Putins Griff nach der Holocaust-Erinnerung

Vorbemerkung: Der internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar soll dem Vergessen dieser größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte entgegenwirken. Doch je weiter sie zurückliegt und je weniger es noch Überlebende gibt, die von dem Grauen der Judenvernichtung lebendiges Zeugnis ablegen können, um so größer wird die Gefahr, dass das Gedenken daran ins historisch Abstrakte entrückt. Davon können Geschichtsrevisionisten und -relativierer unterschiedlicher Couleur profitieren. Zu den „klassischen“ Formen der Leugnung, Verharmlosung oder Uminterpretation des Holocaust kommt dabei aber zunehmend eine noch weithin unterschätzte Form des verfälschende Zugriffs auf die historische Wahrheit: Ihre scheinbare Affirmation zwecks ihrer Instrumentalisierung für nationalistische und hegemoniale Ziele. Vor Jahresfrist setzte Wladimir Putin dafür einen fatalen Maßstab: Seine Rede vor dem World Holocaust Forum in Yad Vashem nutzte er dazu, die Holocaust-Erinnerung seinem neosowjetisch-großrussisches Narrativ einzuverleiben. Der Kreml-Herrscher ist indes nicht der einzige Akteur auf diesem Gebiet.

Ein Dreivierteljahrhundert nach dem Holocaust droht das Gedenken an das beispiellose Menschheitsverbrechen verstärkt für globalstrategische Zwecke instrumentalisiert zu werden. Dabei demonstriert Russlands Staatschef Wladimir Putin, wie dieses für autoritäre und neoimperiale Ziele eingesetzt werden kann. In seinem Bestreben, das sowjetische Narrativ über den Zweiten Weltkrieg zu restaurieren, versucht er nicht nur, unliebsame Wahrheiten wie die Komplizenschaft Stalins mit Hitler in den Jahren 1939 bis 1941 zum Verschwinden zu bringen und stattdessen Polen, das Opfer des damaligen Pakts zweier totalitärer Diktaturen, der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu überführen. Putin beansprucht für die sowjetische Siegermacht zudem, die maßgebliche Kraft bei der Befreiung der Menschheit vom Nationalsozialismus ebenso wie bei der Beendigung des Holocaust gewesen zu sein. Das heutige Russland wiederum soll die Kontinuität dieses historischen Verdienstes verkörpern.

Fragwürdige Selbsterhöhung

Im Kontext der sowjetischen Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“, welche der Kreml-Herrscher im Dienste seiner großrussisch-nationalistischen Ziele wiederzubeleben versucht, ist die explizite Formulierung des Anspruchs, Retter der europäischen Juden gewesen zu sein, ein Novum. Denn der Holocaust als ein gegenüber dem Kriegsgeschehen gesondert zu betrachtendes Verbrechen durfte der kommunistischen Ideologie gemäß zu Sowjetzeiten öffentlich nicht einmal erwähnt werden. Die ermordeten Juden wurden einfach unter jene „sowjetischen Bürger“ subsumiert, die dem deutschen Überfall zum Opfer gefallen waren. Dass die Rote Armee im Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit hat, bedeutet keineswegs, dass die sowjetische Führung jemals ein besonderes Interesse an dieser Operation gehabt oder spezielle Anstrengungen unternommen hätte, das Judentum vor der Vernichtung zu bewahren. Auschwitz lag lediglich auf der Vormarschroute der Roten Armee, genauso wie Buchenwald, Mauthausen und Dachau auf dem Weg der US-Truppen lagen und Bergen-Belsen sich auf dem der britischen Armee befand.

Indem Putin das Holocaust-Gedenken nationalistisch kapert, stellt er die moralische Basis der westlich-demokratischen Gesellschaften fundamental infrage.

Im Blick auf den Holocaust hat keine der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs Anlass zur Selbstbelobigung – auch keine westliche. Obwohl das ganze Ausmaß der Judenvernichtung den USA und Großbritannien spätestens seit dem Frühjahr 1944 bekannt war, konnten sie sich nicht zu gezielten Aktionen gegen die Infrastruktur der NS-Mordmaschinerie wie der Bombardierung der Gaskammern und der Zufahrtsgleise nach Auschwitz durchringen. So versäumten sie es, die Vernichtung zumindest zu verzögern und womöglich Hunderttausenden – namentlich den bis dahin noch nicht deportierten ungarischen Juden – das Leben zu retten. Was die Sowjetunion betrifft, spielte der Holocaust in ihrer Kriegsplanung gar keine Rolle, und der ihrer revolutionär-antikapitalistischen Ideologie inhärente Antisemitismus setzte sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen „Kosmopolitismus“ und „Zionismus“ über 1945 hinaus ungebrochen fort.

