Linker Antisemitismus: Seine Wurzeln und Aktualität

Die Debatte über Antisemitismus von links nimmt Fahrt auf. So geht die Diskussion über die bei der Dokumenta 2022 gezeigte, „antiimperialistisch“ getarnte antisemitische Kunst in die nächste Runde. Und damit die über die Versuche zur Relatvierung des Holocaust unter der Fahne des „Postkolonialismus“. Zugleich monierte die Autorin und Dramaturgin Stella Leder jüngst, dass es für die Judenverfolgung im Nachkriegseuropa hierzulande keinerlei „Gedenkkultur“ gibt. Diese Verfolgung fand in der Sowjetunion sowie in kommunistischen Staaten wie der CSSR und Polen, aber auch in der DDR statt – unter dem Vorzeichen des“Antifaschismus“ und dem Vorwand des „Antizionismus“.

In dieser perfiden Tradition führt heute das putinistische Russland einen genozidalen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine im Namen des „Aninazismus“. Zu wenig Beachtung findet dabei in der westlichen Öffentlichkeit, dass dies mit einer drastischen Zunahme von Antisemitismus in der russischen Gesellschaft und verschärfter antisemitischer Propaganda des russischen Regimes verbunden ist. Der in den Westen geflüchtete Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt bezeichnet das jüdische Leben in Russland als massiv bedroht.

Unterdessen hat Ron Prosor, der Botschafter Israels in Deutschland, kürzlich davor gewarnt, dass „die Grenzen sich Stück für Stück verschieben und der Links-Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft ankommt“ – im Gegensatz zum Antisemitismus von rechts, der in Deutschland adäquat bekämpft werde. So sehr man Letzteres anzweifeln kann, so begründet ist doch die Befürchtung des Botschafters, dass Antisemitismus unter einer „linken“ Tarnkappe imer mehr salonfähig wird. Beunruhigend ist indes vor allem, dass die rechte und linke Variante des Antisemitismus zunehmend ineinander verschmelzen.

Als Hintergrund und zur ideengeschichtlichen Einordnung diesen Debatten hier im Folgenden der Text eines Vortrags, den ich im August 2021 im Rahmen einer Veranstaltungsreihe über Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus, ausgerichtet vom Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas, der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und der Moses-Mendelssohn-Stiftung, gehalten habe.

Eine der hartnäckigsten identitätsstiftenden Legenden der Linken besagt, der Antisemitismus sei ausschließlich eine Erscheinungsform rechter Ideologie. Ein überzeugter Linker kann dieser Auffassung nach per definitionem kein Antisemit sein, setze er sich doch für die Emanzipation und Gleichheit aller Menschen ein. In Wahrheit aber ist zumindest latente Judenfeindschaft, die sich heute vor allem in einer obsessiven Verurteilung Israels ausdrückt, in der sozialistischen Ideologiegeschichte strukturell angelegt.

Die Ursprünge dieser unseligen Tradition gehen bereits auf das 18. Jahrhundert, auf die Blütezeit der Aufklärung zurück. Die Juden fanden sich seitdem im Fadenkreuz von Ressentiments aus zwei entgegengesetzten historischen Lagern wieder – dem der Gegenaufklärer und Anhänger des Ancien Regimes (das ich hier der Vereinfachung halber als „rechts“ kennzeichne, obwohl diese Bezeichnung im 18. Jahrhundert noch ebenso wenig gebräuchlich war wie „links“)  auf der einen, und dem des aufklärerischen Geistes, der die ideellen Grundlagen für die Französische Revolution von 1789 legte, auf der anderen.

