Vernichtungskrieg: Russlands Zivilisationsbruch

Zögerliche Waffenhilfe, verstärktes Drängen auf „Verhandlungen“, wachsende Gleichgültigkeit angesichts horrender Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Es ist bedrückend und beängstigend, dass ein großer Teil der deutschen Öffentlichkeit nicht erkennen kann oder will, worum es sich bei dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine tatsächlich handelt – um einen Zivilisationsbruch, der nicht nur die gesamte demokratische Welt, sondern das Fundament der Humanität schlechthin bedroht.

Dass Bundeskanzler Olaf Scholz nach quälend langer Verzögerug endlich der Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine zugestimmt hat, wurde von seinen Spin-Doktoren als Ausdruck seiner überragenden strategischen Weisheit hingestellt. Dieses Konstrukt gipfelt in der Suggestion, Scholz habe mit seinem Drängen auf gleichzeitige US-Panzerlieferungen Washington ins Boot geholt und damit die Einheitsfront des Westens gegen Putin gesichert.

In Wirklichkeit aber verhält es sich wohl genau anders herum: Washington gab grünes Licht für die Lieferung von Abrams-Panzern, um dem deutschen Kanzler das letzte Scheinargument für seine Weigerung zu nehmen, der Ukraine die dringendst benötigte militärische Hilfe zu gewähren. So konnte die deutsche Blockade der Bereitstellung von Kampfpanzern endlich gebrochen werden.

Es zeugt von reichlich dreister Vermessenheit, wenn Scholz und seine Schönredner den Eindruck zu erwecken versuchen, Berlin müsse die USA in Sachen militärischer Unterstützung der Ukraine zum Jagen tragen. Auch wenn Washington dabei selbst nicht konsequent genug vorgeht und Kyjiw bisher kriegentscheidende Waffensysteme wie Kampfflugzeuge und Artillerie mit maximaler Weitreiche vorenthalten hat – die bereits erfolgten amerikanischen Waffenlieferungen übertreffen in ihrem Umfang die europäischen bei weitem. Ohne sie hätte die ukrainische Armee den russischen Invasoren nicht mit solch großem Erfolg entgegentreten können. Diese Tatsache sollte namentlich die EU-Führungsmächte Frankreich und Deutschland beschämen, die mit Vorliebe von der „europäischen Souveränität“ zu schwadronieren pflegen, sich in dieser Schicksalsfrage des Kontinents jedoch einmal mehr hinter dem starken Rücken des transatlantischen Verbündeten versteckt haben.

Westliche Mitschuld

Die Wahrheit ist, dass Scholz dem internationalen, vorrangig von Polen, aber auch von den baltischen Staaten ausgehenden Druck, seine Verweigerungshaltung endlich aufzugeben, am Ende nicht mehr standhalten konnte, ohne offen als Saboteur der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen dazustehen. Statt den Bundeskanzler dafür zu bejubeln, sollte man ihm vorhalten, wie viele ukrainische Verluste an Soldaten wie Zivilisten hätten vermieden werden können, wäre die Ukraine bereits vor etlichen Monaten – um nicht zu sagen, Jahren – mit der für eine erfolgreiche Kriegsführung erforderlichen Ausrüstung ausgestattet worden.

Die westlichen Demokratien haben es im vergangenen Herbst versäumt, die ukrainische Armee in den Stand zu setzen, der schwer angeschlagenen russischen Invasionstruppe den kriegsentscheidenden Schlag zu versetzen. So hat Putins militärische Mordmaschine Zeit gewonnen, sich zu reorganisieren, die Ukraine mit Raketenhagel zu terrorisieren und eine neue Großoffensive vorzubereiten, die nun unmittelbar bevorzustehen scheint. Sollte die Ukraine ihr nicht standhalten können, weil die westlichen Waffen- und Munitionlieferungen nicht ausreichen oder zu spät kommen, trüge der Westen eine schwere Mitschuld an dieser Katastrophe – mit verheerenden Folgen für seine eigene Sicherheit, die er sich noch immer nicht in vollem Umfang klar zu machen scheint.

