Polen, Finnen, Balten oder: Europas neuer Motor

Polen hat angekündigt, der Ukraine Kampfjets zu liefern. Die Entschlossenheit, die sich darin äußert, müsste die etablierten europäischen Führungsmächte beschämen. Nicht mehr die deutsch-französische Achse, sondern Polen, Finnland, Schweden und die baltischen Staaten sind jetzt Motor der Einigung Europas in Freiheit.

Polens Beschluss, Kampfjets an die Ukrainezu liefern, ist bahnbrechend. Während Frankreich, Deutschland und sogar auch die USA in dieser Frage aus Furcht vor Putins Drohungen weiterhin zögern, zeigt Warschau einmal mehr den Weg auf, wie man dem russischen Agressor unerschrocken entgegentritt, statt sich von seiner apokalyptischen Rhetorik einschüchtern zu lassen. Die Slowakei ist inzwischen nachgezogen und will ebenfalls Kampfflugzeuge des Typs MiG-29 liefern.

„Dies ist nicht das erste Mal, dass Polen bei der Bewaffnung der Ukraine eine Vorreiterrolle einnimmt“, schreibt Peter Dickinson zutreffend im Blog des Atlantic Council. „Die Polen gehören zu den größten Gebern von militärischer Ausrüstung und haben der Ukraine bereits Hunderte von Panzern aus der Sowjetzeit zur Verfügung gestellt. Entscheidend ist, dass die polnische Intervention auch dazu beigetragen hat, Deutschland so unter Druck zu setzen, dass es im Januar 2023 grünes Licht für die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern an die Ukraine gab.“

„Finnlandisierung“ adé

Zugleich profilieren sich die angehenden neuen NATO-Mitglieder Finnland und Schweden – das wegen der Blockadehaltung des türkischen Autokraten Erdogan noch auf den formellen Vollzug seines Beitritts in das westliche Bündnis warten muss – als Fackelträger der Freiheit in Europa. Namentlich die junge finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin besitzt das Format einer wahrhaften europäischen Führungspersönlichkeit.

Anders als die verantwortlichen Politikern und Politikerinnen in den westeuropäischen Haptstädten scheut sie sich nicht, das jahrelange Versagen des Westens angesichts der russischen Aggression ungeschminkt beim Namen zu nennen. Als Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim überfiel, habe man den „großen Fehler“ gemacht, nicht gemeinsam stärker zu reagieren, sagte sie im Januar bei der Münchner Sicherheitskonferenz. „Wenn wir stärker darauf reagiert hätten, dann würde der Krieg nicht stattfinden.“ Marin erklärte, Russland habe offenbar gedacht, bei der Invasion im vergangenen Jahr werde es laufen wie bei der Krim-Annexion 2014, und der Krieg könne innerhalb einiger Wochen einfach und schnell gewonnen werden. „Wir müssen jetzt aus der aktuellen Situation lernen“, schlussfolgerte die Ministerpräsidentin: „Ich glaube, die wichtigste Lehre ist, nicht naiv zu sein.“ Für Finnland, möchte man hinzufügen, bedeutet das, dass es nun ein für allemal die „Finnlandisierung“ hinter sich gelassen hat.

Auch sie, so Sanna Marin, wolle eine Welt, die schön, gut und sicher sei, ohne dass man Geld in Streitkräfte stecken müsse. Der einzige Weg zu Frieden und zur Sicherung der internationalen Ordnung sei aber, dafür zu sorgen, dass Europa und die demokratischen Länder stark genug sind, um einen Hebel gegen autoritäre Länder wie Russland in der Hand zu haben. Diese müssten dazu gebracht werden, zweimal darüber nachzudenken, ob sie wirklich Gewalt gegen andere anwenden wollten.“ Die klare Sprache, derer sich Marin bedient, kennt man auch bereits von den baltischen Staaten, an deren Mut und unbeugsamer Freiheitsliebe sich die westeuropäischen Demokratien längst ein Beispiel hätten nehmen müssen.

