Taiwan und Ukraine: Eine Schicksalsgemeinschaft

Taiwan und die Ukraine stehen in der vordersten Frontlinie bei der Verteidigung der demokratischen Welt gegen die Aggression der autokratischen Mächte China und Russland. Doch sie haben auch darüber hinaus einiges gemeinsam. Für die Zeitschrift „Internationale Politik“ habe ich dazu ein ausführliches Gespräch mit Jhy-Wey Shieh geführt. Das vollständige Interview im Rahmen meiner Analyse lesen Sie hier: Taiwans Freiheit und das ukrainische Fanal

Shieh firmiert offiziell als „Repräsentant der Taipeh-Vertretung“ in Deutschland. Als das, was er seit 2016 tatsächlich ist (und von 2007 bis 2009 schon einmal war), nämlich der Botschafter des demokratischen Taiwan, darf er sich nicht offiziell bezeichnen. Denn die westlichen Demokratien halten sich weiter an die „Ein-China-Politik“, mit der sie dem totalitären Regime in Peking die Alleinvertretung der chinesischen Nation zugestehen, und die ihnen die staatliche Anerkennung Taiwans untersagt. Ein Zustand, der längst anachronistisch geworden ist.

Denn das demokratische Taiwan erhebt, anders als einst das diktatorische Regime von Chiang Kai-shek, längst nicht mehr seinerseits den Anspruch, die einzig wahrhaft legitime Regierung Chinas zu stellen. Das freie Taiwan will von China nichts anderes als von ihm in Frieden gelassen werdenund von der Weltgemeinschaft, endlich in seiner Eigenständigkeit respektiert zu werden. Ein Teil der Volksrepublik China ist die von Peking so titulierte „abtrünnige Provinz“ jedenfalls niemals gewesen.

Gegen Wunschdenken

Mit Shieh hat die Inselrepublik einen intellektuell versierten wie unkonventionellen Kopf als Ansprechpartner für die deutsche Politik und Öffentlichkeit. Er ist kein Karrierediplomat, sondern von Haus aus Professor der Germanistik und daher ein exzellenter Kenner deutscher Literatur und Kulturgeschichte. Er hat sich im Widerstand gegen die Kuomintang-Diktatur und nach deren Ende 1987 in verschiedenen Funktionen für die rasch aufblühende taiwanische Demokratie engagiert. Früher betätigte sich der 68-Jährige zudem als Liedermacher und sogar als Rapper, wofür er heute allerdings zu seinem Bedauern keine Zeit mehr findet.

Die lnvasion Taiwans durch das totalitäre China sei keine Frage mehr des Ob, sondern nur noch des Wann und Wie, sagt Jhy-Wey Shieh. Doch er rechnet für diesen Fall fest mit dem aktiven militärischen Eingreifen der USA und ihrer pazifischen Verbündeten, an erster Stelle Japans. Auch Europa müsse sich aber auf den Ernstfall vorbereiten, statt die Gefahr zu verdrängen und sich Wunschdenken hinsichtlich der Rationalität und Kooperationsbereitschaft des chinesischen Regimes hinzugeben. Shieh hat aber nicht nur klare und schonugslose globalstrategische Einschätzungen zu bieten, sondern äußert sich auch zu den historischen und kulturellen Hintergründen der besonderen Situation Taiwans und zu dem engen politischen und emotionalen Verhältnis seines Landes zur Ukraine – wohl wissend, wie viel von dem Erfolg des heroischen Widerstands der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen die russischen Invasoren auch für die Zukunft Taiwans abhängt. Hier die diesbezüglichen Passagen aus meinem Gespräch mit dem Botschafter, der offiziell keiner sein darf.

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Frage: Welche Bedeutung hat der erfolgreiche Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasoren für Taiwan? Wartet Xi den Kriegsverlauf ab, um sich für den Fall eines Sieges der Ukraine mit den eigenen Angriffsplänen zurückzuhalten?

Jhy-Wey Shieh: Theoretisch ist das natürlich möglich. Aber so wie ich die chinesischen Kommunisten einschätze, glaube ich eher an das Gegenteil: Xi studiert und analysiert die Fehler und Schwachstellen des russischen Angriffskriegs, um daraus für seine eigene Invasion zu lernen. Zu glauben, dass sich China durch einen ukrainischen Sieg von einer Aggression abhalten lässt, wäre wieder ein Wunschdenken. Darauf können wir Taiwaner uns nicht verlassen. Dennoch ist es von großer Bedeutung, dass es der Ukraine mit westlicher Hilfe auf so bewundernswerte Weise gelungen ist, die Russen zurückzudrängen.  Dies beinhaltet eine wichtige Lehre, die auch auf die Bedrohung durch China anwendbar ist: Wenn man konzentriert und geeint auf die Aggression einer bösartigen Macht reagiert, zahlt sich das aus.

Wie eng fühlt sich Taiwan mit der Ukraine verbunden? Was tut Taiwan praktisch, um die Ukraine zu unterstützen?