Im Rückblick auf den NS-Judenmord gibt es für die gesamte Weltgemeinschaft nur eine angemessene Reaktion: Scham über ihr historisches Versagen. In den großen westlichen Demokratien immerhin ist Selbstkritik am eigenen Verhalten, von der Appeasement-Politik in den dreißiger Jahren bis zur Weigerung, größere Zahlen von jüdischen Flüchtlingen aus Europa aufzunehmen, inzwischen zu einem unhintergehbaren Aspekt der Holocaust-Erinnerungskultur geworden. Putin hingegen nutzt das Gedenken an den NS-Judenmord, um den von ihm – nicht zuletzt mittels martialischer Militärparaden – betriebenen Kult der Stärke und Unfehlbarkeit Russlands zu befeuern.

Teil der hybriden Kriegsführung

Dabei steht ausser Zweifel, dass der Sieg über Hitlerdeutschland zu einem bedeutenden Teil dem Abwehrkampf der Völker der Sowjetunion zu verdanken ist und dass diese im Krieg unter den alliierten Nationen die weitaus grösste Zahl an Opfern zu beklagen hatten. Die Sowjetunion bestand aber eben nicht nur aus Russland, sondern auch aus Nationen wie der Ukraine und Belarus, die ihrerseits die größte Last der deutschen Okkupation zu tragen hatten – war doch ihr Territorium zu einhundert Prozent besetzt, dasjenige Russlands dagegen zu etwa zehn Prozent. Diese inzwischen unabhängigen Länder aber sind heute Zielscheibe von Aggression und Obstruktion vonseiten des Kreml im Hinblick auf ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung . Dass dieser seine Gewaltpolitik gegenüber Nachbarstaaten in den Glanz der Befreiung vom Nationalsozialismus und nun auch noch der Beendigung des Holocaust tauchen will, lässt sich nur als zynisch bezeichnen.

Putins Vereinnahmung der Holocaust-Erinnerung folgt der Logik seiner hybriden Kriegsführung gegen die westlichen liberalen Demokratien und ihr auf freiheitlichen Werten aufbauendes Projekt einer liberalen Weltordnung. Putin und seine Propaganda-Spezialisten wissen genau um die konstitutive Bedeutung der historischen Interpretation des Zweiten Weltkriegs für das Selbstverständnis und den Zusammenhalt der westlichen Wertegemeinschaft.

Die diesbezügliche westliche Geschichtsdeutung lässt sich knapp so zusammenfassen: Der Zivilisationsbruch, der im Holocaust kulminierte, markiert den tiefsten Abgrund der Menschheitsgeschichte. Nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus und der Überwindung auch des zweiten Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, des kommunistischen, in den Jahren 1989 bis 1991 hätten Europa und die gesamte westliche Welt aus dieser doppelten Katastrophe die richtigen, freiheitlichen Lehren gezogen. Die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie sowie das Streben nach friedlicher Kooperation der Staaten auf globaler Ebene gilt als die adäquate Antwort auf die durch den Holocaust in apokalyptischer Weise offenbar gewordene ständige Bedrohung der zivilisatorischen Grundlagen der Menschheit.

Brüchig gewordenes Gedenken

Indem Putin das Holocaust-Gedenken nun nutzt, um sein autoritäres Gegenmodell zur liberalen Demokratie zu legitimieren, stellt er dieses Kernelement des westlich-demokratischen Selbstverständnisses und der daraus abgeleiteten Vision einer liberalen Weltordnung fundamental infrage. Auf deren Obstruktion zielt sein Vorschlag, das System von Jalta zu reanimieren, in dem Großmächte über die Aufteilung der Welt bestimmen – mit Russland in der Rolle der einstigen Sowjetunion.

