Putins Krieg: Erst die Ukraine, dann der ganze Westen

Die bisherige, im wesentlichen nur verbale Reaktion des Westens auf Russlands Agressionsdrohungen reicht nicht aus, um Putin von seinem möglichen Großangriff auf die Ukraine abzuhalten. Mit der massiven Invasion des Landes durch die russische Armee ist daher jederzeit zu rechnen. Doch mit der von ihm angestrebten Zerstörung der ukrainischen Demokratie und Unabhängigkeit wird sich der Kreml nicht zufrieden geben. Putins Krieg hat gerade erst begonnen: Er will nichts weniger als die ganze Welt nach seinen Vorstellungen neu ordnen – und droht der NATO bereits kaum verhohlen mit militärischer Aggression. Noch immer aber wird die globale Dimension dieser Herausforderung im Westen sträflich unterschätzt.

Putin will den Krieg. Mehr noch: Er braucht den Krieg. Der Westen dagegen klammert sich an „Dialog“ und Diplomatie – aus Ratlosigkeit darüber, wie er die Aggressionsmaschine der Moskauer Autokratie stoppen soll, ohne ihr mit aller Konsequenz entgegenzutreten. So hofft man, Putin von der nächsten Drehung an der Gewaltschraube abzuhalten, indem man ihn so lange wie möglich in Gespräche verwickelt. Die diversen Gesprächsrunden Washingtons, der NATO und der OSZE mit Russland, wie auch zuletzt das Treffen der Außenminister Blinken und Lawrow in Genf haben indes nicht mehr erbracht als die Aufwertung von Putins Russland zu einem Verhandlungspartner auf Augenhöhe – namentlich mit der Weltmacht Nummer eins. Einen ersten symbolischen Erfolg konnte der Kreml den USA dabei bereits abtrotzen: Präsident Biden wird, wie vom Kreml ultimativ verlangt, auf dessen maßlose Forderungen schriftlich antworten. Auch wenn Biden diese zurückweisen wird: Putin braucht dieses Dokument als Beglaubigung, dass die USA seinen Anspruch, bei der Gestaltung der europäischen Sicherheitsodnung ein entscheidendes Wort mitzureden, gleichsam offiziell akzeptiert hat und mit ihm darüber von gleich zu gleich kommuniziert. Zumal in Genf auch ein baldiges weiteres Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin in Aussicht gestellt wurde.

Von seiner dreisten erpresserischen Forderung an den Westen nach „Sicherheitsgarantien“, deren Erfüllung auf die Selbstaufgabe der NATO, das Ende der US-Präsenz in Europa und die Auslieferung nicht nur der Ukraine, sondern in der Konsequenz auch Polens und der baltischen Staaten (wenn nicht sogar auch Schwedens und Finnalands) an die Willkür des Kreml hinauslaufen würde, wird sich Putin jedoch in noch so vielen weiteren Gesprächsrunden und Formaten nicht abbringen lassen. Er wird diese Ziele weiter verfolgen, selbst wenn er für dieses Mal aus taktischen Gründen doch noch einmal von einem neuerlichen militärischen Überfall auf die Ukraine Abstand nehmen sollte.

Putin weiß natürlich, dass der Westen seinen unverschämten, im Ton eines Ultimatums vorgetragenen Forderungen nicht nachgeben kann. In diesem Fall, und wenn der Westen ihm nicht zumindest erhebliche Zugeständnisse auf Kosten der ukrainischen Souveränität macht, werden ihm die Gespräche als Beleg dafür dienen, dass der Westen gar nicht ernsthaft über Russlands Sicherheitsinteressen reden wolle, und Moskau zu ihrer Wahrung daher drastischere Mitte anwenden müsse. Der Großangriff auf die Ukraine wird damit immer wahrscheinlicher, wenn auch offen bleibt, ob er auf den Versuch der Eroberung des ganzen Landes oder (vorerst) nur von Teilen davon hinauslaufen wird. Seinen Aufmarsch dazu setzt Moskau jedenfalls mit unverminderter Intensität fort – mit russischen Truppen nun auch in dem von ihm gleichgeschalteten Belarus. Nur zu zu gut weiß Putin dabei um die Zögerlichkeit und die Friktionen innerhalb der westlichen Gemeinschaft, die sich hinter ihren Bekundungen von Geschlossenheit gegenüber dem russischen Aggressor verbergen.

