Kyjiw calling: Zwischen Skepsis und Unbeugsamkeit

Kyjiw im mild-warmen Spätsommer: Eine internationale Konferenz bündelte Fragen des Überlebens nicht nur der demokratischen Ukraine, sondern der ganzen Menschheit im Zeichen aktueller und kommender Katastrophen. Die gegenwärtige Stimmungslage in der Ukraine oszilliert zwischen der Furcht, vom Westen am Ende doch allein gelassen zu werden, und der unbeugsamem Entschlossenheit des Landes, seinen euro-atlantischen Kurs noch konsequenter fortzusetzen. Einige Beobachtungen und Einschätzungen anlässlich meines kürzlichen Besuchs in der ukrainischen Hauptstadt:

Ein anderer Selenskyj?

2019 – im vergangenen Jahr musste sie coronabedingt ausfallen – hatte die Konferenz „Yalta European Strategy“ (YES) in Kyjiw unter dem Motto: „Happiness“ gestanden. Der strahlende Stargast, um den sich alles drehte, war der damals frisch ins Amt gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der versprach das Blaue vom Himmel herunter: enormes Wirtschaftswachstum, knallharte Korruptionsbekämpfung, raschen Fortschritt und Wohlstand für die Ukraine – und vor allem einen schnellen Frieden im Donbass, den er mit Putin persönlich aushandeln wollte. Dementsprechend stimmte sich die Konferenz, zu der die Victor-Pinchuk-Stiftung jährlich führende Politiker und Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur aus aller Welt zusammenbringt, damals auf das Prinzip Zuversicht und den unbedingten Willen zum Glücklichsein ein.

Am vergangenen Wochenende hat der ukrainische Präsident die YES-Konferenz, die in diesem Jahr in verkleinertem Rahmem (als „Brainstorming“) durchgeführt wurde, erneut mit einer Rede eröffnet und anschließend in einem Podiumsgespräch Rede und Antwort gestanden. Seine Tonlage aber hätte im Vergleich zu der vor zwei Jahren kaum einen größeren Kontrast bieten können. Jetzt hörte man einen skeptischen, nahezu melancholischen Selenskyj, der als Lehre aus der COVID-Pandemie den Realitätsgehalt der hehren Bekenntisse zur globalen Solidarität anzweifelte. Das Menschheitsrettungspathos, das in politischen Feierstunden und sozialen Netzwerken gepflegt werde, sei virtuell, in der realen Wirklichkeit handle dagegen jeder für sich allein. Kleinere Staaten hätten dabei das Nachsehen und geringere Überlebenschancen.

Seine Kritik an der nationalen Selbstbezogenheit der politischen Eliten angesichts globaler Herausforderungen artikulierte Selenskyj im Blick auf die Corona-Bekämpfung und den Klimaschutz, aber im Raum standen auch der Schock und die Verunsicherung, den der überstürzte, chaotische Abzug der USA aus Afghanistan bei deren Verbündeten rund um die Welt ausgelöst hat. Wie verlässlich sind Zusagen der Führungsmacht der freien Welt jetzt noch, fragen sich viele von ihnen zumindest insgeheim. Der ukrainische Präsident versagte sich bei der Konferenz in Kyjiw Kritik an der Afghanistan-Entscheidung Joe Bidens und erklärte auf Nachfrage, er gehe davon aus, dass Washington auf Dauer zu seinem Engagement für die Ukraine stehen werde. Was anderes sollte er auch sagen an diesem wunderschönen, mild-warmen Spätsommermorgen in Kyjiw? Immerhin hat er von seiner kürzlichen USA-Reise großzügige Hilfszusagen der Biden-Regierung sowohl im militärischen und ökonomischen Sektor als auch bei der COVID-Pandemiebekämpfung mitgebracht. Diese stehen allerdings unter dem massiven Vorbehalt, dass die Ukraine ihre Reformpolitik entschiedener vorantreibt. Und einen konkreten Zeitplan vonseiten der USA für die Aufnahme der Ukraine in die NATO bekam Selenskyj in Washington auch nicht.

