinem Besuch auf dem Kontinent in diesem Frühjahr. Schon die Auswahl seiner Reiseziele kam einer Demütigung der EU gleich. Außer in Frankreich, wo ihn Präsident Emmanuel Macron mit höchstem zeremoniellen Pomp empfing, machte Xi nur in Serbien und Ungarn Station, deren Regierungen die antiliberalen ideologischen Prämissen Pekings teilen. Den restlichen Europäern signalisierte Xi damit seine Absicht, Europa zu spalten, um es langfristig unter seine Kontrolle zu bringen – wofür er politische Stützpunkte auf dem Kontinent aufbaut. Mit Orbans Ungarn verfügt er dabei sogar schon über eine Einflussagentur innerhalb der EU.

In Paris ließ Xi Macron und die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit ihrer Forderung nach einem faireren Handelsgebaren Chinas sowie mit ihrem Wunsch nach einem größeren friedenspolitischen Einsatz Pekings kalt abblitzen – und konterte mit der Bemerkung, die EU solle nicht als Vasall der USA agieren. Eine Vorlage dafür hatte ihm Macron vergangenes Jahr mit seiner Äußerung gegeben, Europas strategische Interessen im indopazifischen Raum deckten sich nicht notwendigerweise mit denen der USA. Xi dürfte dies als Signal dafür verstanden haben, dass Europa den USA bei der Verteidigung des demokratischen Taiwan im Ernstfall einer militärischen Aggression Chinas die Unterstützung verweigern könnte.

Verschleiernde Sprache

Seine Parteinahme für den russischen Aggressor kleidet das chinesische Regime in eine systematisch verschleiernde Sprache. So erklärte der chinesische Staatschef bei seinem Besuch in Paris in Bezug auf die Ukraine, nötig sei ein „Dialog“ der Kriegsbeteiligten und die Schaffung „einer angemessenen, europäischen Friedensarchitektur.“ Da Europa in Wahrheit längst über eine solche Friedensarchitektur verfügt, kann dieses Statement nur eines bedeuten: China will die Machtverhältnisse in Europa im Sinne der revisionistischen, hegemonistischen Forderungen seines Alliierten Russland  verändern.

Chinas vermeintlicher „Friedensplan“ für die Ukraine dient nur dem propagandistischen Zweck, den Westen hinters Licht zu führen und sich gegenüber dem „Globalen Süden“ als der wahre Garant einer globalen Friedensordnung zu inszenieren. Das darin enthaltene Bekenntnis Pekings zum Prinzip der „territorialen Integrität“, das von viele Europäern für bare Münze genommen wird, ist so allgemein gehalten, dass es auch im Sinne Moskaus ausgelegt werden kann. Denn Russland hat große Teile der Ukraine annektiert und betrachtet es nun als sein Staatsgebiet, dessen „territoriale Integrität“ gegen ukrainische „Nazis“ und  den vermeintlich aggressiven „kollektiven Westen“ verteidigt werden müsse.

Bei seinem Besuch in Moskau Anfang vergangenen Jahres hatte Xi vor laufenden Kameras zu seinem „lieben Freund“ Putin gesagt: „In diesem Moment sehen wir Veränderungen, wie wir sie seit hundert Jahren nicht mehr gesehen haben. Und wir sind diejenigen, die diesen Wandel vorantreiben.“ Womit er nichts anderes meinte, als dass er den historischen Moment für die Zerstörung der bestehenden, von westlichen Werten geprägten Weltordnung für gekommen sieht.

Angriffsziel Taiwan

China agiert dabei vorerst noch im Hintergrund. Schon bald aber könnte es mit seiner zunehmend fadenscheinigen Camouflage als friedliebender „Vermittler“ endgültig vorbei sein. Dann nämlich, wenn Peking Taiwan angreifen und sich damit offen als kriegerischer Aggressor gegen die demokratische Welt sowie als expansive Macht mit totalitären Weltherrschaftsambitionen zu erkennen geben wird.

Im Schatten zahlreicher Weltkrisen hat die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf Taiwan zuletzt nachgelassen. Dabei ist die Bedrohung der demokratischen Inselrepublik durch das totalitäre China keineswegs geringer geworden. Im Gegenteil, Peking verstärkt seinen erpresserischen militärischen und politischen Druck auf Taiwan immer mehr.

Andere Länder im westpazifischen Raum, insbesondere die Taiwan benachbarten Inselstaaten Japan und Philippinen, fühlen sich vom chinesischen Expansionismus kaum weniger bedroht. Ein militärischer Angriff auf Taiwan würde so wahrscheinlich einen größeren regionalen Krieg auslösen, aus dem sich auch die USA nicht heraushalten könnten.

Westlicher Selbsthass

In Europa ist man auf ein solches Szenario jedoch kaum vorbereitet. Dabei steht die Konfrontation zwischen China und Taiwan exemplarisch für die sich weltweit zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus. Doch nicht nur deshalb sollten sich die westlichen Demokratien dem Inselstaat in Südasien intensiver zuwenden. Während die Demokratien in den USA und Europa von schweren Krisen und um sich greifenden Selbsthass erschüttert werden, steht das demokratische Leben in Taiwan in voller Blüte. Die westlichen Regierungen und Gesellschaften täten gut daran, sich von dem Stolz der Taiwaner auf die von ihnen erkämpfte freiheitliche Ordnung und von dem Enthusiasmus, mit dem sich dort zahllose zivilgesellschaftliche Initiativen für ihre Weiterentwicklung einsetzen, inspirieren zu lassen.