Immerhin ist es eine Erleichterung, dass Scholz endlich die Leoparden freigegeben hat. Doch sogleich zog der Kanzler erneut eine rote Blockade-Linie, indem er die Lieferung von Kampfflugzeugen ebenso wie die Entsendung von Bodentruppen ausschloss. Diese beiden Aspekte in einem Atemzug zu nennen ist indes eine kalkulierte Irreführung. Denn niemand, die Regierung in Kyjiw eingeschlossen, hat jemals vom Westen verlangt, in die Kriegshandlungen am Boden einzugreifen. Indem Scholz aber suggeriert, eine solche Forderung stehe ebenso im Raum wie die nach Kampfjets, stigmatisiert er die Erfüllung des letzteren, tatsächlich existierenden Begehrens als einen ähnlich weitgehenden Schritt in Richtung eines deutschen Kriegseintritts wie es die Entsendung von Bundeswehrsoldaten wäre. Tatsäclich aber ist nicht einzusehen, worin hinsichtlich des Status Deutschlands in diesem Krieg der qualitative Unterschied zwischen der Lieferung von Panzern und der von Flugzeugen bestehen soll. Scholz aber bedient die hierzulande weit verbreitete Angst, Putin könnte uns als „Kriegspartei“ einstufen und ins Visier nehmen, um sich zur Fortsetzung seiner Politik des Ausbremsens umfassender militärischer Hilfe für die Ukraine die Rückendeckung des Wahlvolks zu sichern.

Zivilisationsbruch

Hinter den bizarren Verzögerungs- Verwirrungs- und Vermeidungsmanövern des Kanzlers und seiner Getreuen in Sachen Waffenlieferungen verbirgt sich ein tiefer sitzendes Syndrom: Es wird hierzulande bei weitem noch nicht das ganze Ausmaß der existenziellen Bedrohung begriffen, die vom Putinismus und seinem Vernichtungskrieg nicht nur für die gesamte demokratische Welt, sondern für die zivilisierte Menschheit im Ganzen ausgeht. Oder genauer gesagt: Es gibt einen festgefügten mentalen Abwehrmechanismus dagegen, die ganze Wahrheit an sich heranzulassen.

Diese lautet, dass es sich bei dem russischen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine um mehr handelt als um einen „normalen“ Angriffskrieg, im Zuge dessen massive Kriegsverbrechen begangen werden. Russlands Feldzug gegen die Ukraine folgt vielmehr der von der Moskauer Führung offen verkündeten Intention, die Identität eines ganzen Volk nebst seiner staatlichen Existenz auszulöschen. Die horrenden Verbrechen, die von den russischen regulären und Söldnertruppen in der Ukraine begangen werden – darunter der gezielte Beschuss der Zivilibevölkerung und von lebensnotwendiger ziviler Infrastruktur, willkürliche Exekutionen, exzessive Folterungen von Zivilisten und Kriegsgefangenen, der systematische Einsatz sexueller Gewalt als Kriegswaffe, massenhafte Verschleppung ukrainischer Bürger in „Filtrationalager“ (sprich: KZs) und ihre Deportation nach Russland – folgen einem präzise vorgegebenen Vernichtungsplan. Die Systematik und Grausamkeit, mit denen er in die Tat umgesetzt wird, machen deutlich, um was es sich dabei handelt: um einen in Europa seit 1945 beispiellosen Zivilisationsbruch.

9.200 Zivilisten sind laut Angaben des ukrainischen Präsidialamts bisher den Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine zum Opfer gefallen. Doch nicht nur durch massenhaftes Morden versucht der Aggressor, seine genozidalen Ziele zu verwirklichen. Durch die gezielte Zerstörung ukrainischer kultureller Insitutionen, Bildungseinrichtungen und Archive soll das historische Gedächtnis der Ukraine und damit ihre nationale Identität ausgelöscht werden. Diese Absicht steckt auch hinter der Entführung hundertausender ukrainischer Kinder, die in russischen Heimen oder Familien zu Russen „umerzogen“ werden sollen, indem ihnen dort jede Erinnerung an ihre ukrainische Herkunft ausgetrieben wird.