So hegte kein geringerer als der große Freiheitsphilosoph Voltaire heftige antijüdische Affekte – freilich aus dem umgekehrten Motiv wie dem der Verteidiger der alten Ordnung. Von „Rechts“ her, vonseiten der Gegenaufklärung, ging der traditionelle christliche Antijudaismus nahtlos in die Anklage über, die Juden seien als „zersetzendes“, wurzelloses Element für die Auflösung der „natürlichen“ hierarchischen Ordnung der Gesellschaft verantwortlich. Aufklärer wie Voltaire hingegen bezichtigten das Judentum, starrsinnig an einem archaischen Gottesglauben (für ihn ein „verachtenswertester Aberglaube“) festzuhalten und damit eine Quelle des antiaufklärerischen Obskurantismus zu sein. Er verunglimpfte die Juden als ein „ungebildetes und barbarisches Volk“ und unterstellte ihnen niederste Habsucht sowie unstillbaren Hass gegen eben jene Völker, von denen sie „geduldet“ würden.

Unter doppeltem Feuer

Es zeichnete sich so eine Art „Arbeitsteilung“ in Sachen Judenfeindschaft ab: Dem rechten Antijudaismus galt das Judentum forthin als Urheber und Motor der verhassten aufklärerischen Moderne, dem linken hingegen als ein Hort der reaktionären, den historischen Fortschritt blockierenden Antimoderne. So etwas nennt man auf Englisch: „Shot by both sides“.

Dabei haben die Juden ihre staatsbürgerliche Gleichstellung  – für die ungeachtet seiner antijüdischen Affekte auch Voltaire eintrat – zweifellos in hohem Maße dem Wirken der Aufklärung zu verdanken. Überhaupt möchte ich an dieser Stelle deutlich machen: Obwohl Herabwürdigungen des Judentums bei aufklärerischen Autoren weit verbreitet waren, schließe ich mich nicht der These an, Antijudaismus sei für die Aufklärung konstitutiv. Ins Visier Voltaires etwa geriet das Judentum im Zuge seiner allgemeinen Religionskritik sowie als Vorläufer und Quelle des Christentums, dessen Glaubenslehre er dekonstruieren wollte. So abstoßend seine Auslassungen über die Juden auch sind, so wenig stand der Judenhass im Vordergrund seines Denkens. Eine gezielt antijüdische Doktrin leitete er daraus nicht ab, und er sprach sich explizit gegen Judenverfolgungen aus. Nicht um eine pauschale Verdammung aufklärerischen Denkens als „prä-antisemitisch“ geht es mir hier also, sondern darum, auf in ihm enthaltene judenfeindliche Denkschablonen und Vorurteilsstrukturen aufmerksam zu machen, die sich in der „aufgeklärten“ Linken zu ideologischen Mustern verfestigen sollten.

Denn vielfach wurde die Judenemanzipation von aufklärerischer Seite mit der Erwartung verbunden, nach ihrer Befreiung aus dem Ghetto würden sich die Juden über kurz oder lang von ihrer jahrtausendealten religiösen und kulturellen Identität verabschieden und in der egalitären Gesellschaft beziehungsweise (um die ab dem 19.Jahrhundert gültige sozialistischen Terminologie zu paraphrasieren) in der Klassenfront der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufgehen. Dass dies nicht eintrat, führte zu verstärkten Aversionen gegen die jüdische Gemeinschaft auch im „fortschrittlichen“, linken Lager

„Sozialismus der dummen Kerls“?

Selbstredend waren und sind nicht alle Linken gleichermaßen für antijüdische Stereotype anfällig. Doch gerade die Überzeugung, die richtige „progressive“ Gesinnung immunisiere per se gegen Antisemitismus, bot und bietet diesem bis heute ein Einfallstor, sich auch im linken Spektrum festzusetzen. Und generell ist festzustellen, dass die sozialistische Bewegung dem Kampf gegen den Antisemitismus nie eine besondere Bedeutung zugemessen, sondern ihn allenfalls als eine eher kuriose Randerscheinung des umfassenden „falschen Bewusstseins“ in der kapitalistischen Gesellschaft betrachtet hat. So liegt in dem berühmten und in sozialistischen Kreisen beliebten Satz, nach dem der „Antisemitismus der Sozialismus des dummen Kerls“ sei – er wird oft fälschlicherweise August Bebel zugeschrieben, stammt in Wirklichkeit aber wohl von einem österreichischen linken Abgeordneten -,  eine Abwertung der Bedeutung des Antisemitismus zu einer Art Ablenkungsmanöver der herrschenden Klasse vom Wesentlichen. Der Satz beinhaltet zudem die Suggestion, dass im Antisemitismus irgend ein Körnchen Wahrheit stecke. Denn damit ihn Dumme für Sozialismus halten können, müsste es folglich zwischen diesem und dem Antisemitismus doch eine gewisse Ähnlichkeit geben.

