Was die Ukraine die westlichen Demokratien lehrt

Mit der Wiederwahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten ist das demokratische Europa gerade noch einmal einer politischen Katastrophe entronnen. Doch über 40 Prozent der Franzosen haben für die vom Putin-Regime finanzierte und ideologisch gesteuerte rechtsextreme Nationalistin Marine Le Pen gestimmt. Dass die antiwestlichen, kremlfreundlichen Kräfte – nicht nur von  rechts, sondern auch von links – in Frankreich sogar unter dem Eindruck des mörderischen Wütens der russischen Soldateska in der Ukraine weiter erstarken, ist ein alarmierender Hinweis darauf, wie fragil der Zustand der westlichen liberalen Demokratien tatsächlich ist – und wie schnell es mit der relativen Einigkeit des Westens gegen den Aggressor vorbei sein könnte.

Dabei setzt der heldenhafte Widerstand des ukrainischen Volkes und seiner Armee gegen den russischen Vernichtungskrieg ein epochales Zeichen für die gesamte westliche Welt. Die Ukraine führt ihr vor, welchen Einsatz und welche Entschlossenheit es im Extremfall erfordern kann, die demokratischen Werte gegen ihre Todfeinde zu verteidigen. Sie erinnert den Westen damit eine existenzielle Wahrheit: dass es einen höheren humanen Wert gibt als das bloße Überleben in trügerischem Wohlstand und vermeintlicher Sicherheit – nämlich ein Leben in Würde und Selbstbestimmung. Und sie demonstriert, welche Energien bei Menschen freigesetzt werden können, die entschlossen sind, diesen Wert zu verteidigen, statt sich unter die Knute einer zutiefst bösartigen Gewaltherrschaft zu beugen.

Dass die Ukrainerinnen und Ukrainer dabei für die Freiheit der gesamten demokratischen Welt kämpfen und sterben, muss die etablierten westlichen Gesellschaften zutiefst beschämen, die ihre Freiheiten allzu lange für selbstverständlich gehalten haben. Die liberalen Demokratien müssen das von der Ukraine gegebene Beispiel als Weckruf begreifen und ihre äußeren wie inneren Abwehrkräfte gegen die autoritäre Herausforderung massiv stärken. Dabei geht es nicht nur um die Erhöhung ihrer militärischen Verteidigungskapazitäten, sondern auch um die Steigerung der Wachsamkeit vor der Unterwanderung durch autoritäre Mächte wie Russland und China mittels Korrumpierung, Desinformation und Cyberkriegsattacken. Vor allem aber bedarf es einer grundlegenden geistigen Erneuerung der westlichen Gesellschaften durch ihre leidenschaftliche Rückbesinnung auf die universalen Freiheitswerte in der Tradition der Aufklärung

Globale Allianz

Auf weltpolitischer Ebene müssen sich die Demokratien viel enger zusammenschließen. Nicht nur müssen sie alles in ihrer Macht stehende tun, um der Ukraine zum Sieg über die Invasoren zu verhelfen, sie müssen darüber hinaus Vorkehrungen dagegen treffen, jemals wieder auf dieselbe Weise von einer kriegerischen Aggression wie der Russlands überrumpelt zu werden. Notwendig ist daher die Gründung einer globalen Allianz der Demokratien als einer permanenten Struktur, in der ein gemeinsames Vorgehen im Umgang mit autoritären Mächten abgestimmt werden kann –  was auch die konsequente Unterstützung und Verteidigung von Demokratiebewegungen rund um die Welt beinhaltet.

Diese Allianz  muss insbesondere in den Vereinten Nationen aktiv werden, die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine faktisch außer Funktion gesetzt ist. Mit einer Vetomacht im Sicherheitsrat, die die UN-Prinzipien aggressiv negiert, gibt es für die Weltorganisation keine Zukunft mehr. Die Allianz der Demokratien müsste daher den Nukleus für eine von Grund auf erneuerte oder sogar neu zu gründende UN bilden.