Kinder als Zielobjekt

„Wir können eine klare völkermörderische Absicht in der öffentlichen Rhetorik Putins und anderer hochrangiger politischer Führer und Top-Kommandeure der Russischen Föderation erkennen“, sagte kürzlich Daria Gerasymchuk, Beauftagte des Präsidenten der Ukraine für Kinderrechte, bei einer Veranstaltung zum Start des Projekts Ukraine is You während des Weltwirtschaftsforums in Davos. „Sie proklamieren offen, dass die Ukraine kein Existenzrecht habe, es keine ukrainische Nation, keine ukrainische Sprache und keine ukrainische Kultur gebe. Wir haben die Wahl, entweder getötet oder zu russischen Bürgern umerzogen zu werden, und deshalb haben sie bewusst Kinder ins Visier genommen, denn Kinder sind die Zukunft.“

Befeuert wird der russische Zivilisationsbruch durch eine zur Unmenschlichkeit aufstachelnde Rhetorik der Kreml-Führung und ihrer Ideologen, mittels der Russlands Bevölkerung auf die Legitimität von Mord und Vernichtung eingeschschworen und die russischen Soldaten und Söldner zur enthemmten Ausübung verbrecherischer Gewalt konditioniert werden sollen. So überzieht der Kreml-Einpeitscher Dmitrij Medwedew – ehemals Russlands Präsident und heute immerhin stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates der Russischen FöderationUkrainer und westliche Gegner regelmäßig mit Beschimpfungen wie „Kakerlaken“ und „Missgeburten“. Man sollte sich davor hüten, derartige Ausfälle alls bloße heiße Luft abzutun. Genoziden geht stets die sprachliche Entmenschlichung, die Herabwürdigung einer zum Feind erklärten Menschengruppe als minderwertig oder als Ungeziefer voraus, die folglich ausgetilgt werden müsse. Es ist daran zu erinnern, dass bereits die Aufstachelung zum Völkermord ein schweres Verbrechen darstellt.

Woran sich die Frage anschließt: Wie und worüber will man mit solchen kriminellen Anstiftern zu eliminatorischer Gewalt eigentlich verhandeln? Käme doch die Einwilligung in jeglichen „Waffenstillstand“ oder „Friedensschluss“, der Russland die Kontrolle über von ihm besetzte ukrainische Gebiete belässt, einer Beihilfe zum Genozid gleich. Jegliche „diplomatische Lösung“, die den russischen Zivilisationsbruch auch nur im mindesten honorierte, wäre nicht nur ein fatales Zeichen für die Zukunft der Ukraine, sondern auch Gift für die zivilisatorische Ordnung des Westens insgesamt. Schon jetzt hat die allmähliche Gewöhnung an die Verbrechen, die sich in den westlichen Gesellschaften breit zu machen droht, zerstörerische Auswirkungen auf den moralischen Kompass der Demokratien.

Furchtbarer Jurist

Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in Deutschland die Stimmen immer lauter und forscher werden, die der Ukraine eine Mitverantwortung für die Fortdauer und damit für das wachsende Grauen des Krieges in die Schuhe schieben und sie unter Druck setzen wollen, „Verhandlungen“ mit dem völkermörderischen Aggressor zuzustimmen. Zu den Verfechtern dieser Haltung gehört der emeritierte Rechtsprofessor Reinhard Merkel, der in der deutschen Medienöffentlichkeit seit Jahren fälschlicherweise als kompetenter Experte für das Völkerrecht gehandelt wird und diese prominente Position nutzt, um mit rechtsphilosophischer Rabulistik dem Publikum die faktische Unterwerfung unter das Recht des Stärkeren schmackhaft zu machen. So verstieg er sich unlängst in einem Beitrag für die FAZ zu der Behauptung, bei der russischen Terrorherrschaft auf der Krim handele es sich um eine mittlerweile „befriedete Ordnung“, die von der Ukraine nicht mehr militärisch in Frage gestellt werden dürfe, ohne dass sie selbst zum Aggressor mutieren würde. Daraus leitet er seine Aufforderung an die Bundesregierung ab, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, die von ihr zur Rückeroberung der vökerrechtswidrig annektierten Halbinsel genutzt werden könnten.

