Warum die Gefahr einer russischen Aggression in Belarus akut ist

Unter hiesigen Politikern und Experten gibt es eine gewisse Tendenz, die Gefahr eines gewaltsamen Eingreifens Russlands in Belarus kleinzureden. Dabei weist alles darauf hin, dass Moskau genau dazu entschlossen ist. Versuche, den Kreml durch vorsichtige Zurückhaltung zu besänftigen, sind jedenfalls kaum geeignet, ihn davon abzubringen.

Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow haben das Codewort ausgesprochenin Belarus liege eine “Einmischung” des Westens vor, dem es dort in Wirklichkeit gar nicht um Menschenrechte und Demokratie gehe, sondern, so Lawrow, ausschließlich “um Geopolitik”. 

Wer die typische Kreml-Rhetorik der simplen Tatsachenverkehrung zu lesen versteht – die in diesem Fall lautet: nicht etwa Russland mische sich durch seine Bestandsgarantie für das kleptokratische Prügel- und Folterregime Lukaschenkas in belarussische Angelegenheiten ein, sondern diejenigen, die dem Volksaufstand für Demokratie den Rücken stärken wollen -, der weiß, dass dies die kaum verhohlene Ankündigung eines kriegerischen Eingreifens Moskaus ist. Ob dieses die Gestalt einer massiven militärischen Invasion, offen oder verdeckt, oder aber der verstärkten Entsendung von Spezialkräften annehmen wird, die Lukaschenkas angeschlagenen Repressionsapparat auf Vordermann bringen und die Führung bei der gewaltsamen Zerschlagung der demokratischen Opposition übernehmen sollen, steht einstweilen dahin. Gewiss kann auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Moskau eine wie immer geartete subtilere Taktik verfolgen wird, um sich die Vorherrschaft in Belarus zu sichern. 

IMMER NAHM DER KREML “EINMISCHUNG” ZUM VORWAND FÜR AGGRESSIONEN

Doch nicht von der hohen Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Eingriffs Russlands in die Geschicke von Belarus in der einen oder anderen Form auszugehen, wäre grob fahrlässig. Denn ob in der Ukraine oder in Syrien, stets hat der Kreml seine kriegerischen Aggressionen damit begründet, einer westlichen “Einmischung” mit dem Ziel des Sturzes “legitimer Regierungen” zuvorkommen zu müssen. Die Situation in Belarus sei aber doch eine ganz andere als in der Ukraine, hören wir indes allenthalben von zahlreichen westlichen Korrespondenten, Kommentatoren und Politikexperten. Strebe doch die belarussische Opposition nicht wie die Ukraine in die EU, sondern wolle ein gutes Verhältnis zu Russland bewahren. Schließlich sei die Mehrheit der Bevölkerung von Belarus prorussisch und nicht antirussisch gestimmt, wie das in der Ukraine der Fall sei. Daraus leiten die Experten ebenso wie führende europäische Politiker die Hoffnung ab, Putin könne gegenüber den unbotmäßigen Belarussen milder gestimmt sein als gegenüber den Ukrainern, und er ließe sich daher in eine Vermittlungslösung per Dialog zwischen Lukaschenka-Regime und Zivilgesellschaft einbinden.

Aber das klingt nach einer neuerlich aufgewärmten gefährlichen Illusion über das Wesen des neoimperialen russischen Regimes. Denn Putin weiß besser als viele der hiesigen Kommentatoren und Experten, dass ein auch nur halbwegs demokratisch regiertes und selbstbestimmtes Belarus eine tödliche Gefahr für seine eigene autokratische Herrschaft darstellen würde. Sollte sich bewahrheiten, dass der russische Oppositionspolitiker Nawalny vergiftet wurde und dies auf das Konto des Regimes geht, würde das unterstreichen, wie nervös der Kreml angesichts der Entwicklungen in Belarus ist und wie skrupellos er seine Machtmittel nach wie vor einzusetzen bereit ist.