Dabei ist die erste rassenantisemitische Organisation in Deutschland  – die „Antisemitenliga“ – 1879 von einem radikalen Demokraten mit anarchistischen Tendenzen gegründet worden, der während der 1848er-Revolution zur äußersten Linken gehört hatte: dem Publizisten Wilhelm Marr. Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon hatte schon Jahre zuvor sogar die physische Ausrottung der Juden propagiert. „Man muss diese Rasse nach Asien verweisen oder vernichten. Durch das Eisen oder durch das Feuer oder durch die Ausweisung ist es notwendig, dass der Jude verschwindet“, schrieb er 1847 in seinen Notizbüchern.

Ein derartiger eliminatorischer Antisemitismus lag Karl Marx, dessen Briefe von judenfeindlichen (und rassistischen) Ausfällen und Negativklischees strotzen, zwar fern. Doch in seiner 1844 erschienenen Abhandlung „Zur Judenfrage“ setzte er das Judentum mit der Anbetung des Geldes gleich und schlussfolgerte, mit der Aufhebung der Kapitalherrschaft werde auch das Judentum verschwinden. Oder, wie es in der Orakelsprache seiner „Dialektik“ heißt: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“

Antisemitismus und Antikapitalismus

Die Juden als nicht eindeutig definierbare und in keine der gängigen historischen Kategorie einzuordnende Gruppe – weder lässt sich das Judentum im Begriff des Volkes oder der Nation, noch dem einer Religionsgemeinschaft, und schon gar nicht dem einer sozialen Klasse vollständig erfassen – standen quer zu den Rollenzuweisungen im Szenario der sozialistischen Heilsgeschichte. Ihr eigensinniger „Partikularismus“ wurde ihnen als reaktionäre Verweigerung der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit des historischen Fortschritts, ihre grenzüberschreitende Vernetzung als Unterminierung geschlossener, nach der marxistischen Theorie historisch „progressiver“ Gebilde wie dem Nationalstaat verübelt und mit der vermeintlich entfremdenden, vereinzelnden Wirkung der Geldherrschaft in Verbindung gebracht

Paradoxerweise nahmen die antijüdischen Vorbehalte von links eher noch zu, seit sich vom Ende des 19. Jahrhunderts an der Zionismus daran machte, den aus linker Sicht historischen “Defekt” der Juden – ihre Heterogenität und definitorische Ungreifbarkeit – zu beseitigen, indem er ihre Formierung zu einer modernen Staatsnation in Angriff nahm. Längst hatte die Linke für das Judentum nämlich die Bestimmung vorgesehen, sich am sozialistischen Sankt-Nimmerleins-Tag dankbar in der durch die proletarische Weltrevolution erlösten, geeinten Menschheit aufzulösen.