Merkel konstruiert überdies eine indirekte Mitschuld des überfallenen Landes an den hohen Opferzahlen des Kriegs, da es sich Verhandlungen mit seinem Peiniger verweigere. Dass es das putinistische Völkermordregime ist, das Verhandlungen ohne vorherige Unterwerfung der Ukraine kategorisch ausschließt, lässt der „Völkerrechtsexperte“ ganz einfach unerwähnt. Reinhard Merkel, der das Recht so lange verdreht, bis es vom Unrecht nicht mehr zu unterscheiden ist, und der damit dem Zivilisationsbruch argumentativen Vorschub leistet, erinnert auf schaurige Weise an den Typus des furchtbaren Juristen in düsterer deutscher Tradition.

Ob es sich nun um vermeintliche Militär- und Strategieexperten wie Erich Vad oder Johannes Varwick, um sozialdemokratische Politiker wie Rolf Mützenich und Ralf Stegner oder intellektuelle Pseudomoralisten wie Harald Welzer handelt – ihnen allen ist gemeinsam, dass sie bei ihren Plädoyers für möglichst baldige „Verhandlungen“ mit oder verstärkte diplomatische Initiativen gegenüber Russland die völkermörderische Dimension des russischen Angriffskriegs hartnäckig ausblenden. Beharrlich verweigern sie eine Antwort auf die Frage, wie mit einer Macht, die keinerlei Grundregel des internationalen Rechts – und mehr noch, des zivilisatorischen Zusammenlebens überhaupt -akzeptiert, ein tragfähiger „Kompromiss“ oder „Interessenausgleich“ möglich sein soll. Und wie ein Regime, dessen Identitätskern im Kult exzessiver gesetzloser Gewalt und Eroberung besteht, davon abgebracht werden soll, seine verbrecherischen Absichten weiter zu verfolgen, ohne dass ihm dies durch eine empfindliche militärische Niederlage unmöglich gemacht wird.

Infame Stimmungsmache

Doch diejenigen, die eine solche Niederlage Russlands durch die uneingeschränkte militärische Unterstützung der Ukraine herbeiführen wollen, sehen sich verstärkt der infamen Unterstellung ausgesetzt, sie seien von „Kriegsbegeisterung“ erfüllt und frönten lustvoll einem „Militarismus“. Diese Stimmungsmache betreibt etwa der Kabarettist Dieter Nuhr, der seinen zunehmend ressentimentgeladenen Zynismus als „Satire“ deklariert und damit unangreifbar machen will. Doch die Suggestion, die Ukraine selbst oder ihre hiesigen konsequentesten Freundinnen und Freunde hätten in irgendeiner Weise Freude am Krieg, ist an Niedertracht kaum zu übertreffen. Von letzteren ist mir niemand bekannt, die oder den das Wissen um das unsägliche Leid, das der Krieg über die Ukrainerinnen und Ukrainer bringt, nicht in einen qualvollen Zustand existenzieller Erschütterung am Rande der Verzweiflung versetzen würde. Aber dieses Leid würde nicht enden, sondern sich im Gegenteil um ein vielfaches multiplizieren, gäbe die Ukraine der mörderischen Willkür des Aggressors nach. Nur ihr Sieg kann es beenden. Deshalb muss, wer den Krieg wirklich aufrichtig verabscheut, alles dafür tun, ihr diesen Sieg zu ermöglichen.