Polen paradox

Eine bitteres Paradox gibt es indes bei all dem: Während Finnland, Schweden, Litauen, Lettland und Estland mustergültige Demokratien sind, rührt die polnische PiS-Regierung, die einerseits so entschieden die Freiheit der Ukraine verteidigt, andererseits im eigenen Land selbst an den Fundamenten des demokratischen Rechtsstaats. Doch die Unterstützung für den Überlebenskampf der freien Ukraine ist lagerübergreifend in der polnischen Gesellschaft verankert – der vielleicht letzte verbliebene Konsens zwischen Regierungs- und Oppositionskräften in diesem innerlich scharf gespaltenen Land. Man kann nur hoffen, dass diese Erfahrung der Einheit gegenüber einem existenzbedrohenden Feind Rückwirkungen im Sinne der Gensesung der angschlagenen polnischen Demokratie haben wird – und Polen damit seine zunehmend wichtige Rolle als eine potenzielle Führungsmacht in der EU ausfüllen kann, statt sich innerhalb Europas zu isolieren.

So berechtigt aber die Kritik aus Brüssel, Paris und Berlin an bedenklichen Deformationserscheinungen im demokratischen Gefüge Polens ist, so wenig bieten diese doch Anlass zu Selbstgerechtigkeit. Es ist vielmehr beschämend, dass eine rechtsnationalistische, in ihrem Demokratieverständnis fragwürdige Regierung in der Stunde größter Bedrohung des freiheitlichen Europa so beherzt im Sinne seiner Verteidigung handelt, wie es eigentlich die „vorbildlichen“ Demokratien Westeuropas tun müssten. Dass letzteres nicht der Fall ist, liegt wesentlich in der tendenziellen Dysfunktionalität der deutsch-französischen Achse begründet – und diese wiederum ist in mancher Hinsicht bereits in ihrer Entstehungsgeschichte angelegt. (Die folgenden Passagen sind zuerst Ende Januar als Kolumne auf Ukrainisch hier und auf Deutsch hier erschienen.)

Geist und Gespenst des Elysée

Zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags zwischen Frankreich und Deutschland durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer ist in den beiden Ländern keine Jubelstimmung aufgekommen. Zwar hat sich die im Januar 1963 besiegelte deutsch-französische Freundschaft als dauerhaft und stabil erwiesen. Deutsche und Franzosen, einstmals „Erbfeinde“, leben heute als gute Nachbarn in einem befriedeten, demokratischen Europa. Dessen Entstehung ist wesentlich der französisch-deutschen Aussöhnung und Kooperation zu verdanken.

Doch angesichts der aktuellen Bedrohung dieser historischen Errungenschaft durch die russische Aggression hilft die Beschwörung vergangener Erfolge nicht viel weiter. Die Achse Paris-Berlin sieht sich einer ungeahnten epochalen Bewährungsprobe ausgesetzt, auf die sie nur unzureichend vorbereitet ist.

Denn in vieler Hinsicht sind die Versprechen des Elysée-Vertrags nicht eingelöst worden. Von Anfang an stand er im Zeichen eines politischen Missverständnisses. De Gaulle verfolgte damit die Absicht, die junge Bundesrepublik Deutschland aus ihrer engen Bindung an die Vereinigten Staaten herauszulösen und mit ihr zusammen ein Gegengewicht zum anglo-amerikanischen Einfluss auf dem europäischen Kontinent zu schaffen. Das in einstiger imperialer Rivalität wurzelnde tiefe Misstrauen gegenüber der „angelsächsischen Welt“ bestimmt bis heute die Mentalität des „Gaullismus“.

Abkoppeln von den USA?

Die tragenden politischen Kräfte der Bundesrepublik waren indes nicht bereit, dem französischen Präsidenten auf dem Weg der Abkoppelung von den USA zu folgen. Der Deutsche Bundestag ratifizierte damals zwar den Vertrag, ergänzte ihn jedoch durch eine Präambel, die ein nachdrückliches Bekenntnis zur transatlantischen Allianz enthielt. Dieser deutsche Schachzug verärgerte de Gaulle, der darin einen Akt der Unterwerfung unter die amerikanische Supermacht sah.

Die unterschiedlichen strategischen Ziele, die sie mit der deutsch-französischen Partnerschaft verbinden, haben Paris und Berlin seitdem auf einer gewissen Distanz voneinander gehalten – ungeachtet aller euphorischen Verbrüderungsgesten, die in Feierstunden zelebriert werden. Frankreich betrachtet die Achse mit Deutschland als ein Instrument zur Sicherung seiner vermeintlichen Führungsrolle in Europa – und darüber hinaus  zur Perpetuierung  seiner Ambitionen als ein maßgeblicher weltpolitischer Akteur. Sein Status als Vetomacht in den UN, den es ebenso wenig mit der EU zu teilen bereit ist wie die Verfügungsgewalt über seine Atomwaffen, stützt Frankreichs zunehmend irreales Selbstbild, nach wie vor ein erstrangiger Global Player zu sein.