Die Assoziation von Juden und Kapital machte die Linke anfällig für die Übernahme  antisemitischer Klischees, wenn auch in der Regel nicht von solchen mit rassebiologischen Implikationen, wie sie sich in der extremen Rechten durchsetzten. Nach der Gründung des Sowjetstaats kam der Verdacht hinzu, die Juden fungierten als wurzellose Agenten des ausländischen Klassenfeinds, denen es an Loyalität gegenüber dem sozialistischen Vaterland und der in ihm angeblich herrschenden proletarischen Klasse fehle. Die letzte von Stalin geplante große Säuberung sollte die Juden wegen ihres vermeintlich zersetzenden „Kosmopolitismus“ treffen. Ins Visier Stalins gerieten als erstes jüdische Ärzte, doch nach dem Tod des Despoten wurde die Kampagne von seinen Nachfolgern gestoppt. Doch nicht nur in der Sowjetunion, auch in ihren osteuropäischen Satellitenstaaten hatte die pauschale Verdächtigung der Juden als verkappte „Zionisten“ jedoch bereits üble Folgen gezeitigt. So wurden 1952 in der Tschechoslowakei 14 führende KP-Funktionäre, darunter elf jüdischer Herkunft, einer „trotzkistisch-titoistisch-zionistischen Verschwörung“ bezichtigt und in einem Schauprozess, bekannt geworden als „Slansky-Prozess“, abgeurteilt. Elf Angeklagte wurden hingerichtet, drei erhielten lebenslange Haft.

Krieg gegen Israel

Hatte die Sowjetführung der Gründung des Staates Israel dabei zunächst positiv gegenübergestanden, weil sie in ihm eine, primär gegen das britische Empire gerichtete, „antikolonialistische“ Kraft sah, so änderte sich dies rasch, als sich der jüdische Staat den westlichen Demokratien, namentlich den USA, zuwandte und der aufkommende arabische Nationalismus den Kommunisten als  Alliierter gegen den „US-Imperialismus“ erschien. Als dessen Speersitze im Nahen Osten wurde nun Israel bekämpft – was in den kommunistischen Staaten nach dem Sechstagekrieg 1967 erneut heftige antisemitische Kampagnen nach sich zog.

Diese fielen in der DDR zwar weniger offen und drastisch aus als in der Sowjetunion und „Bruderländern“ wie den „Volksrepubliken“ Polen und Ungarn. Die wenigen und sehr kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR wurden von den Machthabern eher ignoriert und isoliert als systematisch drangsaliert. Dafür tat sich das SED-Regime jedoch mit besonderem Eifer bei der Bekämpfung  Israels hervor – jenes Staats, der den Juden nach der Schoa Schutz und Zuflucht garantierte. Der US-Historiker Jeffrey Herf, der das Ausmaß der Beteiligung der DDR an den „unerklärten Kriegen gegen Israel“ untersucht hat , die die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten seit dem Sechstagekrieg mit verstärkter Intensität führten, hat aufgezeigt, dass der SED-Staat darin eine über das vom Kreml geforderte Maß hinausgehende Schlüsselrolle spielte.

Dabei unterstützte die DDR primär gerade solche arabische Regime, die sich gegenüber Israel besonders aggressiv positionierten, wie dem von Hafis al-Assad in Syrien und dem von Saddam Hussein im Irak. Die Unterstützung dieser mörderischen Diktaturen sowie verschiedener palästinensischer Terrororganisationen durch die DDR umfasste logistische Hilfestellung, Ausrüstung und Ausbildung von Militär und Geheimdiensten. Die Feindseligkeit des SED-Regimes gegen Israel ging damit weit über bloße allgemeine Propaganda gegen den verhassten „Zionismus“ hinaus. Zum zweiten Mal hat damit, so Herf, eine deutsche Regierung eine Politik verfolgt, „die in beträchtlichem Ausmaß Tod, Schaden und Leid über Juden brachte“. Wenn die Folgen dieser Politik auch nicht annähernd mit dem Holocaust vergleichbar sind – dass sie nach der Erfahrung dieses beispiellosen Menschheitsverbrechens von einem deutschen Staat betrieben wurde, macht ihre besondere Ungeheuerlichkeit aus.