Diskreditierung ist auch ein zentrales Ziel der russischen Desinformationsoperationen. Desinformation ist eine der effektivsten Kriegswaffen des Kreml. Durch sie soll die westliche Öffentlichkeit verwirrt und ihre Widerstandskraft gegen die russische Aggression unterminiert werden. Doch ein großer Teil der deutschen Medien durchschaut noch immer nicht ausreichend die Methodik dieser Variante hybrider Kriegsführung. So schürte die Kreml-Propaganda jüngst erfolgreich ein Strohfeuer medialer Erregung über Annalena Baerbocks Äußerung, wir – gemeint waren die westlichen Demokratien – kämpften „einen Krieg gegen Russland“.

Dabei hat die Außenministerin, auch wenn ihre beanstandete Formulierung im Europarat vielleicht nicht gänzlich präzise gewesen sein mag, in der Sache völlig recht. Der Kreml erklärt Tag für Tag, dass er in der Ukraine einen Krieg gegen die NATO führe, und er kündigt dem gesamten Westen offen jede erdenkliche Art von Vernichtung an. Er honoriert offensichtlich nicht, dass in der deutschen politischen Klasse mit ängstlicher Verklemmung jeder Anschein zu vermeiden versucht wird, wir könnten in diesem Krieg, in dem die Ukraine elementare zivilisatorische Werte verteidigt, „Kriegspartei“ sein oder werden. Gleichwohl sprangen nicht wenige deutschen Medien auf die absurde, lügnerische Behauptung Moskaus an, Baerbock habe „Russland den Krieg erklärt“. Sie habe mit ihrer unbedachten Äußerung der russischen Propaganda eine „Steilvorlage“ gegeben, lautete entsprechend der Tenor zahlreicher hiesiger Kommentare. Doch um seine Hasstiraden gegen den Westen auf die perverse Spitze zu treiben, braucht das russische Regimee keinen äußeren Anlass – und schon gar keine „Steilvorlage“ in Form vermeintlicher rhetorischer Fehltritte deutscher Politikerinnen oder Politiker.

Zivilisationsbruch beim Namen nennen

Allgemein sollte überdies bekannt sein, dass Baerbock seit Langem eine bevorzugte Zielscheibe von Desinformations- und Diskreditierungskampagnen des Kreml ist (siehe dazu meinen Essay: Das Dauerfeuer der Desinformation | Internationale Politik) – weil sie als eine entschiedene Befürworterin der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine bekannt ist und sie, im Gegensatz zu ihrem Regierungschef, klar zum Ausdruck bringt, dass die ukrainische Armee den Krieg gewinnen muss. Gegen russische Anschwärzungen solcher unliebsamer Persönlichkeiten, die von der Fünften Kolonne des Kreml aus AfD und Linkspartei eifrig weiterverbreitet und von Kreml-Anbiederern in den „bürgerlichen“ Parteien wie dem sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Kretschmer eilfertig aufgegriffen werden sollte sich die demokratische deutsche Öffentlichkeit endlich immunisieren.

Im Zeichen des russischen Zivilisationbruchs ist solche Resilienz ein Gebot des Überlebens der Demokratie. Wobei „Zivilisationsbruch“ ein starkes Wort ist, das bisher eigentlich der Kennzeichnung der NS-Barbarei und ihres singulären Menschheitsverbrechens des Holocaust vorbehalten war, und das nicht inflationär verramscht werden darf. Tatsächlich sieht der russische Vernichtungsplan nicht die Ermordung ausnahmslos aller Ukrainerinnen und Ukrainer vor. Die unfassbare Dimension der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ erreicht er somit nicht.

Doch müssen wir, um den Begriff „Zivilisationsbruch“ auf die aktuellen russischen Verbrechen anzuwenden und daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen, wirklich so lange warten, bis sie das volle Ausmaß der NS-Untaten erreicht haben? Der ukrainische Holocaust-Überlebende und Vorsitzende des Verbandes der Juden in Odessa, Roman Schwarzmann. hat jedenfalls keine Furcht davor, einer unzulässigen Gleichsetzung bezichtigt zu werden, wenn er sagt: „Ist es heute nicht das Gleiche wie unter Hitler? Es ist genau dasselbe. Hitler tötete und vernichtete unschuldige Juden. Putin und sein Gefolge – oder. wie wir sagen, ‚der kollektive Putin´  – töten eine ganze Nation, ein ganzes Land. (…) Russland hat lediglich Hitlers Methoden in ein modernes Zeitalter übertragen.“

