Belarus bis Balkan: Putin zieht die Schlinge um Europa zu

Wladimir Putin strebt nichts weniger an als die Zerstörung der europäischen Demokratien und die Vorherrschaft auf dem Kontinent. Und auf diesem Weg kommt er erschreckend gut voran. Denn in Berlin und Brüssel scheut man chronisch davor zurück, seiner systematischen Aggressionspolitik mit der angemessenen Konsequenz zu begegnen. Nicht nur in Belarus oder auf dem Balkan, und aktuell an erster Stelle in Bosnien, treibt das Putin-Regime seine neoimperialen Ambitionen voran und zieht die Schlinge um die freien europäischen Gesellschaften immer enger. Doch nach wie vor schont das demokratische Europa den eigentlichen Verusacher dieser Krisen und begnügt sich damit, seine Handlanger zu sanktionieren, statt ihm direkt die Stirn zu bieten.

Im zynischen Heucheln ist Wladimir Putin nicht weniger geübt und skrupellos als in der Anwendung brutaler Gewalt. Mit dem erpresserischen Manöver des belarusischen Diktators, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten an die EU-Grenze zu schleusen, habe er nicht das geringste zu tun, erklärte der russische Staatschef ein ums andere Mal. Wieder einmal soll Russland die verleumdete Unschuld sein, die vom Westen grundlos verdächtigt wird. Diesem empfiehlt Putin maliziös, mit Lukaschenko direkt zu verhandeln und bietet sich großmütig als „Vermittler“ an. Dabei legt er gar keinen Wert darauf, dass man ihm seine dreisten Lügen tatsächlich glaubt. Er setzt sie vielmehr als hämische Machtdemonstration ein und testet mit ihnen aus, wie weit er die Geduld westlichen Staatenlenkern strapazieren kann. Die aber spielen sein Spiel unverdrossen mit und behandeln ihn noch immer wie einen nicht unmittelbar beteiligten Dritten, obwohl sie es längst besser wissen müssten.

Denn die Melodie ist nicht zuletzt aus der Geschichte der Aggression Moskaus gegen die Ukraine sattsam bekannt. Dort leugnet der Kreml jeden direkten Anteil an der Okkupation des Donbass und schiebt seine örtlichen hybriden Hilfstruppen vor. Aber so wie die fiktiven „prorussischen Separatisten“ nur als lokale Aufständische verkleidete willige Vollstrecker des Kreml sind, so ist auch Lukaschenko längst nur noch eine Schachfigur in Wladimir Putins strategischem Plan, die europäischen Demokratien zu destabilisieren und sie sich gefügig zu machen. Niemand kann ernsthaft glauben, dass der angeschlagene belarusische Diktator einen Großangriff auf die EU wie den an der polnischen Grenze wagen würde, ohne dafür zumindest das ausdrückliche Plazet Moskaus eingeholt zu haben. Weil der belarusische Autokrat ohne den starken Arm Putins keine Chance mehr hätte, sich an der Macht zu halten, hat er den Absichten des Kreml-Herrschers und seiner Geheimdienststrategen nunmehr bedingungslos Folge zu leisten.

Putin schluckt Belarus

Was zugleich bedeutet, dass Lukaschenko sein Land der Einverleibung in Putins neoimperialen Mafia-Staat preisgibt – und an seinen Schutzherren im Kreml verschleudert, was an belarusischer Unabhängigkeit von Moskau noch übrig geblieben ist. Der kürzlich zwischen Putin und Lukaschenko vereinbarte 28-Punkte-Plan zur Vereinigung beider Länder ist nichts anderes als ein Fahrplan zum faktischen Anschluss von Belarus durch die Russische Föderation (wie von mir bereits vor Monaten prognostiziert, siehe hier). Diese Vereinbarung beinhaltet, wie die taz zusammenfasst, „eine gemeinsame Währungs-, Geld- und Steuerpolitik, eine Harmonisierung der Renten- und Sozialpolitik sowie die Schaffung eines Marktes für Öl, Gas und andere Ressourcen. Neben einer Militärdoktrin soll es auch eine Konzeption für eine gemeinsame Migrationspolitik geben, im Rahmen derer die Tätigkeit von Innenministerien, Sicherheits- und Grenzschutzorganen sowie Migrationsbehörden aufeinander abgestimmt werden sollen.“

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Putin das seinem Willen unterworfene Belarus als Aufmarschgebiet gegen Polen und das Baltikum, vor allem aber gegen die Ukraine nutzen wird. Neueste gemeinsame Militärmanöver russischer und der Truppen Lukaschenkos unterstreichen dies. Aktuell zieht Moskau erneut Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze zusammen. Eine offener Einmarsch in die Ukraine in nächster Zukunft wird immer wahrscheinlicher. Jüngst warnte Wahington die Europäer, dass er unmittelbar bevorstehen könnte. Und der Zeitpunkt dafür scheint aus Sicht von Wladimir Putin in der Tat ziemlich günstig: Europa steckt wieder tief in der Corona-Krise, ist zudem in einen ihren Zusammenhalt gefährdenden internen Grundsatzkonflikt über die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstrickt, und die Krise an der belarusisch-polnischen Grenze hat die innereuropäischen Differenzen in der Migrationspolitik neu aufgewühlt. Da mag Putin zu durchaus zu dem Schluss kommen, dass Europa genügend abgelenkt ist, um von einer Ukraine-Invasion überrumpeln zu lassen.