Dabei hat Putin offenbar erkannt, wie brüchig das Fundament des offiziellen Holocaust-Gedenkens im multikulturellen Westen tatsächlich ist. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich hier eine Art Erinnerungsroutine eingeschlichen, welche die richtigen Lehren aus dieser Menschheitskatastrophe tendenziell als selbstverständlich voraussetzt. Entsprechend schlecht vorbereitet sind die westlichen politischen und kulturellen Eliten darauf, dass der Kreml aus diesem Gedenken jetzt ganz andere Schlussfolgerungen zieht als die der Einführung demokratischer und pluralistischer Verhältnisse.

Zumal sich auch innerhalb des Westens Risse im Konsens über die adäquate Deutung der Shoah abzeichnen. So ist in diversen osteuropäischen Ländern zu beobachten, dass der Holocaust zwar keineswegs negiert oder minimiert, sondern das Gedenken an ihn sogar aktiv hochgehalten wird – jedoch so, dass es sich nahtlos in die jeweils eigene nationale Opfer- und Heldengeschichte einfügt.

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Glaubt man etwa der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS, gab es in Polen während des Krieges fast nur selbstlose Helfer verfolgter Juden. Tatsächlich gab es zahlreiche Polen, die Juden gerettet haben oder zu retten versuchten. Unter den in Yad Vashem als „Gerechte der Völker“ Geehrten finden sich mehr polnische Bürger als Angehörige irgendeiner anderen Nation. In Polen gab es zudem eine von der Exilregierung gestützte Untergrundorganisation, die sich ausschließlich der Rettung verfolgter Juden widmete.

Die ebenfalls reale dunkle Seite der historischen Wahrheit, namentlich den tief verwurzelten polnischen Antisemitismus, möchte die PiS-Regierung jedoch möglichst ganz aus der nationalen Geschichtserzählung ausblenden. Wer sie zu intensiv beleuchtet, wird von ihr sogar per Gesetz mit Strafe bedroht. Analoge Tendenzen sind in Ungarn zu beobachten. Dass sich etwa der ungarische Diktator Horthy, dessen Regime militärisch mit Hitlerdeutschland paktierte, bis zur Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht im März 1944 der Auslieferung der Juden seines Landes an die NS-Vernichtungsmaschinerie widersetzte, genügt Viktor Orbán und seinen Gefolgsleuten, um Horthy selbst zum Opfer nationalsozialistischer Aggression zu stilisieren. Und auch anderswo in Osteuropa, so etwa in den baltischen Staaten oder der Ukraine, tut man sich schwer damit, die Kollaboration eigener Landsleute mit der NS-Vernichtungsmaschinerie zu thematisieren. Der Opfer des Holocaust zu gedenken, zugleich aber fragwürdige historische Protagonisten, die der NS-Ideologie nahestanden oder sich gar an den NS-Verbrechen beteiligten, als nationale Freiheitshelden zu ehren, wird dort vielfach nicht als Widerspruch gesehen.

Die Versuche zur Einpassung der Holocaust-Erinnerung in nationalistische Narrative sind jedoch nicht auf Osteuropa beschränkt. Blanke Holocaust-Leugnung und offener Judenhass bleiben zwar auch weiterhin ein bedrohliches und sogar wachsendes Problem. Doch die erfolgreichsten rechtsextremen Parteien in Westeuropa, von der französischen Le-Pen-Partei über die österreichische FPÖ bis zur deutschen AfD, haben mittlerweile begriffen, dass sie ohne Anerkennung der Realität des NS-Judenmords in der gesellschaftlichen Mitte nicht reüssieren können. Zu unwiderruflich scheint die Universalisierung zum ultimativen negativen Geschichtszeichen, die der Holocaust seit den siebziger Jahren erfahren hat.

Ihre antisemitischen Affekte verbergen die Rechtsnationalen daher nun hinter einer eifrig zur Schau gestellten angeblichen Juden- und Israelfreundlichkeit. Die berüchtigte Äußerung des ehemaligen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland, Deutschland müsse zwar die Verantwortung für die zwölf Jahre Hitlerdiktatur übernehmen, doch seien diese nur ein „Vogelschiss“ in eintausend Jahren großer deutscher Geschichte, hat das Wesen dieses Doppelspiels offenbart: Das Gebot der Erinnerung an den Holocaust wird widerwillig affirmiert, damit es der Wiederherstellung eines ungebrochenen nationalen Selbstbewusstseins nicht mehr im Wege steht.

Der Text ist die leicht überarbeitete und ergänzte Fassung meines Artikels, der in der Neuen Zürcher Zeitung am 14.9.2020 .erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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