Belarus und Ukraine: Derselbe Kampf für Recht und Würde

Was mir im Diskurs über den Volksaufstand in Belarus zunehmend Missbehagen bereitet, ist der in verschiedensten Variationen ständig wiederholte Hinweis, die Verhältnisse dort seien ganz andere als die in der Ukraine. Der Protest in Belarus, heißt es da zum Beispiel, richte sich ja nicht wie dort gegen Russland, und die Belarussen strebten nicht wie die Ukrainer in die EU. Deshalb fühle sich der Kreml nicht so sehr provoziert wie durch Letztere und werde deshalb wohl in Belarus auch nicht militärisch intervenieren.

Von wegen. Der Kreml wird im Zweifelsfall auf solche feinen Unterscheidungen pfeifen. Dass die Demonstranten in Belarus keine EU-Fahnen schwenken, hindert Moskau nicht daran, die Lüge von der westlichen Steuerung des Protests zu verbreiten und damit sein gewaltsames Eingreifen propagandistisch vorzubereiten – oder andere Maßnahmen, zu denen es sich das Recht herausnehmen wird, um seine Kontrolle über das Nachbarland zu sichern.

Keine Frage, zwischen der Lage in Belarus und der Ukraine gibt es große Unterschiede. Aber diese verblassen doch hinter der großen gemeinsamen Sache, die beide Länder eint: Ihr Kampf für elementare Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie und Unabhängigkeit. Und das gemeinsame Hauptproblem beider Völker ist das neoimperiale Geheimdienst- und Mafia-Regime im Kreml, das mit praktizierter und angedrohter Gewalt verhindert, dass Belarussen und Ukrainer diese für Europäer im 21. Jahrhundert selbstverständlichen Ziele in Frieden und Freiheit verwirklichen können.

Nein, Lukaschenka könnte sich kaum noch einen Tag lang an der Macht halten und seine brutale Repression fortsetzen,, hätte er keinen Putin mehr hinter sich. Und in der Ukraine gäbe es auf einen Schlag keinen Krieg mehr, würde der Kreml seine Aggression gegen diesen souveränen europäischen Staat einstellen. Eine Aggression, die zugleich eine gegen die gesamte europäische Friedensordnung seit dem Ende des Totalitarismus in Europa 1989/90 ist.

Der Euromaidan-Aufstand in der Ukraine gab sich den Namen: Revolution der Würde. Und das beschreibt auch exakt das, was gegenwärtig in Belarus geschieht. Mag sein, dass die Sprecher der belarussischen Demokratiebewegung gute Gründe haben, ihre Verwandtschaft zum Maidan nicht zu sehr zu betonen, Moskau nicht offen zu kritisieren und sich ganz auf ihren eigenen Diktator zu konzentrieren.. Aber der Westen, die EU, die westliche Öffentlichkeit müssen und dürfen sich nicht scheuen, den eigentlichen Verursacher der Misere beider Länder beim Namen zu nennen.

Europa muss Putin endlich klarmachen: Es reicht!

Ein Regime wie das russische, das seine Truppen auf unliebsame Nachbarländer loslässt, Teile ihres Territoriums annektiert oder okkupiert, und das im eigenen Land Oppositionelle vergiften lässt, hat keinem Platz im zivilisierten Europa. Und politische Gegner zu vergiften oder anderweitig um die Ecke bringen zu lassen, ist im Europa des 21, Jahrhunderts übrigens keine interne Angelegenheit mehr – schon gar, wenn dies hemmungslos auch auf fremdem Territorium praktiziert wird.

Das demokratische Europa muss dem Kreml endlich schmerzhaft klar machen, dass es jetzt endgültig reicht. Es muss Putin, der nur die Sprache der Stärke versteht, spüren lassen, wer auf dem Kontinent immer noch der Stärkere ist. Durch scharfe Wirtschaftssanktionen, die seine ohnehin schon marode Wirtschaft empfindlich trifft, durch das Einfrieren von Konten und konsequente Einreiseverbote für alle Personen sowie Einstellen der Zusammenarbeit mit allen Institutionen, die an Putins verbrecherischer Politik beteiligt sind – und nicht zuletzt durch den sofortigen Stopp des schändlichen Nord Stream 2-Projekts.

Es ist unwürdig, sich noch länger der Willkür eines solchen Regime zu beugen, es ist unwürdig, sich von ihm im Namen einer illusorischen „Partnerschaft“ länger auf der Nase herumtanzen zu lassen.

Der Schriftsteller Wladimir Kaminer hat es kürzlich treffend formuliert: „Was machen die führenden Politiker des Westens, Herr Macron und Frau Merkel? Als erstes rufen sie Putin an, um die Situation in Belarus zu klären. (…) Frau Merkel möchte mit einem Diktator das Schicksal des anderen Diktators klären, seine Garantien der Nichteinmischung erringen. Obwohl sie genau weiß, auf Putins Wort ist kein Verlass. (..) Anstatt die Menschen im Nachbarland zu unterstützen, schieben die politischen Eliten des Westens die Republik Belarus Putin in den Rachen. Die Tatsache, dass die Zukunft der Republik über die Köpfe der Belarussen mit Putin ausgehandelt wird, der selbst eine panische Angst vor einer Revolution im eigenen Reich hat und seine Gegner vergiften lässt, kann man nur als Verrat an den demokratischen Idealen des Westens begreifen. Darin sehe ich die Ursache für die Krise der westlichen Demokratien, ihre Politiker glauben an ihre eigenen Werte nicht. Deswegen ziehen sie es vor, mit Diktatoren zu telefonieren.“

Über Belarus die Ukraine nicht vergessen!

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Wir dürfen nicht zulassen, dass der Freiheitskampf in Belarus und in der Ukraine auseinanderdividiert wird. Die Ukraine darf über den Ereignissen in Belarus nicht vergessen werden. Sie steht derzeit unter verschärftem Druck des Aggressors, der ihr eine ihm genehme „Friedenslösung“ für den besetzten Donbass aufzwingen will. Ein politisch unklarer und schwankender ukrainischer Präsident wird dem auf Dauer kaum etwas entgegensetzen können, so lange Frankreich und Deutschland, seine Partner im „Normandie -Format“, es um des lieben Friedens Willen geschehen lasen. Herauskommen wird dabei in Wahrheit allenfalls ein tückischer Scheinfrieden.

Mit dieser chronischen Nachgiebigkeit muss es ein Ende haben. Alle freiheitsliebenden Kräfte in Europa müssen sich jetzt mit aller Macht hinter den Kampf für Recht und Würde in Belarus stellen – und nicht zuletzt zu diesem Zweck der Ukraine mehr denn je den Rücken stärken. Viel mehr Warnungen, was mit ihnen geschehen wird, wenn es gesetzlose Autokratien gewähren lässt, wird es für die europäischen Demokratien nicht mehr geben.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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