Die DDR-Führung störte dabei nicht, dass viele der arabischen Führer, die Israel auslöschen wollten, keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für Hitler und die NS-Judenvernichtung machten. Und dass mit ihr verbündete arabische Regime NS-Kriegsverbrechern bewusst Unterschlupf gewährte. So konnte sich der damals international meistgesuchte Nazi-Mörder, Alois Brunner, der als SS-Hauptsturmführer die rechte Hand von Adolf Eichmann bei der Organisation der Deportationen in die Vernichtungslager war, bis zu seinem Tod in den 2000er-Jahren (das genaue Todesjahr ist ungewiss), durch das Regime geschützt und abgeschirmt in Syrien verbergen.

Hassobjekt Zionismus

Ideologisch zurechtgebogen wurde der Krieg gegen den jüdischen Staat von den Sowjets und ihren willfährigen Ostberliner Satrapen, indem man den Zionismus kurzerhand zu einer Form des „Rassismus“ und „Faschismus“ erklärte. In der aktuellen deutschen Diskussion spielt dieser noch wenig beleuchtete Teil der DDR-Geschichte kaum eine Rolle. Würde sich die Linke, und namentlich die Linkspartei, ihm heute ernsthaft stellen, könnte sie die Legende von der im Kern hehren „antifaschistischen“ Grundgesinnung, auf dem der SED-Staat aufgebaut gewesen sei, nicht aufrechterhalten – und damit auch nicht ihr eigenes Selbstverständnis, dieses vermeintlich ehrenwerte Vermächtnis weiterzuführen.

Doch nicht nur moskauhörige Kommunisten, auch das Gros der aus der „Achtundsechziger“-Studentenbewegung hervorgegangenen radikalen Linken machten sich das Feindbild vom „Zionismus“ als dem „imperialistischen” Stachel im Fleisch der arabischen Welt zu eigen. Dabei hatte das Gros der Linken bis zum Sechstagekrieg 1967 dem jüdischen Staat eher positiv gegenübergestanden. Mit seinem erfolgreichen Kampf für die Unabhängigkeit vom britischen Empire und seiner gelungenen demokratischen Staatsbildung galt es als Vorbild für viele nach ihrer Befreiung strebenden kolonisierte Nationen. Und aufgrund seiner sozialistisch geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur erschien Israel vielen Linken als ein Modell für die Verwirklichung ihrer eigenen gesellschaftspolitischen Ideale.

Dies änderte sich schlagartig, als Israel im Juni 1967 mit einem Präventivkrieg die invasionsbereiten arabischen Armeen in kürzester Zeit pulverisierte. Nun wurde es auf der Linken als Aggressor, die arabischen Staaten hingegen als Opfer einer „kolonialistischen“ Macht betrachtet. Es setzte sich in der radikalen Linken nun die arabische nationalistische Propaganda durch, laut der es sich bei Israel um einen künstlich installierten Fremdkörper inmitten des Territoriums einer gewachsenen ethnischen Gemeinschaft handele. Unter dem Deckmantel des „Antiimperialismus“ reproduzierten sie auf diese Weise das antisemitische Stereotyp von den Juden als einem „fremdvölkischen“ Element, das über in ihrem Boden verwurzelte Völker herfalle, um ihnen ihre Kraft und Identität zu rauben. In Wahrheit aber hatten Juden seit Jahrtausenden in Palästina gelebt, und schon lange vor der israelischen Staatsgründung, so Ende der 20er Jahre in Hebron und Safed, waren sie dort gewalttätigen Ausschreitungen vonseiten des massiv aufkommenden arabischen Nationalismus geworden. Dass die Juden nun ihrerseits, mit der Gründung Israels, das Recht eines Volkes auf  nationalstaatliche Selbstbestimmung in Anspruch nahmen, wurde ihnen aber als Akt der „Kolonialisierung“ der autochthonen Bevölkerung ausgelegt.