Mehr zum russischen Zivilisationsbruch: Mein Essay „Die Präsenz des Bösen“ in der Zeitschrift Internationale Politik., zu lesen auch hier: Das Böse als Realität in der Weltpolitik – Herzinger.org

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • Sehr geehrter Herr Herzinger,

    ich bin voll-kommen Ihrer Meinung. Leute wie Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht, Reinhard Merkel etc. haben keinerlei Verständnis für Moral und Ethik entwickelt, die gebieten, dem rechtswidrig Angegriffenen bedingungslos zur Seite zu stehen.
    Ihre immer wiederholten Aufforderungen zu Verhandlungen sind Sinnlos, solange Putin nicht sein Unrecht zugegeben hat. Diese Aufforderungen lassen sich nur erklären mit einer Suche nach Anlehnung an den Stärkeren, mit dem allein sie sich identifizieren können, weil ihnen Schwäche, Untergang und Verlust unerträglich sind.

    Mit freundlichen Grüßen

    Hartmut Köhler

  • Mut ist bekanntlich eine Tugend. Tugend besteht nicht darin, dass man irgendwas für sich reklamiert, sondern Praxis. Sie beweist sich in der Umsetzung. Man möchte den Menschen zurufen: Mut zur eigenen Größe! Stattdessen erleben wir eine Verzagtheit, die vor dem zivilisatorischen Bruch Putins zurückweicht, sich nicht im Mut zur eigenen Stärke, sondern Verzagtheit übt und den Barbaren doch irgendwie Recht geben möchte um sich nicht beweisen zu müssen. Wir verraten uns selbst und Putin lacht sich schlapp.

    Danke für diesen Artikel, der viel Wesentliches auf den Punkt bringt.

    Karl Valentin sagte einmal so schön: „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war“. Folgt man jenen, die uns Frieden um den Preis der Unterwerfung schmackhaft machen wollen, gibt es für uns erst einmal keine Zukunft mehr. Es scheint den wenigsten bewusst: Egal wie dieser Krieg Putins endet, ein Danach, welches das Vorher fortsetzen könnte, gibt es jetzt schon nicht mehr. Entweder Putin gewinnt oder er verliert. Gewinnt er, verlieren wir und damit die internationale, regelbasierte Ordnung. Es gilt dann wieder das Primat der Gewalt und nicht die des Rechts. Wer das nicht will, muss dazu beitragen, dass Putin diesen Krieg nicht gewinnt. Sicherheit in Europa kann es nur noch gegen und nicht mit Putin geben. Das alles kostet, aber wer diese Kosten scheut hat sich schon aufgegeben. Das Opfer, das wir bringen müssen, bringen wir nicht nur für die Ukraine, sondern auch um unserer selbst willen, für unsere Zukunft.

    Merkwürdig mutet es an, wenn jene, welche die Gefahren des Klimawandels beschwören, kein Problem mit Putin haben. Wenn der gewinnt, laufen alle Bemühungen für eine kreislauforientierte, nachhaltige Marktwirtschaft ins Leere. Nicht ohne Grund hat Lawrow schon vor drei Jahren davor gewarnt, dass Russland eine CO2-Grenzausgleichsabgabe für fossile Brennstoffe niemals hinnehmen würde. Russlands Geschäftsmodell beruht darauf, dass wir weiterhin möglichst viel fossile Brennstoffe verbrauchen. Die Forcierung erneuerbarer Energien werden von Russland als ein Angriff auf das System Putin gesehen. Man kann aber nicht für einen Frieden mit Putin sein und sich gleichzeitig für Nachhaltigkeit engagieren. Das eine schließt das andere zwingend aus. Welzer u. Co. ergehen sich da in einem performativen Widerspruch.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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