Ob sich die belarussischen Demokraten nun wie die ukrainischen zur EU bekennen oder ihnen eine eher neutrale Position ihres demokratisch erneuerten Landes zwischen Europa und Russland vorschwebt, ist dabei nur von sekundärer Bedeutung. Das verschwörungstheoretische Szenario der ewigen Einkreisung durch den Westen dient den Kreml lediglich als propagandistischer Vorwand für seine Aggressionspolitik. Worum es ihm eigentlich geht, ist die Unterdrückung jeglichen Strebens nach Demokratie in seinem – von ihm also solchen definierten – Einflussbereich. Gebrochen werden soll jeglicher Widerstand gegen Putins Absicht, die ehemaligen Sowjetrepubliken wieder unter die Vorherrschaft Moskaus zu zwingen und in ein neoimperiales großrussisches Gebilde einzubauen. Zu glauben, Belarus könne vor Putins Zugriff dadurch besser geschützt werden, dass man die Verbindungen der Opposition zur EU herunterspielt, ist eine Selbsttäuschung. Die EU ist nun einmal eine Chiffre für Demokratie in Europa. Und dass die Belarussen diese wollen, ist in den Augen des Putin-Regime ihr Verbrechen. Daran ändert auch nichts, dass die Demonstranten dort keine Europafahnen schwenken.

ES GEHT NICHT UM „PRORUSSISCH ODER ANTIRUSSISCH“, SONDERN UM DEMOKRATISCH ODER ANTIDEMOKRATISCH

Und nebenbei gesagt: ist denn die Ukraine tatsächlich “antirussisch”? Die überwältigende Mehrheit der Ukrainer wäre in Wahrheit überglücklich, wenn sie in friedlichem, gleichberechtigtem Einvernehmen mit ihrem großen Nachbarn leben dürften. Dazu freilich müsste sich Russland grundlegend wandeln, das Völkerrecht achten und sich zu den Prinzipien des kooperativen Miteinanders der Nationen bekennen. Der Gegensatz in den Konflikten sowohl um die Ukraine als auch um Belarus verläuft nicht zwischen “antirussisch oder prorussisch” – sondern zwischen demokratisch oder antidemokratisch. 

Bisweilen hört man hierzulande indes auch, der Kreml werde sich in seinem eigenen Interesse kaum darauf einlassen, an einem solch substanziell geschwächten Despoten wie Lukaschenka festzuhalten. Zumal der belarussische Autokrat für den Kreml ohnehin ein unzuverlässiger und ungeliebter Kumpan sei. Aber wie war das denn mit Assad? Der stand bereits mit mehr als einem Bein im Abgrund, als Russland massiv in Syrien eingriff und dem Diktator die Rückeroberung seines Territoriums ermöglichte. Und seit Jahren wird im Westen darüber spekuliert, ob Putin den von ihm im Grunde zutiefst verachteten syrischen Autokraten nicht demnächst fallen lassen werde. Nichts davon ist bis heute eingetreten.

ES GIBT LUKASCHENKA NUR NOCH, WEIL ES PUTIN GIBT

Nun ist die Lage in Syrien von der in Belarus selbstredend in vieler Hinsicht grundverschieden. Doch ein Prinzip gilt für beide Länder gleichermaßen: Indem der Kreml durch sein Eingreifen abgetakelten Despoten die Macht und die Haut rettet, macht er sie sich zu willfährigen Marionetten. Ein Lukaschenka, der die Fortsetzung seiner Herrschaft ausschließlich der Macht des Kreml verdankt, wäre für Moskau ein gefügiger Befehlsempfänger und damit idealer Statthalter seiner imperialen Politik. 

Bleibt somit nur doch das Argument, eine Invasion in Belarus würde für den Kreml weltpolitisch zu riskant sein und ihn finanziell überfordern. Doch ähnliches hatte man sich im Westen auch schon vor seinem Eingreifen in der Ukraine und in Syrien eingeredet. Die Erfahrungen zeigen aber, dass sich der Kreml im Zweifelsfall von solchen nach westlichen Maßstäben rationalen Kriterien nicht davon abhalten lässt, das nach seiner Logik einzig wirksame politische Mittel einzusetzen: massive Gewalt. Und mit seiner Überrumpelungsstrategie eines ungläubigen und unvorbereiteten Westens war er bisher sehr erfolgreich

Die zivilgesellschaftliche Bewegung in Belarus hat gewiss ihre guten Gründe, sich auf den Kampf gegen Lukaschenka zu konzentrieren und sich nicht darauf einzulassen, durch zu laute Kritik an Russland die Aggressionsbereitschaft des Kreml zusätzlich anzustacheln. Doch realistisch betrachtet, lässt sich der Faktor Russland aus dem bevorstehenden Entscheidungskampf in Belarus nicht ausblenden. Es ist sogar der Hauptfaktor. Denn es gibt Lukaschenka als Alleinherrscher in Belarus nur noch deshalb, weil es Putin gibt. Und nur, wenn es gelingt, den Kreml durch eine entschlossene Eindämmungspolitik von einer Aggression abzuschrecken, hat die Demokratie in Belarus eine Chance.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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