Zwar droht US-Präsident Biden für den Fall einer Invasion (die in Wirklichkeit nur die massive Fortsetzug der Invasion ist, die mit der Annexion der Krim sowie der Besetzung und Kolonisierung des Donbass längst stattgefundenen hat) mit harten Sanktionen. Doch Putin lässt sich von solchen Ankündigungen nicht beeindrucken, zumal Biden das genaue Ausmaß der zu erwartenden Strafmaßnahmen nicht konkretisieren will und bereits früher folgenlose Warnungen in Richtung Moskau ausgesprochen hat. So kündigte er beim Gipfeltreffen mit Putin im vergangenen Sommer eine harte Reaktion an, sollte die Cyberarmee des Kreml kritische Infrastruktur der USA angreifen. Die bereits erfolgten und fortgesetzten massiven russischen Cyberattacken blieben jedoch bis heute unbeantwortet. Zudem verzichtete der US-Präsident vergangenes Jahr aus Rücksicht auf Deutschland auf Sanktionen gegen die Betreiber von Nord Stream 2. Und sogar jetzt noch, im Angesicht der akuten existenziellen Bedrohung der Ukraine, behindert er eine Gesetzesinitiative im US-Kongress, diese Sanktionen im Falle eines russischen Einmarschs in die Ukraine in Kraft zu setzen. Wenn Putin nicht einmal das Ende seines geostrategischen Lieblingsprojekts in Europa befürchten muss, wie glaubhaft können dann andere Sanktionsdrohungen auf ihn wirken?

Waffen für die Ukraine jetzt!

Kürzlich hat der US-Präsident zudem für Irritation (und Entsetzen in der Ukraine) gesorgt, als er in einer Rede zwischen einem nur „geringfügigen Eingreifen“ und einer großflächigen Invasion der Ukraine durch Russland differenzierte und andeutete, Washington werde darauf unterschiedlich reagieren. Ob sich Biden nur missverständlich ausgedrückt hat oder tatsächlich meinte, man könnte über „kleinere“ Verletzungen der ukrainischen Souveränität hinwegsehen, blieb ungewiss. Inzwischen hat der Präsident seine Aussage zwar korrigiert und klargestellt, dass jeglicher russische Übergriff massive Konsequenzen vonseiten der USA nach sich ziehen werde. Doch Aussetzer wie dieser können Putin nur in seiner Einschätzung bestärken, dass es sich bei den harten Sanktionsdrohungen Washingtons um einen Bluff und bei Biden um einen schwachen und unentschlossenen Präsidenten handele.

Jedenfalls dürfte der Kreml-Herrscher genau registrieren, dass Biden in tiefen innenpolitischen Schwierigkeiten steckt und sich die Trumpisten bereits zur baldigen Rückkehr an die Macht rüsten. Tatsächlich passt dem US-Präsidenten, dessen innenpolitisches Reformprogramm und damit seine Präsidentschaft zu scheitern droht, die Absorption duch einen größeren Konflikt in Europa gerade jetzt ganz und gar nicht ins Konzept. Er trifft ihn zudem unvorbereitet, denn Biden hatte seine außenpolitischen Energien eigentlich auf die Eindämmung Chinas konzentrieren wollen. Putins Russland schätzte er dagegen eher als einen Kontrahenten von zweitrangiger Bedeutung ein, den man sich gleichsam nebenbei vom Hals halten, wenn nicht gar zu einer kooperativeren Haltung bewegen könne.

Von der Ernsthaftigkeit westlicher Gegenmaßnahmen ist der Kreml-Autokrat aber nur dadurch zu überzeugen, dass man sie tatsächlich ins Werk setzt. Das heißt, dass erste scharfe Sanktionen gegen den Aggressor bereits jetzt verhängt werden müssten und nicht erst, wenn die russische Soldateska und Luftwaffe bereits begonnen hat, die Ukraine mit Tod und Verwüstung zu überziehen. Das bedeutet vor allem auch, die militärische Verteidigungskraft der Ukraine durch Lieferung modernster Waffensysteme ab sofort massiv zu stärken – vor allem in den Bereichen der Luftabwehr und des Küstenschutzes. Putin muss handfest vor Augen geführt werden, mit wie vielen Opfern auf der eigeen Seite er bei einer militärischen Aggression zu rechnen hätte. Um ihn in diesem Sinne zu beeindrucken, bedarf es jedoch weit mehr und gezielterer Militärhilfen als die von den USA bisher bewilligte.

