Nach den brutalen Ausschreitungen kürzlich in Stuttgart war allenthalben zu hören, die Zuordnung des Täterkreises zu einer „Party- und Eventszene“ sei „verharmlosend“. Doch so harmlos sind die Anhänger militanten Partymachens gar nicht.
Das Phänomen, dass es zu gewalttätigen Exzessen kommt, weil die Staatsgewalt oder andere Autoritäten die Freunde uferlosen Feierns daran zu hindern versuchen, ihren unbegrenzten Spaß zu haben, ist aus der Geschichte der Republik wohlbekannt. Von den „Halbstarkenkrawallen“ in den späten Fünfziger Jahren (und der legendären Demolierung der Berliner Waldbühne beim Rolling Stones- Konzert 1965) bis zu den „Chaostagen“ Mitte der Neunziger reichen die Erfahrungen damit. Und sie sind bis heute nie abgerissen.
Man muss auch nicht erst an das tödliche Ende des Altamont-Festivals 1969 oder gar an die Morde der Manson-Family denken, um zu begreifen, wie nahe Fun und Gewalt in der hedonistischen Gegenkultur stets beieinander gelegen haben. Dass das Randalieren an einem bestimmten Punkt selbst zum lustspendenden Bestandteil des Party-Events wird, kann in wesentlich weniger dramatischem Maßstab auf so manchem Dorffest studiert werden, zumal, wenn Unmengen von Alkohol und Drogen im Spiel sind. Dionysos lässt grüßen.
Für die militanten Partymacher gibt es sogar eine Art Hymne: „You gotta fight for your Right to Party“ sangen die Beastie Boys 1986. Im offiziellen Video zum Song sieht man, wie coole, hippe, zum unbedingten Spaßhaben wild entschlossene Jungs und Mädels nach Kräften blöde, verklemmte Spießer drangsalieren. Auch wenn die Gewaltbereitschaft dabei nicht viel weiter als bis zum Tortenwerfen reicht und Polizisten als Zielscheibe der lustvoll ausgelebten Aggression nicht ins Bild rücken, drückt der Song doch eine Grundgestimmtheit aus, die das Partymachen für eine Art elementares Menschenrecht hält. Dessen Verletzung berechtigt aus dieser Sicht dann eben auch zur Anwendung von Widerstandsmitteln der gröberen Art.
Damit sollen die Beastie Boys wohlgemerkt keinesfalls der geistigen Urheberschaft der Gewaltexzesse von Stuttgart bezichtigt werden, und die erwähnten früheren Jugendkrawalle sollen auch nicht in Bausch und Bogen mit diesem jüngsten schockierenden Ereignis gleichgesetzt werden. Sie zeigen jedoch, dass der fundamentalistische Anspruch auf unbeeinträchtigtes Spaßhaben durchaus beträchtliches Zerstörungspotenzial in sich birgt.
Die extreme Brutalisierung gerade der Attacken auf Polizisten, die in Stuttgart zu beobachten war, hat indes mit der besonders aufgeheizten Stimmung im Lande im Zuge der Corona-Krise zu tun, Wohl kaum jemals zuvor hat es ein derart breites ideologie- und milieuübergreifendes Einverständnis in der aggressiven Ablehnung des Staates und seiner exekutiven Organe gegeben. Von Angehörigen arabischer Clans, die ohnehin keine Autoritäten außerhalb ihrer Parallelstrukturen anerkennen, bis hin zu völkischen Reichsbürgern herrscht ein wütender „multikultureller“ Konsens, dass Corona nichts als eine Erfindung der herrschenden „Eliten“ und ihrer finsteren Drahtzieher zu dem Zwecke seien, die Bürger ihrer totalen Kontrolle zu unterwerfen. Polizisten, die in der ersten Reihe für die Einhaltung von Abstandsregeln und Versammlungsbeschränkungen sorgen müssen, werden so automatisch als Exekutoren eines diabolischen Masterplans wahrgenommen.
Selbst viele eigentlich ernsthafte Menschen, die nicht an die krudesten Konstrukte von Verschwörungsmythologen glauben und sonst eigentlich keinen radikalen Ideen zugeneigt sind, teilen heute den Generalverdacht, hinter den Schutzmaßnahmen vor Corona steckten irgendwelche andere verborgene, finstere Absichten. Das Gebot, Masken zu tragen und größeren Menschenansammlungen fern zu bleiben, empfinden sie als unerträgliche Zumutung und quasitotalitären Entzug ihrer persönlichen Freiheit, obwohl es sich hier doch in Wirklichkeit lediglich um minimale Einschränkungen individueller Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten auf überschaubar begrenzte Zeit geht.
Den Zeitgenossen, die bürgerliche Grundrechte mit der Lizenz verwechseln, sich nach eigenem Belieben und ohne Rücksicht auf lästige Regeln ausleben zu dürfen, ist das alles aber entschieden zu viel. Wenn also die Gewalt, die in Stuttgart zum Ausbruch kam, tatsächlich von einer „Party- und Eventszene“ ausgegangen ist, gibt das keineswegs Anlass zur Beruhigung. Ganz im Gegenteil: Es zeigt, dass schon geringe, scheinbar gänzlich „unpolitische“ Anlässe genügen können, um die zivilisatorischen Konventionen in Fetzen fliegen zu lassen. Und auch wenn sich extremistische Gruppierungen an scheinbar „unideologische“ Krawalle wie die in Stuttgart anzuhängen pflegen, ist die Gewaltszene, die hier am Werke war, doch viel weitreichender und diffuser – und dementsprechend schwieriger dingfest zu machen.