Überlasst Belarus nicht Putins Imperium des Verbrechens!

Im Schatten des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine ist die Lage in Belarus weitgehend aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit geraten. Und damit das Schicksal der politischen Gefangenen, die im Zuge der brutalen Niederschlagung des im Sommer 2020 ausgebrochenen Volksaufstandes gegen das Lukaschenko-Regime inhaftiert wurden. Dabei ist die Behandlung, der sie in der Haft ausgesetzt sind, in höchstem Maße alarmierend.

Einige der willkürlich gefangen gehaltenen führenden Köpfe der demokratischen Opposition wie Maria Kalesnikava, das strahlende Gesicht der Demokratiebewegung von 2020, werden seit Monaten vollständig von der Außenwelt isoliert, jeglicher Kontakt zu Anwälten und Angehörigen wird unterbunden. Die Sorge ist groß, dass das Regime sie nicht mehr lebend aus seinen Fängen lassen will. Die exilierte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja erhielt kürzlich sogar eine anonyme Nachricht, ihr Ehemann Sergej Tichanowski sei in der Haft gestorben.

Tichanowski war bereits nach seiner Ankündigung, für die Präsidentschafttswahl in Belarus 2020 zu kandidieren, verhaftet worden. An seiner Stelle trat Tichanowskaja bei der Wahl an, aus der sie wohl als Siegerin hervorgegangen wäre, hätte das Lukaschenko-Regime nicht massivste Wahlfälschung begangen. Ende 2021 wurde Sergej Tichanowski wegen „Vorbereitung und Organisation von Massenaufständen“ zu 18 Jahren Haft in einem Straflager unter verschärften Bedingungen verurteilt – eines der zahllosen Willkürurteile, die von der Terrorjustiz des Minsker Regimes in den vergangenen drei Jahren verhängt worden sind.

Mord auf Raten?

Mittlerweile ist allerdings ein aktuelles Video aufgetaucht, das Tichanowski lebend zeigt. Doch man muss davon ausgehen, dass sich der Gesundheitszustand auch anderer prominenter Gefangener wie Kalesnikava, die zu 11 Jahren Haft verurteilt ist, und Viktor Babaryka – ein weiterer verhinderter Präsidentschaftskandidat von 2020 -, der eine Strafe von 14 Jahren absitzen muss, bedrohlich verschlechtert hat. Kalesnikava musste im vergangenen November wegen eines Magengeschwürs operiert werden. Ihre Schwester Tatsiana Khomich teilte vergangenen Montag bei einer Podiumsdiskussion der Belarusischen Gemeinschaft Razam und des Projekts „Europäisches Netzwerk für Belarus“ in Berlin mit, dass sie seit nunmehr einem knappen halben Jahr keinerlei Information mehr darüber erhalte, wie es Kalesnikava geht. Es ist zu befürchten, dass ihr Leben akut bedroht ist.

Laut dem Menschenrechtszentrum Viasna gibt es in Belarus aktuell 1496 politische Gefangene, nach Erhebungen einer andere Menschenrechtsgruppierung sind es 1750. Legt man weiter gefasste Kriterien für politische Verfolgung an, kommt man sogar auf 4500 bis 5000 oder sogar mehr Belarusinnen und Belarusen, die aus politischen Gründen festgehalten werden. Razam errechnet aus diesen Zahlen eine Rate von 167 politischen Gefangenen auf eine Million Einwohner – eine Relation, die selbst die in der Sowjetunion der frühen 1980er Jahre und im heutigen Russland weit in den Schatten stellt.

Doch nicht nur wegen des Mordes auf Raten, den Putins Minsker Marionettenregime an politischen Gefangenen begeht, müsste der Westen über die Lage in Belarus in höchstem Maße beunruhigt sein. In Folge der vermeintlichen Meuterei des „Wagner“-Söldnerführers Prigoschin, über deren Hintergründe bisher tatsächlich kaum etwas bekannt ist, ergehen sich westliche Kommentatoren und „Russland-Experten“ in heftigen Spekulationen über Risse im putinistischen Herrschaftssystem. Nicht, dass es keine Anzeichen für Friktionen im russischen Mafia-Staat geben würde – darauf bauen, dass er dadurch in absehbarer Zeit geschwächt wird, sollte man allerdings nicht (vgl. hier). Auszugehen ist viemehr davon, dass sich der putinistische Machtapparat und seine Kriegsmaschine in Folge der Prigoschin-Episode eher noch aggressiver aufstellen.

Die Teilnehmer/inn/en der Diskussionsrunde „Echoes of Silence“ über politische Gefangene in Belarus am 3.7.23 in Berlin, v..l.: Robin Wagener (MdB, Bündnis 90/Die Grünen), Liudmila Kazak (Rechtsanwältin), Tatsiana Khomich, Marco Fieber (Menschenrechtsorganisation Libereco), Ina Rumantsieva (Razam).