Doch kann es auch nicht angehen, den militärischen Teil der Stärkung der Ukraine allein den USA zu überlassen. Sind es doch die Europäer, deren Sicherheit durch die russische Aggression an erster Stelle bedroht ist. Immerhin geht nun Großbritannien (neben den baltischen Staaten) mit gutem Beispiel voran, indem es die ukrainische Armee zumindest mit leichten Panzerabwehrwaffen beliefert. Doch vor allem Deutschland weigert sich weiterhin strikt, auf diesem Weg zu folgen. Die Bundesregierung bleibt in der seit Jahren befolgten irrigen Maxime gefangen, eine militärische Unterstützung der Ukraine werde nur „zusätzliches Öl ins Feuer gießen.“ Die Vorstellung, Putin besänftigen zu können, indem man dem Opfer seiner Aggression Mittel zu seiner Verteidigung vorenhält – ebenso wie den Schutz durch die NATO – hat sich jedoch längst als eine verhängnisvolle Fehleinschätzung erwiesen. Die Politik, die ihr folgte, hat das genaue Gegenteil des Intendierten bewirkt.

Putin reagiert nämlich nicht auf Appelle zu Deeskalation und friedlicher Zusammenarbeit, sondern nur auf die Demonstration von Stärke und Entschlossenheit. Zu einer solchen würde auch gehören, unverzüglich massive NATO-Truppenkontingente in die baltischen Staaten und nach Polen zu verlegen. Dem Kreml müsste daraufhin klar gemacht werden, dass man im Gegenzug zur Auflösung der russischen Truppenmassierung an der ukrainischen Grenze diese NATO-Präsenz wieder reduzieren könnte. Und es würde dazu gehören, die Ukraine nunmehr unverzüglich in den Mitgliedschafts-Aktionsplan der Atlantischen Allianz aufzunehmen. Es geht insgesamt darum, den Kreml von sich aus offensiv unter Druck zu setzen, statt ihm die Eskalationsdominanz zu überlassen und sich stets aufs neue von seinen seinen immer maßloseren Handlungen und Forderungen überumpeln zu lassen. Bereitschaft zu Dialog und Verhandlungen zu zeigen, ist grundsätzlich richtig, doch können sie gegenüber einer autoritären Macht nur aus einer Position der Stärke heraus erfolgreich geführt weden.

Putins Krieg auch im Cyberspace

Das gilt unabhängig davon, ob Putin sich am Ende für einen Angriff auf die gesamte Ukraine an drei Fronten oder vorerst „nur“ für einen Teilangriff, etwa im Donbass und im Südosten des Landes entschließt. Oder ob er sich bis auf weiteres darauf konzentriert, die Ukraine durch Cyberkriegsattacken und Desinformationsoperationen von innen her zu destabilisieren – der kürzliche heftige russische Hackerangriff auf ukrainische Behörden hat einen Vorgeschmack darauf gegeben. Der Westen darf seine Vorgehensweise nicht von Spekulationen darüber abhängig machen, welche Form der Aggression Putin am Ende wählen wird. Und ein verhängnisvoller Fehler wäre es, dem Kreml einen „großmütigen“ Verzicht auf den großen Eroberungskrieg gegen die Ukraine durch Zugeständnisse zu honorieren – etwa in Bezug auf den Status des russisch besetzten Donbass. Putins Krieg findet auf verschiedenen Ebenen statt. Man muss ihm in Gänze entgegentreten und darf das Augenmerk nicht nur auf einzelne dieser Elemente richten. Starrt man nur auf die Gefahr eines russischen Großangriffs auf die Ukraine, drohen einem andere, subtilere Formen der Expansionspolitik des Kreml zu entgehen.

So inkonsequent aber die Reaktion Washingtons auch sein mag – die Rolle der EU in der aktuellen Bedrohungssituation kann im Vergleich dazu nur als geradezu kläglich bezeichnet werden. Die Europäer beschweren sich darüber, dass sie in die amerikanisch-russischen Direktgespräche nicht einbezogen werden. (Die Einbeziehung der Ukraine in sämtliche Gespräche fordert sie jedoch wohlweislich nicht.) Niemand aber hindert sie daran, von sich aus scharfe Präventivmaßnahmen gegen die russische Aggression zu ergreifen und den Kreml auf dieser Grundlage zur Rede zu stellen. Wenn die Europäer davon sprechen, Washington dürfe nichts über ihre Köpfe hinweg beschließen, drücken sie damit jedoch wohl eher ihre Angst aus, die USA könnte mit ihrer Sanktionspolitik gegen Putins Russland zu weit gehen. Man muss befürchten, dass bei vielen von ihnen ihre Sorge, die eigene Wirtschaft könnte Schaden nehmen, im Zweifelsfall größer sein wird als ihre Bereitschaft zur konsequenten Verteidigung essenzieller Prinzipien der europäischen Friedensordnung.