Sicherheitspolitische Fiktion

Indessen hat sich die Bundesrepublik stets geweigert, dem engen Verhältnis zu Frankreich Vorrang vor dem zu den USA zu geben. Die Betonung der Gleichwertigkeit ihres Verhältnisses zu Frankreich und den USA diente ihr aber nicht zuletzt dazu, sich mal hinter dem einen, mal hinter dem anderen Partner zu verstecken, wenn es um die Übernahme internationaler, und vor allem militärischer Verantwortung geht.

Dementsprechend ist die einheitliche deutsch-französische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, die im Elysée-Vertrag angekündigt wurde, weitgehend Fiktion geblieben. In der gegenwärtigen Krise erweist sich diese fehlende gemeinsame globalstrategische Orientierung als fatal. Weit davon entfernt, ein entschlossenes europäisches Führungszentrum im Widerstand gegen die russische Aggression zu bilden, zeigen sich Paris und Berlin bei der militärischen Hilfe für die Ukraine eher zögerlich und auf diversen politischen Feldern – wie dem der Energiepolitik – zerstritten.

Frankreichs Präsident Macron irritierte wiederholt mit nicht abgesprochenen rhetorischen Avancen in Richtung Kreml – etwa, als er von notwendigen „Sicherheitsgarantien“ für Russland im Rahmen eines künftigen Friedensabkommens sprach. Der deutsche Bundeskanzler wiederum hat mit seiner Verzögerungstaktik in Sachen Lieferung schwerer Waffen den Verdacht genährt, nicht wirklich an einem Sieg der Ukraine interessiert zu sein und stattdessen auf eine baldige „diplomatische“ Wiederannäherung an Russland zu spekulieren.  

Polen geht voran

Dagegen haben sich (Ungarn ausgenommen) die ost- und mitteleuropäischen Staaten Russlands Vernichtungskrieg von Anfang mit konsequenter Klarheit entgegengestellt. Insbesondere Polen und die baltischen Staaten stehen bei der Unterstützung der Ukraine, gerade auch auf militärischem Gebiet, an vorderster Front – mit Rückendeckung vor allem der skandinavischen Ländern. Zudem hatten diese Nationen bereits seit vielen Jahren vor dem ganzen Ausmaß der Aggressivität des putinistischen Russland gewarnt.

Deutschland und Frankreich aber tendierten bis zum russischen Überfall am 24. Februar dazu, Putin zu hofieren, um ihn mittels „Dialog“ und wirtschaftliche Verflechtung auf den Pfad der Friedfertigkeit zurückzuführen. Dies alles hat das Vertrauen in die Urteils- und Führungsfähigkeit des französisch-deutschen Tandems nachhaltig erschüttert. Namentlich Polen wird sich sicherheitspolitisch wohl noch stärker an die USA anlehnen. Und die zwischenzeitliche Ankündigung Warschaus, eine „kleine Koalition“ bilden zu wollen, um deutsche Leopard-Panzer auch ohne Zustimmung Berlins an die Ukraine zu liefern, dokumentierte das gestiegenen Selbstbewusstsein der „neuen“ EU-Mitglieder auf der europäischen Bühne.

Das deutsch-französische Duo steht somit vor der Herausforderung, seine Rolle grundlegend neu zu definieren. Die Zeiten, da es unbestritten als „Motor“ der europäischen Einigung galt und von dieser Position aus das restliche Europa zu dirigieren pflegte, sind vorbei. Heute erweisen sich Ost- Mittel- und Nordeuropäer als treibende Kraft im Sinne eines geschlossenen, entscheidungsfähigen Westens. Sie haben innerhalb der EU deutlich an Gewicht gewonnen, während die Autorität Frankreichs und Deutschlands drastisch geschrumpft ist. Wenn daraus keine dauerhafte innereuropäische Entfremdung entstehen soll, müssen sich Paris und Berlin jetzt einer intensiven Debatte über das künftige neue Gesicht Europas unter den veränderten Kräfteverhältnissen stellen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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