Dazu heißt es endgültig Abschied zu nehmen von der lange Zeit gehegten romantischen Illusion, das Entstehen einer „multipolaren Weltordnung“ nach dem Ende des Kalten Kriegs werde zu mehr Sicherheit, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen führen. Ausgehend von einem grundsätzlich berechtigten Schuldgefühl angesichts der europäischen Kolonialgeschichte hat sich im Westen in den vergangenen Jahrzehnten ein Kulturrelativismus verbreitet, der über die Untaten brutaler Unterdrückerregime außerhalb Europas und Nordamerikas hinwegsah – mit der Begründung, ein zu starkes Insistieren auf die Geltung universaler Werte stelle eine Missachtung der „kulturellen Eigenart“ der betreffenden Nationen dar. Gegenüber Russland äußerte sich dieser Relativismus in dem Argument, aufgrund seiner autoritären Tradition seien demokratische Werte auf das Land nicht einfach übertragbar. Die russische Gesellschaft benötige vielmehr eine starke Hand, um sie in eine graduelle „Modernisierung“ zu führen. Dieses Konstrukt, mit dem große Teile der westlichen Öffentlichkeit diktatorische Herrschaft legitimierte, hat den Aufstieg des Putin-Regimes maßgeblich begünstigt

Taiwan im Visier

Exemplarisch wurde das kulturrelativistische Syndrom bereits 1997 sichtbar, als Großbritannien seine Kronkolonie Hongkong an die Volksrepublik China übergab, ohne die betroffene Bevölkerung zuvor in einer Volksabstimmung nach ihrem eigenen Willen zu befragen. Um vom britischen Imperialismus begangenes Unrecht an der chinesischen Nation wiedergutzumachen, missachtete London seine eigenen demokratischen Prinzipien und lieferte Hongkong der Willkür des totalitäre Regimes in Peking aus. Nachdem sie dieses jüngst gewaltsam gleichgeschaltet haben, drohen Chinas Machthaber jetzt dem demokratischen Taiwan mit militärischer Eroberung und stimmen sich bei ihren Aggressionsplänen mit Putins Russland ab. Dabei machen die chinesischen Führer keinen Hehl daraus, dass sie mittelfristig die weltweite Vorherrschaft anstreben.

Tatsächlich ist die Weltpolitik mehr denn je von der Konfrontation zwischen Demokratie und autokratischer Herrschaft gekennzeichnet wie heute. Daraus folgt, dass die Demokratien wieder zur dominierenden Kraft in den globalen Beziehungen werden müssen. Die Alternative wäre keine friedfertige Vielfalt von miteinander kooperierenden Mächten, sondern das weitere Vordringen des Autoritarismus, der nicht Halt machen wird, bis er die liberalen Demokratien und ihre freiheitlichen Ideale vollständig vom Erdboden getilgt hat.

Das Eintreten für ihre gemeinsamen Werte muss für die Außenpolitik von Demokratien künftig eindeutig Priorität vor kurzfristigem machtpolitischem und wirtschaftlichem  Kalkül haben. Es hat sich erwiesen, dass ein vermeintlicher „Realismus“, der das Einstehen für Werte allenfalls als schmückendes Beiwerk einer angeblich nüchternen „Interessenspolitik“ betrachtet, in Wahrheit Ausdruck einer fatalen Realitätsverleugnung ist. Westliche Demokratien übten viel zu lange Nachsicht mit Putins Aggressionspolitik, weil sie nicht auf die scheinbaren Segnungen fruchtbarer Wirtschaftsbeziehungen verzichten wollten. Mit dem russischen Vernichtungskrieg aber, der durch diese Politik begünstigt wurde, ist der Handel mit Russland nunmehr so gut wie vollständig zum Erliegen gekommen. Wer freiheitliche Prinzipien um angeblich unverzichtbarer ökonomischer Vorteile willen hintenanstellt, steht am Ende gerade auch in dieser Hinsicht mit leeren Händen da

Der Text ist die erweiterte deutsche Fassung meiner jüngsten Kolumne in Український тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua.).

Lesen Sie auch meinen jüngsten Essay in der Zeitschrift „Internationale Politik“: Wider die Begünstigung des Putinismus

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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