Frankfurt am Main oder Die Botschaft der Türme

Die Frankfurter Eintracht ist mit Riesenschritten auf dem Weg in die Champions League. Und genau da gehört die Mainmetrople „im Herzen von Europa“ (so die Eintracht-Vereinshymne) auch hin. Denn die deutsche Weltstadt Frankfurt am Main steht für den unauflöslichen Zusammenhang von florierenden Finanzen, gesellschaftlicher Freiheit und kultureller Produktivität. Nach 1945 war „Mainhattan“ daher die Lokomotive der Verwestlichung Deutschlands. Für den Antikapitalisten ist sie eine einzige Provokation, für den Geist der modernen Zivilisation dagegen eine Inspiration. Eine Eloge auf meine Geburtsstadt.

Die Ausschreitungen in Frankfurt am Main im Rahmen der „Blockupy“-Proteste gegen die Eröffnung des neuen Hochhauses der Europäischen Zentralbank (EZB) erzeugten 2015 apokalyptisch anmutende Bilder. Luftaufnahmen von riesigen, die Stadt verdüsternden Rauchschwaden weckten Erinnerungen an den 11. September in New York. Doch bei allem Entsetzen über die exzessive Gewaltbereitschaft, die sich in der Mainmetropole vor allem gegen Polizisten austobte – mit dem massenmörderischen Terror, der die Twin Towers in Manhattan traf, hielten die Frankfurter Unruhen dann doch keinen Vergleich aus.

Schwarzer Rauch über Frankfurt: Vor der Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank haben vermummte Demonstranten Polizeiautos in Brand gesetzt
Schwarzer Rauch über Frankfurt: Vor der Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank haben vermummte Demonstranten Polizeiautos in Brand gesetztQuelle: dpa

Unter allen gravierenden Unterschieden zu den Ereignissen von damals ragt einer sinnfällig heraus: Das aus zwei dekonstruktivistisch ineinandergeschlungenen Türmen zusammengesetzte EZB-Gebäude, das doch das eigentliche Angriffsziel der militanten Antikapitalisten war, hat die ringsum angerichteten Verwüstungen unbeschadet überstanden und erstrahlt weiterhin in seiner ganzen (post-)modernistischen Eleganz und avantgardistischen Erhabenheit.

Es ist aber diese Symbolik immer höher und prachtvoller in den Himmel ragender Türme, wie sie die imposante Skyline Frankfurts prägen, die dem Ansturm der Kapitalismuskritiker gegen die architektonischen Bastionen der Geldherrschaft eine archaische Dimension verleiht.

Am Anfang war der Turmbau zu Babel

Die Vorstellung von in die Höhe wachsenden Gebäuden als Frevel wider den Schöpfungsplan ist ein Topos, der in wechselnder Verkleidung seit vorgeschichtlichen Zeiten immer wiederkehrt. Im Alten Testament erscheint der Turmbau zu Babel als Sinnbild für die Überhebung der Menschheit über Gottes Willen. Den Entschluss, eine Stadt aus Stein zu bauen, verbinden die Menschen in der biblischen Erzählung mit dem Vorhaben, einen Turm zu errichten, dessen „Spitze bis an den Himmel reicht“. Dem Herrn missfällt das, argwöhnt er doch: „Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen.“

Um nicht dergestalt sein Monopol auf die Allmacht zu verlieren, verwirrt er die Sprache der Menschen, „sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht“. Er zerstreut sie über die ganze Erde, „und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen“. Die Entstehung immer größerer Städte bildete indes realgeschichtlich die Voraussetzung zivilisatorischen Fortschritts. Das urbane Dasein brachte auch den Turbo der modernen westlichen Zivilisation hervor: den Kapitalismus.

Wie diabolisch sind Geld und Zins?

Entsprechend stand dieser seit seinen Anfängen in norditalienischen Städten der frühen Neuzeit unter der Anklage, eine diabolische Kraft zu sein. Dass es der Geldwirtschaft mittels des Zinses möglich war, Reichtümer ohne physische Arbeit anzuhäufen, der Kapitalist sein Geld gleichsam „im Schlaf“ vermehren konnte, wurde von der Kirche als Sünde wider die göttliche Verfügung gedeutet, der Mensch habe sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu verdienen.

Die Dämonisierung des Finanzkapitalismus beschränkte sich keineswegs auf die christliche Welt. In islamischen Ländern besteht bis heute ein religiös begründetes Verbot, Zinsen zu nehmen, was auch die gesellschaftliche Stagnation erklärt. Die Assoziationskette Stadt – Hochhaus – Geldherrschaft als Trias einer verhängnisvollen zivilisatorischen Entfremdung der Menschheit von ihrer ursprünglichen Bestimmung kehrt heute in einem radikalen Antikapitalismus von links wie rechts wieder, der weit über konkrete Kritik an Austeritätspolitik und verantwortungslosem Finanzgebaren von Großbanken hinausgeht.