Der Verdacht liegt nahe, dass mit der angekündigten Installierung der „Wagner“-Terrortruppe auf belarusischem Boden nicht nur die vollständige Einverleibung von Belarus in die „Russische Föderation“ weiter vorangebracht, sondern das Land auch in die aktive Kriegsteilnahme getrieben werden soll. Nach der russischen Ankündigung, dort Atomwaffen zu stationieren, ist die Transferierung der Söldner ein weiteres starkes Indiz dafür, dass Belarus als selbstständiger Staat faktisch zu existieren aufgehört hat und zur Verfügungsmasse des Kreml-Regimes und seiner genozidalen Eroberungsgelüste degradiert worden ist. Doch wie bereitwillig und militärisch befähigt ist die belarusische Armee tatsächlich, sich für Russland in die Schlacht zu stürzen? Mit dem Aufbau einer Söldnertruppe in Belarus, die die Ukraine vom Norden her angreifen könnte, hat der Kreml womöglich im Sinn, dort eine parallele militärische Struktur zu schaffen. Damit könnte die reguläre belarusische Armee, wenn nicht ersetzt, so doch unter erheblichen Druck gesetzt werden, sich kriegstauglich zu machen.

Dass die in Haft sitzenden Köpfe der demokratischen Opposition vollständig isoliert und brutalsten Haftbedingungen ausgesetzt werden, lässt einen Zusammenhang mit der Zurichtung von Belarus für seine direkte Teilnahme am russischen Vernichtungskrieg erahnen. Nach Angaben von Razam, die sich unter anderem auf Erhebungen von Chatham House stützen, sollen bis zu 90 Prozent der Belarusinnen und Belarusen dem Krieg ablehnend gegenüberstehen. Im Falle eines Angriffs auf die Ukraine von belarusischem Boden aus und im belarusischen Namen, soll es nach dem Willen der Moskauer Machthaber innerhalb des Landes keine Kraft mehr geben, die dieser Antikriegshaltung in der Bevölkerung eine Stimme verleihen könnte.

Wenn mit der Installierung der Wagner-Söldner in Belarus tatsächlich ernst gemacht wird, bedeutet dies aber auch eine schwerwiegende Bedrohung der Sicherheit der angrenzenden NATO-Staaten Lettland, Litauen und Polen, die zum Ziel von Vorstößen dieser schwer bewaffneten Verbrecherorganisation werden könnten. Das Putin-Regime könnte sich bei solchen Attacken auf NATO-Gebiet darauf herauszureden versuchen, dass die „private“ Wagner-Truppe ja nicht staatlichen Stellen unterstehe und es deshalb nicht dafür verantwortlich sei. Damit wird eine Gefahr real, die seit langer Zeit abzusehen war, aber nicht angemessen ins Auge gefasst wurde.

Belarus in den Fängen Putins

Dass Belarus derartig reibungslos in die Hände von Putins Russland fallen konnte, ist nicht zuletzt der unzulänglichen Politik des Westens im Blick auf die demokratische Massenbewegung von 2020 und ihre brutale Unterdrückung geschuldet. Zwar rang sich die EU – eher zögerlich – zu Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime durch, doch an den Kern des Problems wagte man sich nicht heran: an Putins Russland. Sträflicherweise verzichtete man darauf, Russland für seine massive Einflussnahme in Belarus zu sanktionieren. Dabei musste jedem einigermaßen informierten Beobachter frühzeitig klar sein, dass sich Lukaschenko ausschließlich dank der Unterstützung und Anleitung durch den putinistischen Repressionsapparat an der Macht halten konnte.

Doch statt dessen kursierte in deutschen Medien lange Zeit die geradezu naive Vorstellung, der Kreml werde mit der belarusischen Demokratiebewegung vielleicht weniger rigide umspringen als mit der ukrainischen, da erstere im Gegensatz zu letzterer nicht den Beitritt in die EU propagiere und keine Europafahnen schwenke. Manch ein westlicher Kommentator verstieg sich gar zu der Mutmaßung, auch Moskau könnte ein Interesse an Reformen in Belarus haben, sei ihm doch selbst klar, dass mit Lukaschenko kein Staat mehr zu machen sei. Leider wurden solche Illusionen in die Einsichtsfähigkeit des russischen Regimes auch von Teilen der belarusischen Oppositionsbewegung selbst gehegt.

Als Folge solcher Fehleinschätzungen ging die westliche Politik mit den Ereignissen in Belarus um, als handele es sich dabei im wesentlichen um eine rein innerbelarusische Angelegenheit. – und nicht etwas um einen Teilkonflikt im Rahmen der epochalen Konfrontation zwischen dem demokratischen Europa und dem russischen Neo-Autokratismus. So wurde die Gefahr einer Übernahme von Belarus durch Russland unterschätzt, und es blieb unterbelichtet, welch fatale sicherheitspolitischen Konsequenzen diese für das freie Europa insgesamt haben würde.

