Belarus, das sind wir

Samstag Nachmittag am Potsdamer Platz in Berlin: Mehr als zweihundert Demonstranten (grob geschätzt) protestieren gegen die brutale Repression des Lukaschenka-Regimes und solidarisieren sich mit der Demokratiebewegung in Belarus. Sergey Lagodinsky, Europa-Abgeordneter der Grünen, und Renata Alt, Bundestagsabgeordnete der FDP, sind gekommen, um Solidaritätsadressen abzugeben. Doch von wenigen Ausnahmen abgesehen, bleiben hier Belarussinnen und Belarussen unter sich.

Man sieht sehr viele junge Gesichter, Gesichter der neuen belarussischen Generation, die sich von der Autokratie eines machtbesessenen Kleptokraten nicht länger von der globalen Moderne abschneiden und ihrer Zukunft berauben lassen will. Einige von ihnen haben sich auf den Boden gelegt, um an die Tausenden von Opfern der Prügelgarden und Folterknechte Lukaschenkas zu erinnern. Man trifft hier einige deutsche Landsleute, die sich auch bereits in der Ukraine-Solidarität engagiert haben, sowie vereinzelte Ukrainer. Eine von ihnen schwenkt aus Verbundenheit mit dem belarussischen Freiheitskampf die ukrainische Fahne.

So wie hier sind derzeit in vielen deutschen Städten Menschen auf den Straßen und Plätzen, um auf das Unrecht in Belarus und den breiten, unerschrockenen Widerstand der belarussischen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Doch wo ist die massive Mobilisierung deutscher politischer Parteien, Gruppierungen und Initiativen für Menschenrechte und Menschenwürde, die in einem europäischen Land, in unserer unmittelbaren Nähe also, mit Füßen getreten werden? Wo sind die Demonstranten, die es, wenn schon nicht aus moralischer Empörung, so doch zumindest aus der Einsicht heraus massenhaft auf die Straße treibt, wie eminent die dortigen Vorgänge unsere eigenen Interessen tangieren? Vergleicht man die Teilnehmerzahlen etwa bei jüngsten Protestdemonstrationen gegen Rassismus in den USA oder die globale Klimapolitik, wird der Kontrast sinnfällig.

Dabei hat die Konfrontation in Belarus das Potenzial, sich zu einem dramatischen gesamteuropäischen und weltpolitischen Konflikt zu entwickeln und die europäische Friedensordnung insgesamt aufs Neue heftig zu erschüttern. Angesichts seiner trotz der maßlosen Repression bröckelnden Herrschaft hat sich Lukaschenka bereits der Rückendeckung Wladimir Putins versichert. Die Wahrscheinlichkeit wächst, dass der Kreml unter dem Vorwand, es müssten „Ruhe und Ordnung“ wiederhergestellt werden, seine Truppen in das Land schicken wird – seien es reguläre Einheiten, hybride „kleine grüne Männchen“ oder Söldner der berüchtigten „Wagner-Gruppe“, oder auch alles auf einmal. Putin wartet wohl nur noch auf einen „Hilferuf“ Lukaschenkas. Prag 1968, aber auch Syrien lassen grüßen.

Womöglich sind Putins Einsatzkräfte sogar schon längst im Land. Mit Blick auf das „unmenschliche Vorgehen“ der Sonderpolizei OMON in Minsk äußerte die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch jüngst Zweifel, ob diese Kräfte aus Belarus seien. Möglich wäre demnach ein Einsatz russischer OMON-Kräfte. „Mir scheint, dass die belarussischen Jungs nicht so auf ihre Mütter und Schwestern einschlagen könnten“, sagte sie dem Radiosender Swoboda (Radio Free Europe).

Eine russische Invasion würde nicht nur die, einstweilen endgültige, vollständige Einverleibung von Belarus in Putins neosowjetisches Imperium bedeuten, sondern auch eine eminente Bedrohung für die Sicherheit der Ukraine darstellen, die sich mit der Präsenz russischer Truppen in Belarus von Moskau fast rundum militärisch umzingelt sähe. Würde die EU in diesem Fall endlich mit konsequenter Härte reagieren oder sich wieder nur mit eher halbherzigen Sanktionen begnügen wie im Fall der Krim-Annexion und der Invasion im Donbass? Jedem muss jedenfalls klar sein: Ob sich die Demokratie .in Belarus durchsetzt oder sich Putins Autoritarismus weiter nach Europa hineinschiebt, ist für die Zukunft der Freiheit auf dem gesamten Kontinent von existenzieller Bedeutung.

Nicht nur müsste die EU jetzt dringend scharfe Sanktionen gegen Diktator Lukaschenko und seinen Machtapparat verhängen – wesentlich schärfere als die bisher geplanten -, und der belarussischen Opposition jede nur erdenkliche Unterstützung gewähren. sondern auch Putins Russland dringend eine unmissverständliche Warnung davor zukommen lassen, die Lage in Belarus in seinem Sinne zu verschärfen und für seine aggressiven imperialen Absichten auszunutzen.

Denn Belarus, das sind wir.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • Danke für diesen Bericht, lieber Herr Herzinger,
    schade, dass ich von der Veranstaltung nichts wusste – ich wäre gern hinzugekommen. Schon um zu zeigen, dass es Anteilnahme und Zuspruch für die Bürgerrechtsbewegung in Belarus auch in Deutschland gibt. Bleiben Sie an dem Thema dran, bittet
    herzlichst Ihr
    Rainer Bieling

    • Vielen Dank für diese freundliche Zuschrift. In den kommenden Tagen gibt es weitere Gelegenheiten, sich an Solidaritätskundgebungen für die Demokratiebewegung in Belarus zu beteiligen:

      19.08 Mi 19:00-20:30 Potsdamer Platz
      20.08 Do 19:00-20:30 Pariser Platz
      21.08 Fr 19:00-20:30 Pariser Platz
      22.08 Sa (voraussichtlich Nachmittag) Fahrrad-Demo
      23.08 So 18:00-20:30 Große Kette der Solidarität weltweit, Ort wird bekanntgegeben

      Organisiert werden die Veranstaltungen von zivilgesellschaftlichen Initiativen der belorussischen Diaspora in Deutschland. Ihre Forderungen, die unser aller Unterstützung verdient haben, lauten:

      „1. Wir fordern die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Belarus am 9. August
      2020 für ungültig zu erklären.
      2. Wir fordern ein unverzügliches Ende der polizeilichen Willkür und Gewalt!
      3. Wir fordern die sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen
      Gefangenen und zivilgesellschaftlichen Aktivisten!
      4. Wir fordern die Verhängung von Sanktionen gegenüber allen, die an den
      Repressionen beteiligt sind und waren, falls diesen Forderungen nicht
      nachgekommen wird!“

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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