Katar: Was an der WM-Kritik heuchlerisch ist

In einem einzigen Punkt hat der FIFA-Chef Gianni Infantino ausnahmsweise Recht: Die große Kritikwelle an der WM in Katar strotzt vor Heuchelei und Doppelmoral. Aber nicht in dem Sinne, wie es der korrupte Diktatorenfreund an der Spitze des mafiösen obersten Fußballverbandes meint.

Denn zwar treffen die Vorwürfe gegen das Ausrichterland am Persischen Golf weitestgehend zu. Ja, Katar ist eine Autokratie, in der Menschen- und speziell Frauenrechte wenig bis gar nichts gelten. Ja, es gibt dort ein Sklavenarbeitersystem, und die prachtvollen Stadien sind auf den Knochen brutal ausgebeuteter Fremdarbeiter erbaut. Und ja, die WM wurde von dem kleinen, aber umso ambitionierten Golfstaat gekauft, der damit seinen hochfahrenden Anspruch auf Weltgeltung unterstreichen will.

Aber dieses trifft auf Katar nicht zu: Es überfällt keine fremden Länder, hält nicht Teile ihres Territoriums besetzt, zerbombt dort keine Städte und hungert sie aus, vertreibt nicht millionenfach Menschen aus ihrer Heimat, indem es systematisch die für sie lebensnotwendige Infrastruktur zerstört.

Was war mit Russland 2018?

All das aber hat Russland getan, während es 2018 die Fußball-WM ausrichtete. In Syrien führte es, während die Fußballwelt in Moskau und St. Petersburg Tore bejubelte, einen terroristischen Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, auf der annektierten Krim und in den besetzten ostukrainischen Gebieten baute es sein verbrecherisches Folterregime aus. Von der Unterdrückung der innerrussischen Opposition und der Repression gegen sexuelle und andere Minderheiten, die schon damals der in Katar nicht nachstand, gar nicht zu reden. Darüber hinaus war der Veranstalter Russland bereits damals des Betriebs eines staatlichen Doping-Betrugssystems überführt.

Doch die Intensität des Protests gegen den Skandal, dass Russland trotz alledem das höchste Weltturnier des Fußballs ausrichten durfte, reichte 2018 nicht im Entferntesten an jene heran, die jetzt durch die WM in Katar ausgelöst wird. Die wenigen kritischen Stimmen, die sich damals gegen die Instrumentalisierung des Fußballs für eine gigantische Propagandainszenierung des Putin-Regimes erhoben, verhallten schnell, sobald in dessen Reich der Ball rollte. Nicht daran zu denken war damals, dass, wie jetzt, annähernd 60 Prozent der Deutschen in Umfragen ankündigen würden, sich die WM-Spiele aus Protest gegen Menschenrechtsverletzungen nicht ansehen zu wollen. (Dass sie es auch dieses Mal natürlich trotzdem tun werden, steht auf einem anderen Blatt.) In meinem erweiterten Kollegen- und Bekanntenkreis fanden sich damals allenfalls zwei bis drei Personen, die sich wie ich weigerten, sich das WM-Spektakel in Russland anzuschauen – nicht etwa im Glauben, dieser private Boykott könne irgendetwas bewirken, sondern schlicht aus Ekel.

Prominente Köpfe des deutschen Fußballs wie Uli Hoeneß und Lothar Matthäus überschlugen sich damals in Lobpreisungen darüber, wie wundervoll Russland das Fußball-Turnier organisiert habe, und Matthäus wurde gar eine Privataudienz bei Putin gewährt, die er voller Stolz wahrnahm. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron adelte Putins Fest mit seiner Präsenz beim WM-Finale. Nebenbei ließ er sich dort von dem Kreml-Herrscher noch zusätzlich demütigen: Während über Putins Haupt ein riesiger Schirm gehalten wurde, musste Macron ungeschützt im Regen zur Siegerehrung für seine „Bleus“ schreiten. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hatte sich lange um eine Festlegung gedrückt, ob sie zu einem Finale mit deutscher Beteiligung nach Moskau reisen würde – und wurde durch das frühe Ausscheiden der deutschen Mannschaft aus dieser Klemme erlöst.

Universale Rechte nichts wert

Hatte man aber danach wenigstens genug davon, Putins Regime durch glänzende sportliche Großereignisse aufzuwerten? Weit gefehlt, Russland wurde bei der europaweiten EM 2020, die wegen Corona erst mit einjähriger Verspätung ausgetragen werden konnten, gleich wieder als Ausrichter einiger Spiele bedacht. Dagegen regte sich nun gar kein Protest mehr. Man mache sich das klar: Nur ein Dreivierteljahr vor der russischen Invasion der ganzen Ukraine delektierte man sich ohne irgendeinen Anflug moralischer Skrupel an EM-Spielen in St. Petersburg!

Der Autokraten-Quisling Infantino konnte sich 2018 gar nicht devot genug vor dem Massenmörder im Kreml im Staub wälzen, um ihm untertänigst für seine Gastfreundschaft danken. Mit seiner Äußerung, die Europäer sollten sich doch erst einmal für ihre eigenen Untaten der „letzten 3000 Jahre“ (sic!) entschuldigen, bevor sie andere Nationen „moralisch belehren“, offenbart er jetzt endgültig, wes Geistes Kind er ist – dass er nämlich für universale Werte und Rechte der Menschen nur kalte Verachtung übrig hat. Kein Wunder, dass er und sein Verband nicht im entferntesten daran denken, sich für ihre Rolle als Steigbügelhalter des Aggressors Putin zu entschuldigen oder auch nur zu rechtfertigen.

Aber auch das Gros der Kritiker der WM in Katar muss sich den Vorwurf der Scheinmoral gefallen lassen. Die erfolgreichen Propagandaspiele 2018 waren ein Meilenstein in Putins Kriegsvorbereitungen. Dass ihm dabei die westliche Welt zu Füßen lag, bestärkte ihn in seiner Überzeugung, sie würde es nicht wagen, sich seinem schon damals geplanten und mehr oder weniger offen angekündigten Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ernsthaft entgegenzustellen. Bevor sie nicht die Ursachen dieser verhängnisvollen Komplizenschaft der westlichen Öffentlichkeit aufgearbeitet haben, sollten sich die glühenden Katar-Kritiker in ihrer moralischen Aufwallung zügeln. So berechtigt sie objektiv sein mag, glaubwürdig wird sie erst, wenn selbstkritisch reflektiert wird, warum die Ablehnung der WM 2018 in Russland um so vieles schwächer war.

Und zumindest einen Bruchteil der Energie, die sie heute darauf verwenden, gegen die WM in Katar Sturm zu laufen, sollten die Kritiker besser aufbringen, um einen Beitrag zum Widerstand gegen den russischen Völkermord in der Ukraine zu leisten. Denn der ist unvergleichlich viel schlimmer und verwerflicher als in Katar Fußball zu spielen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt