8. Mai: Geschichte als Kriegswaffe des Putinismus

Zum Jahrestag der Kapitulation des deutschen Reichs und damit dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 ( nach russischer Lesart am 9. Mai) ist äußerste Wachsamkeit geboten. Die ideologischen Sturmtruppen des Putinismus von links bis rechts sowie die um Schwarzer und Wagenknecht gescharten „friedensbewegten“ Trommler/innen für die Kapitulation vor der russischen Aggression werden den Gedenktag massiv für ihre Bestrebungen nutzen, die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit im Sinne der Kreml-Kriegspropaganda zu beeinflussen.

Systematisch verfälschte Geschichte wird von Putins Russland schon seit vielen Jahren als ideologische Kriegswaffe eingesetzt. 2020 schrieb ich dazu in einem Essay: „Mit (…) skrupelloser wie trickreicher Entschlossenheit verfolgt Putin die Absicht, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg seinem neosowjetischen Geschichtsnarrativ zu unterwerfen – und sie zum Instrument der Durchsetzung seiner weltpolitischen Agenda zu machen. Russland, das sich auf diese Weise faktisch zum historischen Alleinerben der Siegermacht Sowjetunion aufschwingt, soll nach seinem Willen international als eigentliche Hauptkraft der Befreiung der Menschheit von der Geißel des Nationalsozialismus anerkannt werden. Dieser Nimbus dient dem Kreml dazu, nach innen seiner autoritären Herrschaft und nach außen der brachialen Gewaltpolitik, mit der er von der Ukraine bis Syrien seine globalen Machtansprüche durchsetzt, den Anschein historischer Legitimität zu verleihen.

Dazu muss Putin jedoch einen erheblichen Teil der historischen Wahrheit aus seinem Geschichtsbild tilgen. So etwa, dass der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 der NS-Kriegsmaschine den Weg zur Eroberung Polens geebnet hatte, wofür sich die Sowjetunion mit der Besetzung und brutalen Unterwerfung Ostpolens sowie der Annexion der baltischen Staaten schadlos hielt. Vergessen gemacht werden soll nach seinem Willen auch, dass Moskau bis zum Überfall Hitlers auf die Sowjetunion als dessen faktischer Verbündeter agierte und mit Rohstofflieferungen half, die NS-Kriegsmaschine am Laufen zu halten.

„Faschistischer Antifaschismus“

Ins historische Gedächtnis Putinscher Prägung passt auch nicht die Tatsache, dass die Sowjetunion ohne die massiven Rüstungslieferungen der Vereinigten Staaten im Rahmen von Roosevelts „Leih- und Pacht-Gesetz“ den Krieg gegen die NS-Invasoren kaum hätte durchstehen können.

Schon seit Langem nutzt der Kremlchef die Geschichtspolitik als Waffe in seinem hybriden Krieg gegen den Westen und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die er wieder unter die Kontrolle Moskaus zwingen will. Das hat vor allem die Ukraine zu spüren bekommen, deren Kampf für Unabhängigkeit und Demokratie von der Kremlpropaganda als das Werk von „Faschisten“ denunziert wird, die in der Kontinuität ukrainischer nationalistischer NS-Kollaborateure stünden. (Wobei Moskau verschweigt, dass es ebenso ein breites Spektrum an russischen Kollaborateuren gegeben hat.) Diese vermeintliche historische Kontinuität diente dem Kreml als Vorwand für die Annexion der Krim und für seine Invasion der Ostukraine.

Die ganze Perfidie dieser „antifaschistischen“ Camouflage des Kremls wird deutlich, wenn man bedenkt, dass er heute der wichtigste finanzielle, propagandistische und ideologische Förderer der extremen Rechten in Westeuropa ist. Putin und seine Desinformationsspezialisten haben damit ein neues Genre kreiert – den „faschistischen Antifaschismus“, wie der Historiker Timothy Snyder das Doppelspiel des Kremls charakterisiert hat: politische Gegner wahllos als „Faschisten“ zu brandmarken, zugleich aber gemeinsam mit real existierenden Faschisten und Neonazis gegen die liberale Demokratie Front zu machen.

Zynische Perversion

Mit dem völkermörderischen russischen Angriff auf die gesamte Ukraine, der am 24.2.22 begann, hat diese Instrumentalisierung des Gedenkens an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs eine neue Dimension zynischer Perversion erreicht. Moskau führt jetzt einen Vernichtungskrieg und begeht grauenvollste Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter dem Vorwand der „Befreiung vom Faschismus“ bzw. „Nazismus“. Die russische Propaganda- und Desinformationsmachinerie stellt diesen bestialischen Überfall auf ein friedliches, demokratisches Land als „Verteidigungskrieg“ in der Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieg“ dar.

Es ist daher von größter Bedeutung, dieser kriminellen Instrumentalisierung des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai mit allen Kräften entgegenzutreten. Das Bündnis Gedenken gegen den Krieg ruft in diesem Sinne zu Aktionen am 8. und 9. Mai auf und hat dazu ein Manifest veröffentlicht, das ich im folgenden dokumentiere. Das Manifest kann hier unterschrieben werden.

Das Bündnis wird am 8. und 9. Mai zwei Tage lang im Berliner Treptower Park ein kleines Zeltlager mit Ausstellungsmaterial, einer Bühne für Performances und verschiedenen interaktiven Programmen aufbauen. Möglichst zahlreiche weitere Aktionen sollten hinzukommen. Es kommt darauf an, das Stadtbild in der Hauptstadt an diesen Tagen nicht den Helfershelfern der russischen Kriegspropaganda zu überlassen.

Ein Hinweis noch: Das Land Berlin prüft derzeit, ob wie im Vorjahr eine „Allgemeinverfügung“ erlassen wird, derzufolge bei Kundgebungen zum 8. Mai die Verwendung nicht nur russischer, sondern auch ukrainischer Symbole verboten ist. Gegen die drohende Wiederholung dieser skandalösen Maßnahme in diesem Jahr ist schärfster Protest angezeigt. Dazu hatte das Bündnis Gedenken gegen den Krieg am 7.5.2022 eine Stellungnahme veröffentlicht, die vollumfänglich gültig bleibt – zu lesen hier: „Verbot der ukrainischen Flagge aufheben!

Manifest des Bündnisses Gedenken gegen den Krieg zum 8. und 9. Mai:

Im Vorfeld des nahenden Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 8./9. Mai 2023 erklären wir, die Beteiligten des Bündnisses “Gedenken gegen den Krieg”, dass das Gedenken an die Ereignisse, Verbrechen, Opfer und den heroischen Widerstand, die 80 Jahre zurückliegen, heute, während der andauernden militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, nicht möglich ist, ohne die Parallelen zu den Verbrechen und Zerstörungen sowie dem Widerstand, die gerade jetzt in der Mitte Europas vor unseren Augen stattfinden, zu ziehen. Das gilt auch umgekehrt: Russlands großflächiger Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 steht in direktem Zusammenhang mit der Art und Weise, wie der Sieg über den Faschismus im Mai 1945 in der sowjetisch-russischen Geschichtsschreibung gedeutet wurde. Das Verschweigen von Kriegsverbrechen aufseiten der siegreichen Armee und der Militärführung der UdSSR, die bewusste Geringschätzung der Rolle der westlichen Alliierten und der Tatsache, dass die Rote (Sowjetische) Armee multinational war, die Verherrlichung militärischer Aktionen und die damit einhergehende Verdrängung der Fakten von Zerstörung, Menschenopfern und -leid sind nur einige Beispiele für die Instrumentalisierung der Geschichte zugunsten einer gegenüber der Außenwelt zunehmend aggressiven Ideologie. Im Ergebnis hat sich die Feier des siegreichen Kriegsendes in Russland in den Jahren vor dem umfassenden Einmarsch in die Ukraine durch den Siegeskult vollständig in einen Kult des Krieges verwandelt.

Vor 80 Jahren führte Nazi-Deutschland im Osten Europas einen Vernichtungskrieg. Seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Donbass-Krieges in 2014 versucht Russland nicht nur, der Ukraine ihre Territorien wegzunehmen, sondern sie auch als unabhängigen Staat und das ukrainische Volk als Nation zu vernichten – eine Idee, die in den letzten Monaten von hochrangigen Regierungsvertretern Russlands offen geäußert wird. Mehr noch, das Putin-Regime hat nicht vor, bei der Ukraine haltzumachen. Sein Ziel ist es, die internationale, auf Rechtsstaatlichkeit basierende Weltordnung zu zerstören und durch eine zu ersetzen, in der das Recht des Stärkeren gilt. Dies darf ihm nicht gelingen.

Deswegen müssen die Bemühungen aller demokratischen Staaten heute darauf gerichtet sein, die Ukraine in ihrem Befreiungskampf mit allen verfügbaren legalen Mitteln, einschließlich schwerer Waffen, bis zur vollständigen Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität in den Grenzen von 1991 zu unterstützen. Es reicht in dieser Lage nicht mehr aus, den Krieg allgemein zu verurteilen und für den Frieden einzutreten, ohne konkret zu benennen, wie er erreicht werden könnte: Auf dem Spiel stehen die Freiheit und der gerechte, dauerhafte Frieden in ganz Europa.

Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen sind in Deutschland häufig zu hören. Das Problem ist jedoch, dass es sinnlos ist, sie an die deutsche oder ukrainische Regierung zu richten. Die Aggression geht von Moskau aus, und nur dort kann sie sofort beendet werden. Die Forderung, die Militärhilfe für die Ukraine einzustellen, bedeutet wiederum nichts anderes, als zuzulassen, dass die Ukraine, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, aufhören wird, als souveräner Staat zu existieren, und die ukrainische Bevölkerung noch mehr Gewalt und Terror ausgesetzt sein wird, als es in den besetzten Gebieten bereits der Fall ist.

Wir, die Mitglieder des Bündnisses, verurteilen solche Forderungen aufs Schärfste und sind der Überzeugung, dass es im Interesse der gesamteuropäischen Sicherheit liegt, die humanitäre, wirtschaftliche und militärische Unterstützung für die Ukraine noch mehr zu verstärken, da dies derzeit der einzige wirksame Weg ist, um der russischen Aggression zu widerstehen sowie den Aggressor zur Aufgabe seiner imperialen Bestrebungen zu zwingen.

Die Verantwortung, die für uns alle aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges erwächst, besteht nicht zuletzt darin, die Aufarbeitung der damaligen Verbrechen fortzusetzen und sie auf die neuen Verbrechen auszuweiten, die derzeit täglich entstehen. Sie müssen umfassend dokumentiert, juristisch, politisch und historisch bewertet und vor einem internationalen Tribunal geahndet werden. Denn Straflosigkeit von schwersten Menschen- und Völkerrechtsverletzungen trägt den Keim weiterer Kriege in sich. Die Herstellung von Gerechtigkeit ist somit ein unverzichtbarer Teil der künftigen Sicherheit und Friedensordnung in Europa.

***
Am 8. und 9. Mai laden wir Organisationen, Vereine, Stiftungen, Gruppen, Kollektive, Künstler:innen, Journalist:innen, alle diejenigen, die die Leitlinien des Manifests 2022 und dieses Aufrufs unterstützen, ein, sich aktiv an den Aktionen zum Ende des Zweiten Weltkriegs an einem der Gedenkorte in Berlin zu beteiligen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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