Belarus, Fall Nawalny: Wieder kommt Putin mit allem davon

Die mit langer Verzögerung von der EU endlich verhängten Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime greifen entschieden zu kurz. Und die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny bleibt nach anfänglichen starken Worten aus Berlin für den Kreml ohne Konsequenzen. Das Einknicken vor Putins Gewaltpolitik ist in Berlin und Brüssel längst chronisch geworden.

Die belarusische Demokratiebewegung lässt sich trotz zunehmend brutaler Repression auch weiterhin nicht davon abhalten, zu Zehntausenden auf die Straßen zu strömen. Dennoch wächst die Gefahr, dass das Regime in Minsk und sein Schutzherr Wladimir Putin das Aufbegehren gegen die Willkürherrschaft Lukaschenkos auf Dauer ersticken werden. Eine wesentliche Mitverantwortung dafür tragen die EU-Regierungen, die sich in ihrer Unterstützung des belarusischen Freiheitskampfes schwerfällig, zögerlich und halbherzig zeigen.

Makabrer „Dialog“ im KGB-Knast

Zwei Monate hat die EU gebraucht, um Lukaschenkos Wahlbetrug endlich mehr als nur verbale Proteste entgegenzusetzen. Doch auf die Sanktionen, auf die sich die EU-Staaten schließlich unter großen Mühen einigen konnten, trifft das Diktum zu: Zu wenig, zu spät. Wurde doch ausgerechnet der Hauptverantwortliche für die Wahlfälschung, Diktator Lukaschenko, nicht auf die Sanktionsliste gesetzt – mit der von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron formulierten abstrusen Begründung, man wolle dem Autokraten keinen „Vorwand“ dafür liefern, sich einem Runden Tisch mit der Opposition zu verweigern.

Als ob Lukaschenko dafür einen Vorwand bräuchte! Längst hat er doch kategorisch klar gemacht, dass ein Runder Tisch für ihn nicht in Frage kommt, sondern er ganz auf die gnadenlose Unterdrückung und perfide Zermürbung der Demokratiebewegung setzt. Um das zu unterstreichen, hat er sich in einer handstreichartig vorgezogenen Inaugurationszeremonie als Präsident bestätigen lassen und damit vollendete Tatsachen geschaffen. Und die jüngsten Prügelszenen vom Sonntag haben unzweideutig klar gemacht, dass sein Regime von seiner harten Linie keinen Iota abzuweichen bereit ist.

Was Lukaschenko, sofern er ihn überhaupt in Betracht zieht, unter einem „Dialog“ mit der Opposition versteht, hat er im übrigen jetzt durch jene makabre Gesprächsrunde mit inhaftierten Dissidenten demonstriert, die er in einem KGB-Gefängnis abgehalten hat. Ob es sich dabei um ein bloßes zynisches Ablenkungsmanöver des Machthabers handelt, oder ob er tatsächlich ernsthaft versucht, einzelne Oppositionelle für sein geplantes Manöver einer „Verfassungsreform“ unter seiner Federführung einzuspannen und damit die Demokratiebewegung zu spalten, steht noch dahin.

Längst führt bei der Unterdrückung Putin die Regie

Klar ist jedoch, dass dieses ebenso schaurige wie dreiste Schauspiel Macrons Begründung für die Nichtsanktionierung der Person Lukaschenkos noch deutlicher ad absurdum führt.  Ist es denn nicht der Zweck von Sanktionen, diejenigen, die sie treffen, zu einer Verhaltensänderung zu zwingen, weil sie mittels gutem Zureden nicht dazu zu bewegen sind?  Nach Macrons verquerer Logik muss man aber gerade diejenigen von Sanktionen verschonen, die sie am meisten treffen sollen. Schöne symbolische Gesten der Solidarität, wie sie Swetlana Tichanowskaja, die wahrscheinliche tatsächliche Siegerin der belarusischen Präsidentenwahl, bei ihrem kürzlichen Besuch in Berlin vonseiten der Bundesregierung zuteil wurden, können entschlossenes, zielgerichtetes politisches Handeln jedenfalls nicht ersetzen.

Das Kernproblem der EU-Sanktionspolitik gegenüber Belarus ist jedoch, dass Putins Russland daraus vollständig ausgeklammert wird. Dabei müsste es sich doch auch bereits bis nach Brüssel herumgesprochen haben, dass bei der Unterdrückung der belarusischen Oppositionsbewegung längst nicht mehr Lukaschenko, sondern der Kreml die Regie führt. Eindeutig müsste die EU benennen, dass es sich dabei um die schleichende Übernahme des belarusischen Staats durch Moskaus Neoimperialismus handelt, und dem Kreml deutliche Konsequenzen androhen, sollte er nicht davon ablassen. Doch einmal mehr zeigt sich die Unfähigkeit oder der Unwille des demokratischen Europa, Putins verdeckte Aggressionsakte zu durchschauen und ihm klare Grenzen zu setzen.

Fall Nawalny: „Europäische Koordination“ als Ausrede fürs Nichtstun

Auch im Fall des Giftanschlags auf den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sind den anfänglichen großen Worten führender deutscher Politiker bisher keinerlei Taten gefolgt. Bei den Ankündigungen, in den Beziehungen zu Russland müsse nun „alles auf den Prüfstand gestellt“ werden, sogar auch die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2, ist es geblieben. Nichts wurde konkret auf den Prüfstand gestellt, nichts an Gegenmaßnahmen eingeleitet. Und das, obwohl inzwischen auch die UN-nahe Organisation für das Verbot chemischer Waffen bestätigt hat, dass Nawalny Opfer eines Anschlags mit einem Nervengift wurde – das nach aller Evidenz nur aus den Laboren der russischen Geheimdienste stammen kann.