Galt der Kapitalismus dem klassischen Marxismus noch als historisch fortschrittliche Kraft, deren Entfaltung dem Sozialismus als der nächsthöheren geschichtlichen Stufe notwendig vorausgehen müsse, fehlt der Kapitalismuskritik heute ein solch geschlossenes ideologisches, ihr Handeln theoretisch rationalisierendes Konzept. Um so mehr wird sie so in hohem Maße empfänglich für alte mythische und über Jahrtausende tradierte, in säkularisierter Form auch in der Neuzeit konservierte religiöse Affekte.

Kapitalismus – das schlechthin Böse?

Bewegungen wie „Blockupy“ sehen im Kapitalismus das schlechthin Böse, die Wurzel aller Weltübel. In unkontrolliertem Selbstlauf treibe er die Menschheit in den Untergang – oder drohe doch zumindest den Menschen seines authentischen Wesens zu berauben, indem er ihn in eine bloße Funktion berechnender Abstraktion verwandele. Die verschwörungstheoretische Fantasie des Antikapitalismus wird durch die Vorstellung von einem unsichtbaren Kapitalkreislauf befeuert, der sich politischer Steuerung und personaler oder institutioneller Verantwortung anarchisch zu entziehen scheint.

Umso mehr irritiert dann aber, wenn sich dieses körperlose Kapital in architektonischen Monumentalwerken aus Stahl und Glas ästhetisch glanzvolle Heimstätten schafft. Der Bau in schwindelnde Höhen symbolisiert in den Augen der Kapitalismusgegner jedoch das endgültige Abheben der Geldelite von der am Boden verhafteten menschlichen Gemeinschaft.

Keine andere deutsche und kaum eine andere europäische Stadt entspricht dieser Feindbildprojektion des neuen Antikapitalismus so sehr wie Frankfurt am Main. Hier findet die Verbindung von globaler Geldwirtschaft und avancierter ästhetischer Moderne in einem spektakulären Ensemble von Wolkenkratzern, die meist Bankenhochhäuser sind, überzeugend Ausdruck. Diese dichte Ansammlung von Türmen des Geldes ist Resultat einer früh getroffenen, bewussten Entscheidung. Nachdem der Mainmetropole 1949 die Ernennung zur Bundeshauptstadt versagt blieb, setzte Frankfurts legendärer sozialdemokratischer Nachkriegs-Bürgermeister Walter Kolb alles daran, die Stadt zum einem führenden internationalen Finanz- und Handelsplatz auszubauen.

Frankfurt ist die verwestlichtste Stadt

Dies war ein entscheidender, aber nicht der einzige Faktor dafür, dass Frankfurt zum Vorreiter der Verwestlichung der Bundesrepublik wurde (siehe auch hier).. Gleich nach seinem Amtsantritt 1946 bemühte sich Kolb so intensiv wie erfolgreich darum, jüdische Emigranten wie Max Horkheimer, der das legendäre Institut für Sozialforschung wieder in Frankfurt ansiedelte, zur Rückkehr zu bewegen, um die Stadt auch intellektuell wieder an die westliche Moderne anzuschließen.

Als ein zentraler Standort der US-Armee in Europa wurde Frankfurt zudem wie keine andere deutsche Stadt vom amerikanischen Lebensstil durchdrungen. Diese kosmopolitische Öffnung brachte ihr freilich heftige Ressentiments von konservativer wie linker Seite ein. Die durch die Option für den Hochhausbau „amerikanisierte“ Anmutung der Mainmetropole („Mainhattan“) wurde als Ausgeburt von Unkultur, seelenloser Kälte und Entwurzelung denunziert. Der von Frankfurts Sponti-Szene verbreitete Sehnsuchts-Slogan „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ brachte diesen antizivilisatorischen Affekt auf den Punkt.

Heute aber ist Frankfurt am Main eine der am meisten boomenden deutschen Städte, es ist, mit dem höchsten Ausländeranteil der Republik. Inbegriff weltoffener Internationalität, und renommierte Studien bescheinigen der Stadt einen führenden Platz in der Rangliste der globalen Metropolen mit der höchsten Lebensqualität. Frankfurt steht exemplarisch dafür, dass der Zusammenhang zwischen florierender Finanzwirtschaft, gesellschaftlicher Freiheit und kultureller Produktivität unauflösbar ist. Für den apokalyptischen Antikapitalismus ist es daher eine einzige Provokation. Für alle jedoch, die auch weiterhin an der Fortentwicklung der modernen Zivilisation interessiert sind, ist es eine große Inspiration.

Der Text ist die leicht überarbeitete Fassung meines Artikels, der 2015 in der „Welt“ erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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