Doch bei der Entwicklung ihrer Beziehungen zu Taiwan legen sie weiterhin große Zurückhaltung und Distanz an den Tag – aus Angst, durch eine zu starke Annäherung gegen die „Ein-China-Politik“ zu verstoßen und damit den Zorn Pekings auf sich zu ziehen. Dabei wäre es höchste Zeit, diese Politik einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Denn die „Ein-China-Politik“ wurde in den 1970er Jahren von den westlichen Demokratien unter Voraussetzungen adaptiert, die heute längst nicht mehr gegeben sind.

Damals beanspruchte nämlich nicht nur das kommunistische Regime in Peking, sondern auch das Chiang Kai-sheks in Taipeh, die einzig legitime Vertretung der chinesischen Nation zu sein. Als die Volksrepublik Ende 1971 ihren Eintritt in die UN an die Bedingung knüpfte, dass ihr taiwanischer Antipode aus der Weltorganisation ausgeschlossen wird, musste sich der Westen zwischen den „zwei Chinas“ entscheiden. Zuerst die europäische Demokratien und etwas später auch die USA beugten sich dem Druck Pekings, brachen die offiziellen diplomatische Beziehungen zu Taiwan ab und erkennen es seitdem nicht mehr als selbstständigen Staat an.

Taiwan will nicht China sein

Doch von einem Anspruch Taiwans, ganz China zu repräsentieren, kann heute keine Rede mehr sein. Die taiwanische Demokratie macht der Volksrepublik diese Alleinvertretung schon längst nicht mehr streitig. Sie hat kein Problem damit, die Volksrepublik als das einzige China anzuerkennen – sie möchte nur eben kein Teil davon sein. Alles, was Taiwan von Peking verlangt, ist von ihm als eigenständiges Staatswesen respektiert und nicht länger mit einer gewaltsamen „Wiedervereinigung“ bedroht zu werden. Die überwiegende Mehrheit der Taiwaner, vor allem der jüngeren Generationen, versteht sich nämlich nicht mehr als Teil der chinesischen Nation, sondern definiert sich über eine eigene taiwanische Identität. Und tatsächlich: Nicht nur hat Taiwan niemals zu der 1949 gegründeten Volksrepublik China gehört. Es war auch schon zuvor lange Zeit politisch nicht mit dem chinesischen Festland verbunden.

Von 1895 bis 1945 stand es unter japanischer Fremdherrschaft. Die Kolonisatoren wollten die Taiwaner gewaltsam zu Japanern machen, wenn auch nur zu solchen zweiter Klasse. Nach der Niederlage des japanischen Kaiserreichs im Zweiten Weltkrieg brach in China der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten aus, der mit dem Sieg von Maos Roter Armee und dem Rückzug der besiegten Truppen Chiang Kai-sheks nach Taiwan endete, wo der nationalistische General eine brutale Diktatur errichtete – und damit faktisch eine weitere Fremdherrschaft.

Diese Diktatur wollte den Taiwanern nun wiederum alles Japanische austreiben und aus ihnen „echte“ Chinesen und Hüter jener traditionellen chinesischen Kultur machen, die in der Volkrepublik von den Kommunisten zerstört wurde. Dieses Regime herrschte mit Terror und jahrzehntelangem Kriegsrecht, bis sich die Taiwaner Ende der 1980er Jahre von ihm befreiten und das Land in eine Demokratie verwandelten.

Ex-Todfeinde verbrüdern sich

Erst jetzt konnten sie selbst entscheiden, wer und was sie sein wollen. Und das heißt für die überwältigende Mehrheit von ihnen: nichts anderes als Taiwaner. Dennoch lautet die offizielle Bezeichnung Taiwans noch immer „Republik China“, und auch seine Verfassung definiert die Nationalität des Landes weiterhin als chinesisch. Dies zu ändern, zöge vermutlich sofort eine gewaltsame Reaktion Pekings nach sich, das darin einen Akt der Abspaltung von dem „einen China“ sehen würde. Das chinesische Regime nötigt Taiwan somit dazu, formell eine nationale Identität beizubehalten, die es so nicht mehr will – und begründet mit dieser erzwungenen Kontinuität zugleich seinen Vorherrschaftsanspruch über das taiwanische Volk.

Allerdings gibt es in der Politik und Gesellschaft Taiwans auch Kräfte, die eher auf Kooperation und mit dem Regime in Peking setzen. Diese Linie vertritt vor allem die Kuomintang, die einstige Partei des Diktators Chiang Kai-shek, die sich dem kommunistischen Regime in Peking auf der Basis des von ihnen geteilten chinesischen Nationalismus angenähert hat. Heute denunzieren die ideologischen Todfeinde von einst gemeinsam das Unabhängigkeitsstreben Taiwans als „Separatismus“.

Doch auf Dauer kann Taiwan sein volles Selbstbestimmungsrecht nicht vorenthalten werden. Das Schicksal des gewaltsam gleichgeschalteten Hongkong zeigt, dass das von Peking propagierte Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ eine Falle ist. Taiwan kann und wird sich darauf niemals einlassen. Zwischen Totalitarismus und Demokratie gibt es kein Sowohl-als-auch, sondern nur ein Entweder-Oder.

Der Text basiert auf zwei Kolumnen, die zuest auf Ukrainisch hier und auf Deutsch hier erschienen sind

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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