Es war schon 2021 klar…

Bereits im September 2021 schrieb ich „von höchst besorgniserregenden Schritten hin zu einer – offiziellen oder faktischen – Eingliederung von Belarus in die Russische Föderation“. Und weiter:

„Mit der Gleichschaltung und faktischen Angliederung von Belarus aber rückte Putins unmittelbarer Herrschaftsbereich erheblich näher an das demokratische Europa heran. An der gesamten Ostgrenze der baltischen Staaten und der Hälfte der Ostgrenze Polens entstünde dann ein potenzielles Aufmarschgebiet für die russische Militärmacht. Und die Ukraine wäre dann nicht nur im Osten und Südosten, sondern auch vom Norden her von Putins Russland umringt. Diese Umzingelung aber würde die Gelüste Moskaus, die ganze Ukraine durch eine offene militärische Invasion wieder in seinen Einflussbereich zurückzuzwingen, massiv befeuern. Das ideologische Rechtfertigungsszenario dafür hat Putin bereits öffentlich dargelegt, als er kürzlich in einer geschichtsfälschenden Rede die Russen und Ukrainer – wie übrigens auch die Belarusen – zu „einem Volk“ erklärte.

Nicht nur die horrenden Menschenrechtsverletzungen in Lukaschenkos Folterstaat müssten den Westen daher zu einem deutlich schärferen Vorgehen gegen das Lukaschenko-Regime, aber eben vorrangig auch gegen den Kreml und seine entscheidende Rolle bei der brutalen Unterdrückung der belarusischen Opposition bewegen. Auch im Interesse der eigenen Sicherheit dürfen die europäischen Demokratien nicht untätig zusehen, wie das Land in Putins neosowjetischem Imperium aufgeht.“

Tragik der Opposition

Die belarusische demokratische Opposition, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben ist, befindet sich heute in einer tragischen Situation. Im Inneren so gut wie vollständig aufgerieben, kann sie nur noch aus dem Exil agieren und muss mehr oder weniger hilflos zusehen, wie ihr Land vom putinistischen Russland aufgesogen und in einen verbrecherischen Angriffskrieg hineingezogen wird. Aus eigener Krsft nicht in der Lage, diese Entwicklung aufzuhalten, kann die Opposition, um das Blatt noch einmal zugunsten des Fortbestands der belarusischen Nation zu wenden, nur auf den Sieg der Ukraine hoffen, der den russischen Terrorstaat in seinen Grundfesten erschüttern würde – wodurch sich auch der Würgegriff lösen könnte, in dem Belarus vom Kreml gehalten wird.

Auf dem Podium in Berlin betonte Tatsiana Khomich, dass die Rettung des Lebens der politischen Gefangenen für die Bestrebungen der belarusischen Opposition wie für die Belarus-Politik des Westens oberste Priorität haben müsse. Dazu müssten Kommunikationskanäle mit dem Regime offen gehalten werden, mittels der pragmatische Lösungen zur Freilasung der Inhaftierten eruiert werden könnten. Überhaupt dürfe Belarus nicht vollständig isoliert werden, um zu verhindern, dass seine Bevölkerung allein der russischen Propaganda und Desinformation ausgesetzt ist.

Doch obwohl Khomich betont, dass der Dialog mit Minsk nicht um den Preis der Aufweichung von Sanktionen fortgesetzt werden dürfe, ist ihre Position innerhalb der belarusischen Opposition höchst umstritten. Wie mit dem Minsker Regime verhandelt werden könnte, ohne es aufzuwerten, leuchtet in der Tat nur schwer ein. Zumal dieser Ansatz noch immer von der Vorstellung geprägt zu sein scheint, das Lukaschenko-Regime verfüge nach wie vor über einen Spielraum von Entscheidungsfreiheit jenseits des Diktats seiner Schutzherren in Moskau.

Das Dilemma, das in Khomichs Position aufscheint, ist jenes, vor dem auch die westliche Politik gegenüber Belarus steht. Obwohl das Land selbst Opfer der russischen Expansion geworden ist, kann es unter seinem jetzigen Regime nicht anders behandelt werden denn als ein Bestandteil der russischen Aggressionsmaschinerie. Umso mehr gilt es aber, die tapferen Frauen und Männer nicht im Stich zu lassen, die in belarusischen Knästen und Straflagern dafür büßen müssen, an vorderster Front und in beeindruckender Weise auch für uns und unsere Freiheitswerte gekämpft zu haben.

Maria Kalesnikava

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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