Außenminister Heiko Maas reagierte auf diesen Befund mit der Ankündigung, er werde nunmehr mit seinen europäischen Amtskollegen über eine angemessene Reaktion auf diesen Fall eines völkerrechtswidrigen Einsatzes von Chemiewaffen beraten, der keinesfalls hingenommen werden dürfe. Dieser Verweis auf die notwendige gesamteuropäische Koordination – da deutsche „Alleingänge“ angeblich nichts brächten – kann mittlerweile allerdings schon wie ein Codewort für die zu erwartende Untätigkeit Berlins gelesen werden, das die Schuld dafür dann auf die nicht erzielte europäische Einigung schieben kann.

Hatte Berlin denn nicht vor Wochen verkündet, es verlange von Moskau eine lückenlose Aufklärung des Anschlags auf Nawalny – andererseits werde das Konsequenzen nach sich ziehen? Nun, der Kreml hat geradezu demonstrativ nicht die geringsten Anstalten gemacht, den Fall aufzuklären, Konsequenzen aber gibt es bis heute keine. Statt dessen hat das Putin-Regime inzwischen seinerseits die Provokationsschraube weiter angezogen, indem es Nawalnys Vermögen eingefroren hat. Doch auch das brachte Berlin nicht auf Trab. Längst hat im übrigen die Riege der Abwiegler und Putin-Appeaser, von Peter Altmaier bis Manuela Schwesig, von Michael Kretschmer bis Johann Saathoff dafür gesorgt, dass die Debatte über einen Stopp von Nord Stream 2  stillschweigend wieder von der Agenda gerutscht ist. Alles deutet somit darauf hin, dass Putin auch dieses Mal wieder mit all seinen Untaten davonkommt und die vor Wochen proklamierte Neuausrichtung der deutschen Politik gegenüber Russland kläglich im Sande verläuft.

Paris und Washington nobilitieren Putin zum Friedensstifter

Mehr noch: Mit dem Segen Frankreichs und der USA hat Putin jetzt die Gelegenheit erhalten, sich im kriegerischen Konflikt um Berg-Karabach als Friedensstifter zu inszenieren. Dass Paris und Washington gemeinsam mit Moskau Armenien und Aserbaidschan zu einer Waffenruhe aufgerufen haben, wirkt wie eine Nobilitierung des Kreml  zum Vermittler in einer Auseinandersetzung, in die er als militärischer und politischer Hauptunterstützer Armeniens wieder einmal selbst involviert ist. Allerdings ist die Lage hier etwas unübersichtlich, hat der Kreml doch auch an Aserbaidschan Waffen geliefert. Und die massive Einmischung der Türkei auf aserbaidschanischer Seite verleiht diesem Konflikt Züge eines Stellvertreterkriegs zwischen zwei  aggressiv nach Vormacht strebenden autoritären Mächten.

Doch ausgerechnet Putin als Stifter einer Waffenruhe – das klingt wie eine makabre Farce. Kann der Kreml-Chef, von Syrien bis zur Ostukraine, doch geradezu als Rekordhalter im Verkünden und unverzüglichen Brechen von Waffenruhen gelten. Da passt es ins Bild, dass auch die am Wochenende in Moskau ausgehandelte Waffenruhe zumindest vorerst nicht eingehalten wurde.

Gewiss ist es dringlich, dieses Blutvergießen schnellstmöglich zu beenden. Was aber keinesfalls eintreten darf ist, dass über dem schrecklichen Kriegsgeschehen in Berg-Karabach der Entscheidungskampf in Belarus um Demokratie oder Diktatur ebenso wie der Mordanschlag auf Alexej Nawalny in den Hintergrund oder gar ins Vergessen rücken. Auch wenn das manchen Politikern und Putin-Lobbyisten in Berlin ebenso wie in anderen europäischen Hauptstätten nur allzu gut in den Kram passen würde.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • In Weißrussland protestiert nur die Stadtbevölkerung. In der Landbevölkerung Ist der Präsident nach wie vor beliebt, da er die Kriminalität beseitigt hat und die Aufkaufpreise landwirtschaftlicher Produkte erhöht hat.

  • Bei allem Respekt, Herr Dr. Herzinger, aber hatten Sie nach den bisherigen halbseidenen Anläufen von Frau Merkel in Sachen Sanktionen wirklich Anderes erwartet? Ich nicht mehr. Die seit Jahren rhetorischen Beschwichtigungsbemühungen der vielen pro-Putin-Komparsen in deutschen Ministerämtern und anderen staatstragenden Rängen nebst Bekenntnissen und Treueschwüren eines korrumpierten ex-Kanzlers für den EU-Tankwart in Moskau sind nur noch mit Grausen, meist aber gar nicht mehr auszuhalten. Es ist Zeit für einen gewaltigen Ruck in der Politik, um international endlich wieder politisch-ethische Werte durchzusetzen und nicht nur immer aufs Neue ein aus finanzökonomischer Rücksichtnahme schlecht kaschiertes Einknicken vor dem Diktator-Regime in Moskau zu zelebrieren.

    • Nein, ich habe absolut nichts anderes erwartet. Umso dringlicher ist es jedoch, daran zu erinnern, welche großen Ankündigungen von führenden Politikern in dieser Sache zuerst gemacht wurden und was daraus geworden ist – nämlich nichts. Ich schreibe ja nicht nur für die leider sehr wenigen, die sich in der Frage der deutschen Russlandpolitik schon längst keine Illusionen mehr machen.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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