Ziehen aber Berlin und Brüssel aus all dem die zwingend notwendigen Konsequenzen? Weiten sie die gegen das belarusische Regime verhängten und jüngst verschärften Sanktionen endlich auf den eigentlichen Urheber der aktuellen Krise aus? Geben sie ihren Widerstand gegen die Belieferung der Ukraine mit Defensivwaffen und deren Aufnahme in den Mitgliedschafts-Aktionsplan der Nato auf? Nein, nichts davon. Die noch amtierende Kanzlerin Angela Merkel erniedrigt sich vielmehr vor Wladimir Putin, indem sie ihn „bittet“, auf den belarusischen Machthaber mäßigend einzuwirken, und um danach,wie von ihm gewünscht, mit „Herrn Lukaschonko“ (als Präsidenten sprach sie ihn aus einem Rest von Selbstachtung immerhin nicht an) über humanitäre Auswege aus der Konfrontation zu telefonieren. Und aus der Sozialdemokratie ist zu vernehmen, Sanktionen gegen Russland seien nicht zielführend, sei doch gar nicht erwiesen, dass Putin für die hybride Kriegsoperation Lukaschenkos mitverantwortlich sei. Bei so viel hiesigem Willen zur Verschleierung der wahren Rolle des Kreml braucht Wladimir Putin gar keinen eigenen Propaganda-Apparat mehr.

Das Rad der Geschichte zurückdrehen

Die deutsche Russlandpolitik muss dem Ausmaß der Bedrohung, die von Putins neuem Autoritaritarismus ausgeht, endlich Rechnung tragen und statt auf end- wie fruchtlosen Scheindialog auf Abschreckung und Eindämmung setzen: politsch, ökonomisch und militärisch. Doch eine solche Wendung ist nicht in Sicht. Im Sondierungspapier der potenziellen Ampelkoalitionäre wird die Bedrohung durch Putins Russland (ebenso wie die durch China) nicht einmal beim Namen genannt. Zur federführenden Rolle des Kreml bei der Entfachung der Konfrontation an der belarusisch-polnischen Grenze hört man aus ihren Reihen kein klares Wort. Statt dessen bekennt man sich im Sondierungspapier zu einer führenden Rolle Deutschlands bei der Abrüstung und vermeidet ein Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Unterdessen rüstet Moskau massiv militärisch auf, nicht zuletzt auf der annektierten Krim, von wo aus es seine Hegemonialansprüche am Schwarzen Meer vorantreibt. All diese strategischen Gefahren für ganz Europa aber finden in der breiteren deutschen Öffentlichkeit keine Beachtung, ja, kaum auch nur Erwähnung.

Eine in weiten Teilen schröderisierte SPD, eine FDP, die zwar punktuell eine festere Haltung gegenüber Russland befürwortet, aber einen Kreml-Kollaborateur wie Wolfgang Kubicki an einer Spitzenposition duldet, sowie eine grüne Partei, die zwar mehr Härte im Auftreten gegen Moskau fordert, es aber ablehnte, den Begriff „Abschreckung“ in das Sondierungspapier aufzunehmen, weil sie ihn für gestrig hält – von einer solchen Konstellation ist eher ein weiteres Abgleiten der deutschen Außenpolitik in den Neutralismus zu erwarten als ein entschiedenes Aufbäumen gegen das Vordringen des Putinismus.

Dabei ist Belarus ist nicht die einzige Front, an der Putin die Schlinge um das demokratische Europa weiter zuzieht. In Bosnien-Herzegowina droht der ultranationalistische Repräsentant der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, mit ihrer Abspaltung und erklärt das 1995 geschlossene Friedensabkommen von Dayton, das die Grundlage für das – problematische, aber doch zumindest nicht mehr kriegerische – Nebeneinander der ethnischen Gruppen im staatlichen Rahmen Bosnien-Herzegowinas gelegt hat, für obsolet. Auch dieser Wiederaufstieg des aggressiven großserbischen Nationalismus wäre ohne aktive Förderung und Rückendeckung durch Putins Russland nicht denkbar. Für Putin wäre die Liquidation von Dayton ein enormer strategischer wie symbolischer Triumph. Nach dem fluchtartigen Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan wäre damit auch das zweite große humanitäre Interventions- und Nation-Building-Projekt des Westens nach dem Ende des Kalten Kriegs gescheitert und rückgängig gemacht. Die Uhren wären auf die frühen 1990er-Jahre zurückgedreht, als der großserbische Nationalismus mit der spätkommunistischen Ideologie Milosevics verschmolz und die blutigen Balkan-Kriege vom Zaun brach.