Antisemitismus auf arabisch

Dieser antiisraelische Schwenk innerhalb der Linken war ein internationales Phänomen. In Deutschland besaß er vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit jedoch eine besondere Dimension. Ihre Übernahme der arabisch-nationalistischen Ideologie, die zu dieser Zeit meist mit sozialistischer Rhetorik gespickt war, und ihre Allianz mit von eliminatorischem Judenhass angetriebenen palästinensischen „Befreiungsorganisationen“ wie der PFLP führte deutsche Linksextremisten in den 1970er Jahren zu gezielten Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Menschen.

Der erste Anschlag dieser Art ereignete sich bereits 1969, als im jüdischen Gemeindezentrum in Berlin eine Bombe deponiert wurde – ausgerechnet anlässlich der Gedenkfeier zur „Reichspogromnacht“ am 9. November.  In einem Flugblatt rechtfertigte eine Gruppe um den ehemaligen Aktivisten der „Kommune  1“, Dieter Kunzelmann, die sich „Tupamaros Westberlin“ nannte und ein Vorläufer der späteren terroristischen „Bewegung 2. Juni“ war, die Aktion mit der Begründung, „aus den vom Faschismus vertriebenen Juden“ seien „selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem US-Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“

Mit großer Wahrscheinlichkeit waren linksextreme Aktivisten um Fritz Teufel für den Brandanschlag auf ein jüdisches Altersheim in München 1970 verantwortlich, bei dem sieben Bewohner getötet wurden. Sie alle hatten die NS-Judenverfolgung und zwei von ihnen NS-Vernichtungslager überlebt. Geplante Attentate der deutschen Terrorgruppe „Revolutionäre Zellen“ auf Heinz Galinski, den Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde, sowie auf den Gemeindevorsitzenden in Frankfurt am Main, wurden 1977 von dem deutschen Linksterroristen Hans Joachim Klein verraten. Für Klein war dieses Vorhaben der letzte Auslöser, öffentlich mit dem Terrorismus zu brechen.

Linke Schuldumkehr

Denn er war nicht bereit, den schreienden Widerspruch zwischen der vermeintlich „antifaschistischen“ Gesinnung der Linksterroristen und ihrer Bereitschaft zum Judenmord hinter irgendwelchen „dialektischen“ Begründungen verschwinden zu lassen. Juden umzubringen war für ihn schlicht das Gegenteil von „Antifaschismus“ und daher mit seinem Selbstverständnis unvereinbar. Unter den deutschen Linksterroristen blieb er damit jedoch eine einsame Ausnahme. Völlig anders sah das etwa bei seinen ehemaligen Kampfgefährten Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann aus, die 1976 als Teil eines palästinensischen Flugzeugentführungs-Kommandos auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda jüdische Passagiere selektierten, die von den Terroristen als Geiseln einbehalten wurden, während die nichtjüdischen Passagiere frei kamen.

Die Zauberformel, mit der sich deutsche Linksextremisten für Gewaltakte gegen Juden innerlich fit machten, lautete: Schuldentlastung durch Schuldumkehr. Diese erfolgte, indem man die Israelis kurzerhand zu den „Faschisten“ und „Nazis“ von heute erklärte. Zur Rechtfertigung des Anschlags auf das Jüdische Gemeindezentrum 1969 in Berlin hatte Kunzelmann in einem Beitrag für ein linksradikales Westberliner Blatt folgende Botschaft an die Linke gerichtet: „Wenn wir endlich gelernt haben, die faschistische Ideologie `Zionismus´ zu begreifen, werden wir nicht mehr zögern, unseren simplen Philosemitismus zu ersetzen durch eindeutige Solidarität mit Al Fatah, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von Gestern und Heute und seine Folgen aufgenommen hat.“

Dass die Linke noch nicht die ausreichende Härte entwickelt hatte, um den palästinensischen Terror gegen Israel bedingungslos zu unterstützen, lag laut Kunzelmanns an dem „Judenknax“ (sic!) – womit er das deutsche Schuldgefühl gegenüber den Opfern und Überlebenden des Holocaust meinte, das es nunmehr abzuschütteln gelte. Im Kern drückte Kunzelmann mit seiner abstoßenden Wortschöpfung  dasselbe aus, was die Rechtsextremisten heute mit ihrer Hetzvokabel „Schuldkult“ meinen.

