In Libyen wiederholt sich das syrische Desaster

Vorbemerkung: Das Nichteingreifen des Westens in den Syrienkrieg war bei manchem mit der Vorstellung verbunden, die kriegerischen Energien würden sich dort irgendwann von selbst erschöpfen. Und mit dem abzusehenden Sieg des Despoten Baschar al-Assad werde in Syrien zumindest eine gewisse Stabilität wiederhergestellt, die Voraussetzung für eine Befriedung des Landes und der Region sei. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die systematische, das internationale Recht aggressiv missachtende Kriegsführung des syrischen Regimes und seiner Schutzmächte Russland und Iran gegen die Zivilbevölkerung unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung hat Schule gemacht. Libyen ist nun das nächste Opfer.

Der Konflikt in Libyen weitet sich immer mehr zu einem
internationalen Stellvertreterkrieg aus – mit einer wachsenden
Zahl von Akteuren. Dass er seinen blutigen Höhepunkt
vermutlich noch längst nicht erreicht hat, hat sich jüngst an der
von Ägyptens Staatschef al-Sisi ausgesprochenen Drohung
gezeigt, seine Truppen in das Nachbarland zu schicken.


Zuletzt hatte das Kriegsgeschehen in Libyen durch das massive
Eingreifen der Türkei
eine spektakuläre Wendung genommen.
Noch vor Kurzem schien die Eroberung des ganzen Landes
durch die Truppen des unter anderem von Russland, Ägypten
und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten
Generals Haftars nur eine Frage der Zeit zu sein. Nun aber hat
die massive Intervention der Türkei zugunsten der international
anerkannten Regierung in Tripolis – und mit ihr verbundener
islamistischer Milizen – dafür gesorgt, dass die Kräfte des
Warlords weit zurückgedrängt wurden.


Die Gemengelage unter den beteiligten Mächten wird so immer
komplizierter. Ihre verstärkte Einmischung in Libyen bringt die
Türkei in eine direkte Frontstellung gegenüber Russland, das
Haftar mit massiven Waffenlieferungen und dem Einsatz von
Söldnern der „Gruppe Wagner“ unterstützt. Diese
Söldnertruppe dient dem Kreml als eine Art Schattenarmee, mit
deren Hilfe er kriegerische Konflikte in seinem Sinne
vorantreibt, um sich dann offiziell heuchlerisch als unbeteiligter
Friedensvermittler zu präsentieren.

Doch schon lange oszilliert das Verhältnis der Autokraten Putin
und Erdogan zwischen Rivalität und Komplizenschaft. Auch in
Syrien stehen die Ambitionen Ankaras, das die Kontrolle über
Teile des Nordens des Landes beansprucht, Moskaus
Vormarsch im Weg
. Doch versteht es der Kreml immer wieder
geschickt, die Türkei in seine eigenen Vorherrschaftspläne in
der Region einzubinden und damit zugleich in Schach zu
halten. Durch Lieferungen hochwertiger Rüstungsgüter wie das
Luftabwehrsystems S-400 an Ankara schürt Russland zudem
die Entfremdung der Türkei von der Nato.

Bei diesen immer schwerer zu durchschauenden Kämpfen um
Vorherrschaft in der Region sehen sich die Europäer zu
weitgehend ohnmächtigen Zuschauern degradiert. Die auf der
Libyen-Konferenz im Januar in Berlin vereinbarte Waffenruhe
und das damit verbundene Waffenembargo haben sich
jedenfalls als rein fiktiv erwiesen. Denn die Europäer zeigten
weder Bereitschaft noch Fähigkeit, die auf ihr Drängen
zustande gekommene Vereinbarung in der Praxis
durchzusetzen – weder durch militärischen Einsatz noch durch
Sanktionen gegen die Mächte, die ungerührt gegen sie
verstoßen. So entpuppte sich die deutsche „Friedensinitiative“
als bloßer Selbstbetrug.