Besonders hierzulande überbieten sich führende Politiker geradezu darin, die mögliche Sanktionsfront gegen den Kreml schon im Voraus zu unterminieren – und zwar nicht nur solche aus den Reihen der notorisch kremlaffinen SPD. So lehnt CSU-Chef Söder den Stopp von Nord Stream 2 selbst im Falle eines russischen Einmarschs ab, und Friedrich Merz, die vermeintliche Heilsgestalt der CDU, warnt vor dem Ausschluss Russland aus dem Finanzsystem SWIFT in Kreml-Diktion: Ein solcher Schritt werde auf die Finanzmärkte wie eine „Atombombe“ wirken.

Überhaupt scheint die ganze Dramatik der aktuellen Lage und was in ihr auch für Deutschland dabei auf dem Spiel steht, noch immer nicht in das Bewusstsein des Großteils der hiesigen Öffentlichkeit gedrungen zu sein. Nach wie vor scheint hier der Eindruck vorzuherrschen, der drohende Krieg gegen die Ukraine sei Teil eines regionalen Konflikts, der uns nicht unmittelbar betreffe. Doch Putins Ambitionen reichen viel weiter als nur die russische Dominanz über die ehemaligen Sowjetrepubliken und sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa zurückgewinnen. Er will die USA aus Europa hinausdrängen und so auf Dauer auch Westeuropa unter seine Kontrolle bringen.

Entgegen der in deutschen Medien weit verbreiteten Terminologie gibt es keinen „Ukraine-Konflikt“ und keine „Ukraine-Krise“, keine „Konfrontation“ zweier prinzipiell legitimer Positionen, die es durch ausgewogene Diplomatie zu „entschärfen“ gelte. Was es vielmehr gibt, ist eine weiter massiv verschärfte Aggression Russlands gegen ein souveränes, demokratisches europäisches Land, die bereits seit 2014 in vollem Gange ist. Und es gibt den dreisten Versuch des Aggressors, der westlichen Welt mit maßlosen erpresserischen, ultimativ formulierten Forderungen seine Vorstellung von einer neuen Weltordnung aufzuzwingen, in der Großmächte innerhalb ihrer „Einflusszonen“ ungestört und nach Belieben das Recht des Stärkeren praktizieren können.

Ökonomische Schwäche als Antrieb

Aber selbst wenn diese Horrorvision Wirklichkeit werden sollte, würde Putin sich damit keineswegs zufrieden geben und fortan nun etwa die „Einflusszonen“ anderer respektieren. Ihm geht es darum, das westliche Bündnis und die westlichen Demokratien in Gänze zerstören. Die USA zum Rückzug aus Europa und die NATO durch einen Verzicht auf ihre Erweiterung zur Selbstaufgabe zu zwingen, ist für ihn nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer weltpolitischen Realität, in der nichts mehr ohne das Plazet seines kriminellen Herrschaftssystems geschehen kann, und in der keine Werte, Normen und Regeln mehr gelten, die der verbrecherischen Willkür seines mafiösen Unterdrückungssystems im Wege stehen.

Manche westliche Beobachter beruhigen sich selbst mit dem Gedanken, dass, sollte Putin tatsächlich derart weit gehende Ziele verfolgen, dies lediglich ein Ausweis seines Größenwahns sein könne. Sie verlassen sich darauf, dass Russlands ökonomische Kraft nicht ausreiche, um eine derart maßlose Aggressionspolitik durchzuhalten. Aber Größenwahn ist, wie die Geschichte schmerzhaft lehrt, ein mächtiger Antrieb für expansionssüchtige Diktaturen, die Welt mit Krieg und Vernichtung zu überziehen. Hitlers Deutschland verfügte über wenige als die Hälfte der Wirtschaftskraft der USA, als es sich zur Eroberung der Weltherrschaft aufschwang. Dies festzustellen, bedeutet keinewegs, Putin mit Hitler gleichzusetzen. Aber der Kreml-Herrscher bedient sich desselben Prinzips der Erpressung der kriegsunwilligen Westmächte duch die Zurschaustellung der eigenen ruchlosen Gewaltbereitschaft, nach der Maxime: Entweder Ihr überlasst mir die Gebiete, die ich für mich beanspruche, oder ich nehme sie mir mit Gewalt und verlasse mich darauf, dass ihr es nicht wagt, dafür eure Haut zuriskieren. Auch Putin ist davon überzeugt, dass der vermeintlich marode Westen nicht mehr die Kraft dazu aufbringen wird, für den Erhalt seiner Werte und Prinzipien notfalls eine kriegerische Auseinandersetzung zu führen. Die unbedingte Gewaltbereitschaft auf seiner Seite betrachtet er als den entscheidenden Trumpf seiner Politik gegenüber dem Westen.