Meinhof feierte Judenmord

Während der Olympischen Spiele in München 1972 nahm ein palästinensisches Terrorkommando neun israelische Sportler als Geiseln und ermordeten einen von ihnen. Alle Geiseln wurden später während des Feuergefechts mit der Polizei von den Terroristen umgebracht. Die RAF solidarisierte sich mit dieser Mordaktion der dafür verantwortlich zeichnenden Terrorgruppe „Schwarzer September“. In einem in der Haft verfassten Statement machte Ulrike Meinhof die israelische Regierung für den Tod der israelischen Geiseln verantwortlich, weil sie nicht bereit war, sie gegen gefangene palästinensische Terroristen auszutauschen.  Israel, so kommentierte dies Meinhof, habe „seine Sportler verheizt wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik“. Den israelischen General Moshe Dayan bezeichnete sie als „Israels Himmler“.

Durch die Umdeutung der Israelis in die Nazis von heute konnten nun auch deutsche Linke wieder mit gutem Gewissen zum Täter werden, führten sie ihren verdrehten Maßstäben gemäß mit dem Kampf gegen die USA und Israel doch den Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus fort. Im Kontext ihrer ideologischen Wahnwelt konnte ihnen dies zudem als eine späte Wiedergutmachung für das Versäumnis der Elterngeneration erscheinen, sich dem NS-System zu widersetzen.

Im „deutschen Herbst“ 1977 wurde die vollständige Abhängigkeit der RAF von palästinensischen Terrororganisationen, allen voran der PFLP, aber auch von der Rückendeckung durch die Geheimdienste der Sowjetunion und anderer kommunistischer Staaten offensichtlich. Nicht von ungefähr war Wadi Haddad, der Anführer der PFLP, ein KGB-Agent. Und die DDR diente der RAF nicht nur als Rückzugsraum – unter anderem wurden ihre Kämpfer von der Stasi zumindest punktuell auch im Waffengebrauch geschult. Als die RAF mit der Schleyer-Entführung in die Sackgasse geraten war, musste der große palästinensische Bruder eingreifen, um durch die spektakuläre Entführung der Lufthansa Passagiermaschine „Landshut“ das Steuer doch noch herumzureißen – was glücklicherweise auf der ganzen Linie scheiterte.

Blinde Flecken

Das gute Gewissen, mit dem die Linksterroristen ihre Untaten verübten, bezogen sie aus besagter, bis heute fortwirkenden Legende und ihrer tautologischen Maxime: Dass ein Linker kein Antisemit sein könne, eben weil er ein Linker ist. Zwar war die Gewaltbereitschaft gegenüber Juden für die Haltung der Linken im Ganzen sicher nicht repräsentativ. Doch wird in den Reihen der Linken bis heute meist geleugnet, dass die linksterroristischen Aktivitäten etwas mit Antisemitismus zu tun gehabt hätten. Das führt zu blinden Flecken in der linken Selbstwahrnehmung, die es antisemitischen Affekten ermöglicht, sich weiter in linken Zusammenhängen auszubreiten.

So tauchen in linken „Antiglobalisierungsbewegungen“ wie Attac und Occupy immer wieder Strömungen auf, die ihre Feindschaft gegen das „Finanzkapital“ mit Fantasien von hinter ihm steckenden jüdischen Drahtziehern verbinden. Dabei sind die Grenzen zwischen „rechter“ und „linker“ Ideologie keineswegs so eindeutig zu ziehen, wie es diese antipodischen Begriffe suggerieren. Auch Faschismus und Nationalsozialismus gaben sich antikapitalistisch und sozialrevolutionär, und ihre heutigen Nachfahren teilen mit der extremen Linken eine ganze Reihe von Feindbildern, darunter die vermeintlich volksfernen, abgehobenen „liberalen Eliten“ und ihr „Globalismus“, die USA und die NATO.

