Afghanistan: Die Selbstaufgabe des Westens geht weiter

Vor drei Wochen schrieb ich über Joe Bidens anstehende Entscheidung über den Verbleib oder Rückzug der US-Truppen in Afghanistan – mit welchem das Land faktisch den Taliban ausgeliefert würde -, dies sei ein Testfall für sein Versprechen, die westlichen Demokratien weder global in die Offensive zu bringen: „Namentlich die afghanischen Frauen würden unter der Taliban-Herrschaft erneut ihrer Rechte beraubt und wären schutzlos dem Sadismus der islamistischen Fanatiker ausgeliefert. Ließe Biden das zu, würde sich sein Leitmotiv ´America is back´ nicht nur aus dem Blickwinkel der Opfer in zynischen Hohn verwandeln.“

Genau das aber ist nunmehr eingetreten. Biden will die letzten US-Truppen in Afghanistan bis zum 11. September abziehen. Welch eine makabre Symbolik! Am 20. Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center räumt Washington das Terrain für die Hintermänner dieses terroristischen Massenmords – nachdem zwei Jahrzehnte der Verteidigung Afghanistans gegen den islamistischen Totalitarismus Tausenden amerikanischen Soldaten das Leben gekostet hat.

Und Biden verkauft diesen fluchtartigen Abzug auch noch als die Besiegelung eines Erfolgs: Die US-Truppen seien vor 20 Jahren gekommen, um zu verhindern, dass je wieder Terror von Afghanistan ausgeht – und diese Aufgabe sei erfüllt! Woher er den Optimismus nimmt, dass die Islamisten, die jetzt einen beispiellosen Triumph über ihren Todfeind Amerika feiern können, die USA zukünftig von Anschlägen verschonen wird, weiß wohl nur der Himmel. Die enormen Ressourcen an Geld, Material und Personal, die Washington zur Stabilisierung Afghanistans investiert hat, erwähnt er erst gar nicht. Dass er diese Investitionen just in den Wind schießt, das sie langsam Früchte zu tragen begingen, klingt nicht nach „America is back“ – sondern vielmehr nach „America First“ in der Version Bidens.

Der US-Rückzug aus Afghanistan erinnert auf düsterste Weise an den aus Südvietnam 1975, das anschließend dem kommunistischen Norden in die Hände fiel. Doch damals hatte Washington zur Gesichtswahrung zumindest noch einen „Friedensvertrag“ ausgehandelt – auch wenn der kaum das Papier wert war, auf das er geschrieben wurde. Biden hingegen hält es nicht einmal für nötig, sich für den bedingungslosen Abzug aus Afghanistan ein solches Alibi zu verschaffen. Vage Zusagen, die afghanische Regierung weiterhin zu unterstützen und nebulöse Hinweise auf die Fortsetzung von Friedensgesprächen, an denen die Taliban derzeit nicht einmal teilnehmen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der US-Rückzug ohne jede Vorsorge für die Zeit danach beschlossen worden ist.

Biden hat diese Entscheidung übrigens getroffen, ohne sich dafür das Plazet der europäischen Verbündeten einzuholen. So viel zum Thema: „neue Gemeinsamkeit des westlichen Bündnisses.“ Jetzt stehen die Europäer, denen von Washington Konsultationen und Koordination versprochen worden waren, wie begossene Pudel da und packen am Hindukusch eilends ebenfalls ihre restlichen Sachen zusammen. Seit Jahren hatten sie ihrerseits bereits den eigenen Rückzug vollzogen und nur minimale Kontingente in Afghanistan zurückgelassen, die das Kämpfen gegen die Taliban gänzlich den USA überließen. Jetzt, da die amerikanische Führungsmacht dieses Spiel nicht mehr mitspielen will, erwacht plötzlich ihr Durchhaltewille, und sie beklagen sich über das übereilte Vorgehen Washingtons. Da sie am Hindukusch nicht mehr an den Rockschößen des großen Verbündeten hängen können, machen sie sich nun leicht pikiert ihrerseits schleunigst davon. Dass sie auf die Idee kommen könnten, von sich aus das Vakuum zu füllen sich stärker politisch und militärisch in Afghanistan zu engagieren, ist selbstredend ausgeschlossen.

Das erste große außenpolitische Signal, das der neue US-Präsident setzt, steht in diametralem Kontrast zu seiner Ankündigung, den internationalistischen Geist der USA neu zu beleben. Es lautet: Auch nach der Ära Trump geht der Rückzug aus der globalen Führungsrolle der USA und damit die Selbstaufgabe des Westens unvermindert weiter. Für Moskau und Peking bietet das Anlass zu triumphalem Jubel. Nicht nur dient die Kapitulation des Westens in Afghanistan ihnen als neuerlicher Beleg für ihre Überzeugung, dass dieser in unaufhaltsamem Niedergang begriffen sei. In der Hoffnung, nach dem Ende der US-Präsenz doch noch einigermaßen stabile Verhältnisse in Afghanistan zu bewahren, muss sich Washington mit ihnen als potenzielle „Sicherheitspartner“ ins Benehmen setzen. (Und das, obwohl der Kreml enge Beziehungen zu den Taliban pflegt und ihnen noch vor Kurzem Kopfgeld für die Tötung von US-Soldaten angeboten haben soll.)

Das bedeutet nicht zuletzt, dass Bidens Entschlossenheit, Russland und China auf globaler Ebene die Stirn zu bieten, eher gebremst wird. Für die Ukraine, die sich dem drohenden Einmarsch der russischen Armee gegenübersieht und auf entschiedenen Beistand de USA hofft, ist das kein gutes Vorzeichen. Doch darüber an dieser Stelle in Kürze mehr.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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