Weit davon entfernt, ein Hinderungsgrund zu sein, ist die eigene wirtschaftliche Schwäche dabei paradoxerweise sogar eher ein Antrieb für aggressive Diktaturen, sich in immer ambitioniertere kriegerische Abenteuer zu stürzen. Gerade weil solchen Machthabern bewusst ist, dass sie auf de Ebene wirtschaftlicher Konkurrenz auf Dauer nicht mithalten können, kommen sie zu dem Schluss, dem ökonomisch überlegenen Gegner ihren Willen auf andere Weise aufzwingen zu müssen. Angesichts der Krisen und Spaltungen innerhalb der westlichen Gesellschaften, des prekären Zustands vieler Demokratien – allen voran der amerikanischen -, der Rückzugstendenzen der westlichen Führungsmacht aus diversen Weltregionen und vor allem unter dem Eindruck des fluchtartigen Abzugs der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan sind Putin und seine ideologischen Vordenker davon überzeugt, dass das Ende des liberal-demokratischen Zeitalters und der historische Moment für Moskau gekommen sei, die weltpolitischen Kräfteverhältnisse von Grund auf umzustülpen.

Wenn man die eigenen Lügen glaubt...  

Wer noch immer daran zweifelt, dass Putins Großmachtambitionen globale Ausmaße hat, möge sich noch einmal vergegenwärtigen, was Putins Krieg weltweit bereits angerichtet hat. Die russische Luftwaffe hat Syrien in Schutt und Asche gelegt und führt, mittlerweile so gut wie unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, ihr gezieltes Bombardement der Zivilbevölkerung in der Provinz Idlib mit unverminderter Brutalität fort. Er hat die Krim annektiert, und seine Truppen halten Teile der Ostukraine besetzt, wo unter Federführung der russischen Geheimdienste kriminelle Folterregime entstanden sind. Er hat Belarus faktisch der Russischen Föderation einverleibt und den dortigen Diktator Lukaschenko, dem er bei seiner brutalen Repression gegen die Oppositionsbewegung die Hand führt, zu seiner Marionette gemacht.

Dieselbe Art von Operation hat er jetzt in in Kasachstan wiederholt. In Mali verdrängen Putins Söldner der „Wagner”-Gruppe die westlichen internationalen Truppen, die bei dem Versuch, dort den Dschihadismus zurückdrängen sollten, wenig erfolgreich waren – für ihn ein weiterer Beweis dafür, dass der Westen nur noch ein Papiertiger sei. Auch in anderen Teilen Afrikas, so in der Zentralafrikanischen Republik, in Mozambik und im Sudan hat sich die Schattenarmee des Kreml bereits festgesetzt – von Libyen gar nicht zu reden. Auch Lateinamerika ist für das Putin-Regime längst ein wichtiges Operationsfeld. Neuerdings droht Moskau Washington sogar damit, russische Truppen in Venezuela und auf Kuba zu stationieren, wo der Kreml maßgeblich diktatorische Regime stützt.