In der „Querdenker“-Bewegung mischen sich aktuell rechtsextremistische, völkisch-rassistische Agitatoren schwer unterscheidbar mit wirren anarcho-„freidenkerischen“ und esoterischen Verschwörungsmythologen. Und große Teile der extremen Linken, vor allem in Großbritannien und Frankreich, scheuen sich nicht, im Kampf gegen den westlichen „Imperialismus“ und gegen Israel mit mörderischen islamistischen Judenhassern wie der Hamas gemeinsame Sache zu machen – mit Vertretern einer Ideologie also, der man alles andere als irgendwelche „emanzipatorische“ Motive nachsagen kann. Ihre Ähnlichkeit mit westlichen faschistischen Organisationen ist vielmehr unverkennbar.

„Antikolonialistischer“ Antisemitismus

Gegenwärtig wirkt die linke oder „progressive“ Juden- und Israelfeindlichkeit aber vor allem in die intensive Debatte über Rassismus und Kolonialismus und die Versäumnisse der westlichen Demokratien bei der Aufarbeitung ihrer entsprechenden düsteren Vorgeschichte hinein. Wohlgemerkt: Diese Debatte ist grundsätzlich nicht nur legitim, sondern für die kritische Selbstvergewisserung und Fortentwicklung der freien Welt von existenzieller Bedeutung. Zu Recht weist sie auf die noch immer großen Defizite der liberalen pluralistischen Gesellschaft bei der Verwirklichung ihres staatsbürgerlichen Gleichheitsideals hin.

Bedenklich wird es allerdings, wenn die Erinnerung an die Verbrechen des Kolonialismus gegen das Holocaust-Gedenken ausgespielt werden soll, indem die angebliche ausschließliche Fixierung auf den NS-Judenmord für das Beschweigen der kolonialistischen Vergangenheit verantwortlich gemacht wird. So, als handele sich bei der Erinnerungsarbeit um ein Nullsummenspiel: Wenn der Holocaust-Erinnerung zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werde, so die Logik dieser Argumentation, ziehe das entsprechend viel Aufmerksamkeit von der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus ab. Diese Suggestion kann jedoch antisemitische Ressentiments befeuern wie das, die Juden und Israel monopolisierten den Opferstatus für sich und nutzten dieses Monopol zur Durchsetzung finsterer Machtinteressen.

Massiv wird von links auch eine neue subtile Variante der Holocaust-Relativierung betrieben, indem dieser – wie jüngst von dem australischen Historiker A. Dirk Moses, – auf eine Spielart kolonialistischer Gewalt reduziert wird. Manche Kritiker dieser Lesart sehen darin den Auftakt zu einem neuen Historikerstreit – diesmal vom Zaun gebrochen von links. Die Implikationen der sehr weitreichenden und komplexen Debatte darüber können hier nur kurz angerissen werden. Der Hinweis darauf muss an dieser Stelle genügen, um zu zeigen, auf welchen vielfältigen und oft subtil verschlungenen Wegen die linke Variante des Antisemitismus weiter wirkt.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

2 Kommentare

  • Dass auch Historiker noch immer von ReichspRogromnacht schreiben, erstaunt. Oder ist das ein Eingriff der „Korrektur“-Abteilung, die bei Fremdwörtern reflexartig einen lateinischen, statt – wie in diesem Fall – russischen Ursprung vermutet?
    Natürlich schmälert so ein Fehler nicht die analytische Kompetenz eines Beitrags.

    • Weder zu Erstaunen noch zu Motivforschung besteht hier Anlass. Es handelt sich um einen schlichten, wenn auch zugegebenermaßen etwas peinlichen Tipp- bzw. Flüchtigkeitsfehler. Wie auch immer, Danke für den Hinweis. Ist bereits korrigiert.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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