Zweifel am Westen

Innerhalb von Selenskyjs Administration artikulieren sich daher längst Zweifel an der Zuverlässigkeit der Unterstützung aus Übersee, und schon gar an der vonseiten der EU – und das nicht erst seit dem Afghanistan-Rückzug. Außenminister Dmytro Kuleba hat kürzlich in einem Interview mit dem britischen „Independent“ gesagt, der Ukraine bleibe letztlich nichts anderes übrig, als sich ganz auf ihre eigene politische und militärische Stärke zu verlassen – und er nannte als ein Vorbild Israel. Nun, die überlegene Verteidigungskraft des jüdischen Staats basiert allerdings primär auf seinem Besitz von Atomwaffen. Und auch ohne die intensive Rüstungskooperation mit den USA wäre sie nicht denkbar.

Manche politische Analysten in der Ukraine gehen indes noch weiter als Kuleba und liebäugeln damit, sich stärker der VR China zuzuwenden – mit der die Ukraine bereits jetzt intensive Wirtschaftsbeziehungen unterhält. Eine grundsätzliche politische Hinwendung der Ukraine zu dieser totalitären Macht ist aber wohl nicht ernsthaft zu erwarten. Eine gewisse Frustration über die Hinhaltetaktik des Westens in Sachen voller politischer, wirtschaftlicher und militärischen Integration der Ukraine klang allerdings auch bei Wolodymyr Selenskyi selbst durch – etwa, als er sich darüber beklagte, dass die Innovationsfortschritte des Landes, namentlich im IT-Bereich, im Westen nicht genügend beachtet und anerkannt würden. Vielmehr fokussiere sich die Aufmerksamkeit immer nur auf die fortdauernden korrupten Strukturen. Die Korruptionsbekämpfung aber betreibe die Ukraine aus eigenem Antrieb und im eigenen Interesse, und nicht um anderen zu gefallen.

Der Frage, ob er durch seine Erfahrungen mit Putin seine Ansicht über dessen Kompromiss- und Friedensfähigkeit geändert habe, wich der ukrainische Präsident aus. So sehr er seine Aufbruchsemphase auch gedämpft haben mag, Fehleinschätzungen einzugestehen liegt nicht in seiner Natur. Die Nachfrage aber, ob er einen offenen Krieg Russlands gegen die Ukraine in den kommenden zwei, drei Jahen für möglich halte, beantwortete er mit einem eindeutigen Ja. Selenskyj scheint sich im Laufe seiner Präsidentschaft von einer „Taube“ in einen „Falken“ verwandelt zu haben. Vermied er in seiner präsidialen Anfangszeit möglichst jede Referenz auf das Militärische, steht die Forderung nach der unverzüglichen Aufnahme der Ukraine in den Mitgliedschafts-Aktionsplan (MAP) der NATO heute auf seiner politischen Agenda ganz oben. Dabei will er aber nicht als Bittsteller dastehen und ewig „an Türen anklopfen, die sich sowieso nie öffnen“. Zu Recht betonte er, dass nicht nur die Ukraine die NATO, sondern umgekehrt ebenso sehr die NATO die Ukraine brauche. Denn nur mit ihr ist das freie Europa gegen Putins imperialen Autoritarismus zu verteidigen.

Doch um diese Einsicht drückt sich der Westen beharrlich herum. Für Selenskyj wie für seinen Außenminister steht jedenfalls fest, dass die Gründe für die Verzögerung der Aufnahme der Ukraine in NATO und EU nur vorgeschoben sind, und in Wahrheit die Angst oder der Unwille dahintersteckt, sich mit Russland anzulegen. Dass US-Präsident Biden entgegen seiner Zusage an die Ukraine, sie zu verhindern, Berlin grünes Licht für die Ferigstellung von Nord Stream 2 gegeben hat und die Ukraine von der Präsenz beim NATO-Fipfel im Juni ausgeschlossen wurde, waren schwere Brüskierungen Selenskyjs wie der ganzen Nation, die das Vertrauen in den stärksten westlichen Partner erschüttert haben.