Wladimir Putin führt die Europäer ein ums andere Mal nach demselben Muster vor, und die fallen immer aufs Neue darauf herein – vielmehr, um es genauer zu sagen: sie lassen in ihrer Entschlossenheit nicht nach, sich wider besseres Wissen immer wieder auf dieselbe Weise hinters Licht führen zu lassen. Jüngst hat Putin den Anstieg der Gaspreise in Europa befeuert, indem er Gaslieferungen zurückhielt (was er natürlich leugnete) – um dann überraschend deren Steigerung anzukündigen und sich so als Retter Europas vor dem energiepolitischen Kollaps zu inszenieren. Statt aber daraus den einzig zwingenden Schluss zu ziehen, dass die europäische Energieabhängigkeit von Russland dringend reduziert werden und als erster Schritt Nord Stream 2 gestoppt werden muss, reagieren führende deutsche Politiker wie Markus Söder umgekehrt und fordern, Putins strategischen Renommierprojekt sollte nun zügig die Betriebserlaubnis erteilt werden.

Angriff auf Memorial gilt ganz Europa

Der Kreml-Herrscher schürt Konflikte, die die innere Stabilität der EU erschüttern, um dann huldvoll deren hilflosen Appelle entgegenzunehmen, er möge es damit doch nicht zu weit treiben. Dabei geht er immer so weit, wie er gehen kann – um die Schwachstellen des Westens abzuklopfen und diese im nächsten Schritt umso gezielter ins Visier zu nehmen. Zwar hat Lukaschenkos Grenzprovokation nicht zu dem erwünschten Resultat einer akuten Spaltung innerhalb der EU geführt. Doch hat diese ihre Unterstützung für die harte Haltung Polens nur um den Preis des Verstoßes gegen ihre eigenen Rechtsvorschriften durchgehalten. Denn diese verpflichten sie eigentlich dazu, politische Asylanträge von Flüchtenden an ihren Grenzen entgegenzunehmen. Dass sich die EU diese Blöße geben musste, genügt Putin fürs erste, ist er doch stets darauf aus, das Bekenntnis der westlichen Demokratien zu Menschenrechten als pure Augenwischerei zu entlarven. Zudem besteht die Gefahr, dass er und Lukaschenko die gestrandeten Migranten nunmehr an die ukrainische Grenze umleiten könnten, um den ohnehin schon im Gange befindlichen Destabilisierungsoperationen gegen Kyjiw eine weitere hinzuzufügen. Auch das ist ein so vertrautes wie deprimierendes Bild: Kaum dass sich der Westen von einer Krise, die Putin angetettelt hat, einigermaßen berappelt, zieht dieser noch ein Ass aus dem Ärmel, mit dem er den Erpressungsdruck erhöhen kann.

Unterdessen treibt Putin zu Hause den Übergang seiner autoritären Kleptokratie in eine offene Diktatur massiv voran. Das drohende Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial ist ein weiterer entscheidender Schritt dorthin. Denn die volle Kontrolle über die Vergangenheit zu erlangen und die Erinnerung an die Verbrechen des Sowjetsystems auszulöschen, in dessen Kontinuität Wladimir Putins sein neoimperiales Projekt stellt, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wiedererrichtung totalitärer Herrschaft in Russland. Dabei ist die Auflösung der ältesten und größten NGO Russlands, die sich um das Gedenken an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft ebenso verdient gemacht hat wie um die Verteidigung der Menschenrechte in der Gegenwart, nicht bloß eine innerrussische Angelegenheit. Memorial, mit seinen Zweigstellen in verschiedenen Ländern (darunter Deutschland), nimmt vielmehr einen wichtigen Platz in der gesamteuropäischen Erinnerungskultur ein. Seine Unterdrückung ist ein Angriff auf die ideellen Grundlagen des ganzen posttotalitären Europa.

Die durch die Passivität des Westens ermöglichte Eskalationsdominanz Moskaus muss endlich grundlegend durchbrochen werden. Statt das Russland Putins weiterhin als potenziellen Kooperationspartner bei der Sicherung des Friedens in Europa zu umgarnen, muss es endlich deutlich als die zentrale Gefahr für die europäische Stabilität und Freiheit benannt und entsprechend bekämpft werden. Nur ein breites Spektrum harter Sanktionen des Westens gegen Moskau, vom Stopp von Nord Stream 2 bis zum Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT, können Wladimir Putins Expansionsgelüste dämpfen. Für eventuelle neue Übergriffe auf die Ukraine muss der Westen im Vorhinein einen Strafkatalog bereithalten und dem Kreml zur Kenntnis geben, damit ihm klar ist, auf was er sich einlässt.

Ob Europa zu derartiger Konsequenz noch die Kraft und den Mut aufbringt, muss jedoch leider bezweifelt werden. Denn die Korruptionskanäle des Kreml haben die Widerstandskräfte der westlichen Gesellschaften bereits erheblich unterminiert. Dabei läuft dem freien Europa die Zeit davon: Rafft es sich jetzt nicht dazu auf, den Vormachtambitionen Moskaus wehrhaft entgegenzutreten, könnte bald der kritische Punkt erreicht sein, von dem an Wladimir Putin tatsächlich nicht mehr aufzuhalten ist.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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