Die Verbundenheit ist sehr eng. Schon eine Woche nach dem Beginn der Invasion am 24. Februar haben wir 28 Tonnen an Medikamenten zur Verfügung gestellt und über Deutschland und Polen in die Ukraine geschickt. Und aus der Zivilgesellschaft sind spontan Millionen an Spendengeldern und tonnenweise Hilfsgüter zusammengekommen. Taiwan gehört zu den Staaten, die am schnellsten Hilfe für das überfallene Land organisiert haben. Und jüngst hat unser Parlament einen Etat von umgerechnet 60 Millionen Euro für die Ukraine bewilligt, die vor allem ihrem Wiederaufbau zugutekommen sollen. Wir unterstützen übrigens auch Polen und andere Länder finanziell, die besonders viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben. Diese starke Solidarität der Taiwaner wächst aus dem Empfinden, mit der Ukraine in einer Schicksalsgemeinschaft zu stehen. Durch den Angriff auf sie fühlen wir uns mit angegriffen.

Die Ukraine ist angesichts der russischen Aggression als Nation geeint wie nie zuvor. Aber wie einig sind die Politik und Gesellschaft Taiwans in ihrer Haltung gegenüber China tatsächlich? Es gibt doch auch Kräfte, die eher auf Kooperation mit dem Regime in Peking setzen …

Da haben Sie leider recht. Die Kuomintang (KMT), einst die Partei des Diktators Chiang Kai-shek, hat sich ihrem früheren Todfeind, dem kommunistischen Regime in Peking, das sie nach Taiwan gejagt hatte, angenähert. Die Basis dafür ist ihr gemeinsamer chinesischer Nationalismus, aus dem sie die Denunziation des Unabhängigkeitsstrebens Taiwans als Separatismus ableiten. Das wurde deutlich, als der Parteichef der KMT zu seiner Wahl im vergangenen Jahr ein Glückwunschschreiben von Xi Jinping erhielt, in dem dieser das gute Verhältnis zwischen China und Taiwan während der Regierungszeit der KMT bis 2016 lobte. In seinem Dankesbrief an Xi stimmte der Parteichef dem nicht nur zu; er erklärte sogar, Peking und die Kuomintang müssten gemeinsam die separatistischen Tendenzen in Taiwan bekämpfen. Und das geschah, während China Taiwan mit Manövern vor seinen Küsten und Überflügen von Kampfjets einzuschüchtern versuchte!

Die KMT stellt also die Nation über die Demokratie?

Ich will nicht bezweifeln, dass auch sie Menschenrechte und Demokratie anerkennt. Aber ich fürchte, sie hat bis heute nicht vollständig verinnerlicht, wie weit sich Taiwan demokratisiert hat. Für etwa 80 Prozent der Taiwaner, und gewiss für die unter 40, ist an den hart erkämpften Errungenschaften der taiwanischen Demokratie nicht zu rütteln. Doch auch 20 Prozent, die das anders sehen, sind ein Problem, wenn viele von ihnen einflussreiche Positionen in Staat und Gesellschaft besetzen

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Nicht nur die akute Bedrohung durch aggressive feindselige Nachbarn bindet indes die Ukraine und Taiwan aneinander. Beide wollen unwiderruflich kein Objekt imperialer Mächte mehr sein, die ihnen gewaltsam nicht nur das Recht auf Staatlichkeit, sondern auch die pure Existenz einer eigenen nationalen Identität absprechen. So wie die Ukraine nicht länger als ein Anhängsel Russlands betrachtet werden will, so Taiwan nicht länger als ein Wurmfortsatz Chinas. Dabei ist das Bekenntnis zur Demokratie heute konstitutiv für ihre Selbstfindung als Nation. Beim Aufbau einer stabilen rechtsstaatlichen und pluralistischen demokratischen Ordnung ist Taiwan der Ukraine bereits ein ganzes Stück voraus und kann für sie in diesem Sinne wegweisend sein. Dazu noch einmal Jhy-Wey Shieh:

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Frage: Wie hat es Taiwan von einer Diktatur zu einer funktionierenden Demokratie geschafft, die weltweit als vorbildlich gelten kann?

Jhy-Wey Shieh: Das hat viel mit der besonderen historischen Erfahrung der Taiwaner zu tun. Von 1895 bis 1945 stand Taiwan unter japanischer Fremdherrschaft. Die Taiwaner sollten gewaltsam zu Japanern gemacht werden, allerdings nur zu solchen zweiter Klasse. Die Diktatur Chiang Kai-sheks wiederum wollte ihnen alles Japanische austreiben und man verlangte nun von ihnen, Chinesen zu sein. Das Ausmaß des Terrors, mit dem dies unter der KMT-Diktatur und jahrzehntelangem Kriegsrecht durchgesetzt werden sollte, ist bis heute nicht vollständig aufgearbeitet. Vom Ende der japanischen Kolonisierung hatten sich die Taiwaner Befreiung erhofft, doch stattdessen gerieten sie unter eine neue Fremdherrschaft, kamen sozusagen vom Regen in die Traufe.

All das hat in den Taiwanern einen tiefsitzenden Widerstandsgeist erzeugt, der sie dazu befähigte, schließlich die Demokratie zu erkämpfen, um sie dann immer weiter zu festigen und auszubauen. Nachdem sie fast zwei Jahrhunderte lang in unterschiedliche nationale Identitäten gepresst wurden, ermöglicht es ihnen nur die Demokratie, endlich selbst zu entscheiden, wer und was sie sein wollen. Und das heißt für die überwältigende Mehrheit von ihnen heute: nichts anderes als Taiwaner.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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