Maßgebliche ukrainische Oppositionspolitiker/innen nehmen Selenskyj seinen Lernprozess vom leichtfüßigen Wohlfühl- Animateur zum verantwortungsbewussten Staatsmann jedoch nicht ab. Während er sich mit der gestiegenen Kampfkraft der ukrainische Armee schmücke, so heißt es von dieser Seite, habe er in Wahrheit deren angemessene Ausrüstung lange Zeit uvernachlässigt und behindert. Seine Wandlung zum ebenso glühenden wie wehrhaften ukrainischen Patrioten halten seine innenpolitischen Gegner für eine unseriöse Inszenierung. Die Intransparenz, die seinen inneren Machtzirkel umgibt, und seine erratische Art der Entscheidungsfindung sind die Elemente in Selenskyis Regierungsstil, die dem Misstrauen gegenüber seiner Person und dem Zweifel an seinen ehrlichen Absichten stets neue Nahrung geben.

Umstrittene „De-Oligarchisierung“

Mittels eines „De-Oligarchisierungs“-Gesetzes will Selenskyj jetzt ernst machen mit der Brechung des politischen Einflusses der Oligarchen. Doch auch diese Inititiative ist zwiespältig und umstritten. Weil im Gesetz zu undeutlich definiert wird, ab welchem Punkt das politische Engagement von Unternehmern als illegale, staatsgefährdende Manipulationsmachenschaft zu werten sei, schwelt der Verdacht, dass der Präsident damit weniger das Gesamtwohl des Landes als vielmehr den Ausbau seiner persönlichen Machtposition im Auge hat. Das Gesetz würde die Befugnis des von Selenskyj kontrollierten Nationalen Sicherheitsrats, über solche Grenzziehungen nach eigenem Ermessen zu entscheiden, erheblich erweitern. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise hat Anfang des Jahres die Abschaltung von drei Fernsehsendern des prorussischen Oligarchen und Putin-Vertrauten Medwedtschuck geliefert. So berechtigt und überfällig das Einschreiten gegen diese Lautsprecher der Desinformationskampagnen jener feindlichen Macht war, die große Teile ukrainischen Territoriums militärisch besetzt hält – besser wäre es gewesen, der Schlag gegen diese Fünfte Kolonne wäre auf regulärem juristischen Weg geführt worden statt per Präsidenendekret auf unklarer gesetzlicher Grundlage.

Denn, so argwöhnen die Kritiker des Präsidenten, mit derselben Methode könnte dieser auch gegen unliebsame innerukrainische Kontrahenten vorgehen. Insbesondere auf seinen Amtsvorgänger, den als Oligarch titulierten Schokoladenfabrikaten Petro Poroschenko, hat es Selenskyj schon seit Beginn seiner Präsidentschaft abgesehen. Zu gerne würde er sich dieses politischen Konkurrenten offenbar endgültig entledigen.

Manche Kritiker halten Selenskyjs Mobilmachung gegen die Oligarchen für ein Ablenkungsmanöver von der Tatsache, dass der Präsident die dringend anstehenden, grundlegenden institutionellen Reformen – an erster Stelle die Justizreform – nicht voranbringen kann oder will. Auf dem Podium der YES-Konferenz verteidigte Justizminister Denys Malyuska das Vorgehen des Präsident jedoch als Bedingung für die effektive Durchführung der Reformen. So lange Oligarchen durch Bestechung von Abgeordneten und Staatsbediensteten den Reformprozess sabotierten, könne er nicht zügig genug vorankommen. Ist also die Ausschaltung der Oligarchen die Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung der institutionellen Reformen, oder kann umgekehrt nur seine grundlegende instiutionelle Erneuerung und Stärkung den demokratischen Staat in den Stand versetzen, das Oligarchentum zu bezwingen? Nach der hitzigen Debatte darüber verließ man als Außenstehender Kyjiw mit dem Eindruck, eine aktuelle ukrainischen Version der uralten Frage nach der Henne und dem Ei kennengelernt zu haben.