Tatsächlich nutzten die Unterstützer Haftars, an erster Stelle
Russland, die Berliner Konferenz nur als Bühne, um den
Warlord als anerkannten politischen Akteur hoffähig zu machen
und den Krieg an seiner Seite dann nur umso forcierter fortzusetzen. Waren die UN bisher von 800-1200 russischen Söldnern in Libyen ausgegangen, wird inzwischen geschätzt, das dort bis zu 2000 von ihnen kämpfen. Jetzt ist zwar wieder einmal von einer möglichen Waffenruhe die Rede – und sogar davon, dass Haftar von seinen Verbündeten fallen gelassen und durch einen zuverlässigeren Frontmann ersetzt werden könnte. Doch auch diese Art von Szenario ist aus Syrien bekannt: Die Waffenruhen, die Putin dort verkündete, um sie gleich wieder zu brechen, sind kaum zu zählen.

Dennoch fallen die Europäer immer wieder willig auf Moskaus
Täuschungsmanöver herein. Dass der russische Außenminister Lawrow jetzt auf der Umsetzung der Berliner Vereinbarungen besteht, ist unglaubwürdig, nachdem Russland selbst führend daran beteiligt war, sie zu Makulatur zu machen. Jetzt aber, da sich Russland in Libyen erstmals seit Langem in der Defensive sieht, spielt es wieder den Friedensengel. Doch unverdrossen halten die Europäer an ihrer Einschätzung von Putins Russland als einem „unverzichtbaren Stabilitätspartner“ fest.

Dabei war die Libyen-Konferenz im Januar von vielen
Kommentatoren als großer Erfolg offensiver deutscher
Friedensdiplomatie und als exemplarischer Beleg für das
neue weltpolitische Gewicht gepriesen worden, das Berlin durch
sein konsequentes Festhalten an seinem „multilateralen“
Konfliktlösungsansatz
gewonnen habe. Mit seinem
Engagement in Libyen hatte Deutschland ein Zeichen setzen
wollen, dass es eine neuerliche Katastrophe wie in Syrien nicht
zulassen werde. Tatsächlich aber gleicht die dortige Lage
zunehmend der in Syrien: Der Westen sieht ratlos zu, wie
skrupellose Akteure ohne Rücksicht auf das internationale
Recht die Gewaltspirale immer weiter drehen.

Dabei ist nicht einmal mehr klar, ob die Europäer in Libyen
überhaupt noch an einem Strang ziehen. So unterstützt
Frankreich Haftar
und weicht damit von der Haltung Brüssels
und Berlins ab, die an der Anerkennung der Regierung in
Tripolis festhalten. Präsident Macron lässt damit seine
wachsende Neigung erkennen, sich globalpolitisch und
sicherheitsstrategisch zunehmend an Russland anzulehnen.

Nach dem Scheitern des „Arabischen Frühlings“, dessen
freiheitlicher Impuls durch terroristische und sektiererische
religiöse Gewalt ausgelöscht wurde, stehen die Zeichen im Nahen Osten wieder gänzlich auf der Restaurierung autokratischer Herrschaft. Weil sich die westlichen Demokratien, und insbesondere die USA als die einst maßgebliche Ordnungsmacht in der Region, immer mehr zurückgezogen haben, führen dort jetzt autoritäre Mächte wie Russland und die Türkei (und im Hintergrund China) Regie.
Doch dass der Nahe Osten durch sie zur Ruhe kommen könnte
– und sei es zu einer Friedhofsruhe -, wie es Befürworter des
Heraushaltens des Westens zynisch hoffen, ist eine Illusion.


Ohne die Durchsetzung zumindest ansatzweiser demokratischer Zustände und die Achtung menschenrechtlicher Minimalstandards wird es für die Region auf Dauer weder Frieden noch Sicherheit geben. Und damit auch keinen Schutz Europas vor den Folgen der verheerenden Konflikte in seiner Nachbarschaft.

Zuerst erschienen in ukrainischer Übersetzung als Kolumne in Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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