Die Liste ließe sich ergänzen – vor allem um die zahlreichen Cyberkriegsattacken und Desinformations-Offensiven, die der Kreml gegen eine Reihe von westlichen Demokratien durchgeführt hat und weiter durchführt. Mit all dem ist Putin bisher weitestgehend ungestraft davongekommen. Den Westen setzt er unter Druck, indem er die realen Verhältnisse in dreister Weise propagandistisch auf den Kopf stellt und Russland zum Opfer einer „Einkreisung“ durch den Westen und die osteuropäischen Nachbarstaaten stilisiert. Russland, der notorische Aggressor, stellt sich auf aggressive Weise als verfolgte, sicherheitsbedürftige Unschuld dar und zwingt dem Westen damit seinen Diskurs auf. Dabei steigert sich dieser in Behauptungen von immer monströserer Absurdität hinein wie diese: Russland, das Territorium der Ukraine besetzt hält, werde von eben dieser mit einem Angriffskrieg bedroht, die USA bereite im Donbass eine „Provokation“ mit Giftgas vor, der (jüdische) ukrainische Präsident werde von „Nazis“ gesteuert, und die Regierung in Kyjiw sei in der Ostukraine auf einen „Völkermord“ an der russischen Bevölkerung aus. Dies sind gewiss absichtsvoll fabrizierte Propagandalügen – doch das schließt nicht aus, dass die Machthaber mit ihrer ständiger Wiederholung beginnen, selbst daran zu glauben. Wenn sie dann irgendwann ihr selbst produziertes Wahnbild nicht mehr von der Realität unterscheiden können, ist ihnen endgültig alles zuzutrauen.

Doch was muss noch geschehen, damit der Westen die Dimension der Herausforderung durch Russlands Aggressionspolitik endlich begreift und die notwendigen umfassenden Schlussfolgerungen daraus zieht? Putin mit Gesprächen ohne Vorbedingungen über eine „neue Sicherheitsarchitektur“ in Europa zu belohnen, während dieser dabei ist, die bestehende zu zerstören, ist jedenfalls eine gefährliche Sackgasse. Der Westen muss jetzt entschieden proaktiv handeln – denn die Zeit drängt. Doch leider haben, wie die Historikerin Anne Applebaum kürzlich schrieb, nach den Europäern nun auch die USA „begonnen, die wichtigste strategische Lektion des Kalten Krieges zu vergessen: Abschreckung funktioniert.“ Vor allem aber die Europäer müssen sich dieser Erkenntnis schleunigst wieder einnern, denn, wie es Anne Applebaum formuliert: „Wenn Sie eine Landmasse mit einem Tyrannen teilen, dann stellen Sie sicher, dass Sie gut genug bewaffnet sind, um ihn in sicherer Entfernung zu halten.“

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

4 Kommentare

  • Die USA tun bereits einiges für die Ukraine, so haben sie bereits viele Javelin-Einheiten geliefert. und nicht diese billigen leichten Panzerabwehrsysteme, mit denen die Budapester Schutzmacht GB die Ukraine abzuspeisen versucht. Aber vor allem müsste Deutschland mit USA, GB und anderen wichtigen Nato-Partnern gegen Russland an einem Strang ziehen. Genau dies tun die Bundesregierungen seit der Regierung Schröder nicht.

    Die deutsche Russophilie ist wohl insbesondere bei der SPD sehr stark und führt seit Jahrzehnten zu einer antieuropäischen deutschen Sicherheitspolitik deutscher Regierungen mit SPD-Beteiligung in Bezug auf die Ukraine.

  • Als Deutschland in den Zweiten Weltkrieg zog, stand das Land kurz vor dem Bankrott. Hitler konnte nicht länger warten. Das Argument, dass Putin sich einen großen Krieg nicht leisten könne, taugt also nur bedingt. Man sollte nicht vergessen, dass Russland sich heute als eine Raubwirtschaft präsentiert, nicht als als eine funktionierende Marktwirtschaft. Was auch die geringen Wachstumsraten erklärt. Wer raubt, will nicht investieren, sondern sich vom anderen nehmen, was ihm nicht zusteht. Wenn man sieht, dass ein großer Teil der Gewinne in Russland in den Taschen einer sehr überschaubaren Zahl von Günstlingen am Hof des Zaren landet und das Volk immer weniger von all dem Reichtum sieht, wird das verständlich.

  • Einen Krieg mit vielen Opfern oder ein paar Blätter Papier mit Sicherheitsgarantien für ein Land das sich bedroht fühlt, was wiegt mehr?
    Wir werden es zu spüren bekommen.

  • Diesen Artikel lese ich am 16.3.2022, nachdem ich einen Artikel von Ihnen in der Zeit gelesen habe, 3 Wochen nach Kriegsbeginn. Was für Menetekel wir als Gesellschaft übersehen haben, falsch reagiert haben – und jetzt wird die Ukraine als Folge zerstört. Das ist kaum auszuhalten. Die Hoffnung auf eine friedliche, wenig militarisierte Welt war eine Täuschung.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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