Malyuska griff aber auch die Medienunternehmen des Landes pauschal an, sprach von verdeckten Zahlungen, die von Oligarchenseite in großem Ausmaß an Medienleute gingen, damit sie gegen die Reformpolitik Stimmung machen. Die anwesende CEO eines Medienunternehmens verbat sich den pauschalen Korruptionsvorwurf und forderte den Minister auf, Ross und Reiter zu nennen, wen genau er mit seinen Anschuldigungen meine. Dass er diese nicht näher spezifizieren konnte oder wollte, legt die Befürchtung nahe, das „De-Oligachisierungsgesetz“ könnte von Präsident und Regierung als Instrument benutzt werden, um die Medien insgesamt unter Kontrolle zu bringen.

Generation Hoffnung

Ungebrochen ist unterdessen die Energie und Aktivität der Zivilgesellschaft, die als Motor der Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und als Antreiberin von Regierung und staatlichen Behörden zu einem höheren Reformtempo fungiert. In mancher Hinsicht übernehmen die zahlreichen NGOs und zivilgesellschaftlichen Initiativen überall im Land heute die Aufgaben, die von den schwächlichen und korruptionsanfälligen staatlichen Insitutionen nicht erfüllt werden können. Ihr großes Manko ist es indes, über keine politischen Repräsentation in Form einer Partei zu verfügen, die in Wahlen Mehrheiten erringen und so an die Schalthebel der Macht gelangen könnte. Diverse Versuche zur Etablierung einer solchen genuin demokratischen Partei, die sich an geschriebenen Programmen statt am Charisma einzelner Anführer orientiert, und die nach dem Prinzip innerparteilicher Demokratie statt dem der Gefolgschaft organisiert ist, sind bislang erfolglos geblieben.

Generation Hoffnung: Junge Aktivist/inn/en des Zivilgesellschaftszentrums Drukarnia in Slowjansk zu Besuch in der Ukrainischen Botschaft in Berlin Ende August

Am Rande der Konferenz in Kyjiw wies mich Aleksandra Matviichuk, Bürgerrechtsaktivistin und Leiterin des „Center for Civil Liberties“ in Kyjiw, auf die vielfältigen Schwierigkeiten hin, die der Bildung einer solchen Partei im Wege stehen. Sie reichen von der Realisierung einer Parteienfinanzierung, die von Oligarchengeld frei ist, über das Fehlen starker unabhängiger Medien, die einer neuen demokratischen Kraft ausreichend Platz zur Selbstdarstellung geben würden, bis hin zur Fragmentierung der zivilgesellschaftlichen Kräfte sowie ihren internen Animositäten. Aber Matviichuk ist zuversichtlich, dass die junge Generation zivilgesellschaftlicher Aktivisten die Herausbildung einer ihr angemessenen politischen Vertretung mit der Zeit bewerkstelligen werde. Die Zivilgesellschaft könne demokratische Institutionen nicht ersetzen, erklärt sie, wohl aber den Rahmen schaffen und erweitern, in dem sie reformiert und neu aufgebaut werden können. Das gleiche gelte auch für den noch ausstehenden Schritt der Zivilgesellschaft in die Sphäre instutionalisierter Politik: „Wir halten die Räume offen, in denen eine Partei entstehen kann, die wirkliche Veränderung durchssetzt.“

Traumhaftes Kyjiw: Direkt gegenüber dem YES-Tagungsort „Mystetskyi Arsenal“ leuchtet das Höhlenkloster

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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