Putins Verfassung ist eine weitere Kampfansage an die westlichen Demokratien

Lange Zeit hatten sich internationale Experten den Kopf darüber
zerbrochen, mittels welcher Schachzüge es Wladimir Putin wohl
gelingen könnte, nach Ablauf seiner Amtszeit als russischer Präsident
zumindest indirekt die Fäden der Macht in der Hand zu behalten. Die
Auflösung des Rätsels erwies sich als ebenso banal wie monströs:
Putin hat sich selbst eine neue Verfassung auf den Leib geschneidert,
um seine Herrschaft zu verewigen. Damit dürften die letzten Zweifel
daran beseitigt sein, dass wir es in Russland mit einer Autokratie zu
tun haben, die zunehmend ohne scheindemokratische Fassade
auszukommen glaubt.

Putin könnte nunmehr bis 2036 Präsident bleiben – und dass er Wege
finden wird, seine Regentschaft sogar noch darüber hinaus zu
verlängern, ist nicht auszuschließen. Robert Mugabe etwa, der
Diktator Zimbabwes, hielt sich bis ins Alter von 93 Jahren am Ruder.

Mit dem offensichtlich manipulierten Referendum, bei dem nach
offiziellen Angaben annähernd 80 Prozent der Bevölkerung der
Verfassungsreform zugestimmt haben sollen, hat Putin innerhalb
einer Woche die zweite spektakuläre Demonstration seines
ungebremsten Herrschaftswillens geliefert. Die trotz anhaltend
akuter Covid-19-Gefahr
Ende Juni auf dem Roten Platz in Moskau
durchgeführte gigantische Militärparade anlässlich des Kriegsendes in
Europa vor 75 Jahren
sollte seinem Volk vor Augen führen, dass Stolz
und Größe Russlands untrennbar mit seiner Führung verbunden
seien. Doch Putin sandte damit auch ein massives Signal an den
Westen: Russland sei wieder eine Großmacht, an dessen Willen
vorbei keine globalen Entscheidungen mehr getroffen werden
könnten.

Sein mit wachsender Aggressivität verfolgtes Bestreben, die
Geschichte und Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs im Sinne
seines neosowjetischen und großrussisch-nationalistischen Narrativs
umzuschreiben, ist Bestandteil seiner hybriden Kriegsführung gegen
die westlichen liberalen Demokratien und die auf ihren Werten basierende liberale Weltordnung. Um sie zu unterminieren, glorifiziert das Putin-Regime Russland zum wahren Retter der Menschheit vor der NS-Barbarei und instrumentalisiert die
Erinnerung an den opferreichen Kampf der Völker der Sowjetunion
im Zweiten Weltkrieg zur Legitimierung seiner aktuellen
neoimperialen Gewaltpolitik.

(Zu Putins Geschichtsrevisionismus und Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung lesen Sie meinen Essay in der Mai-Juni-Ausgabe der Zeitschrift „Internationale Politik: hier)

Die Erwartungen mancher westlicher Kommentatoren, Putins Regime
werde durch sein katastrophales Missmanagement der Corona-Krise
sowie durch sinkende Ölpreise auf dem Weltmarkt ins Wanken
geraten, haben sich somit einstweilen als Wunschdenken erwiesen.
Einmal mehr sind diese Beobachter einem im Westen weit
verbreiteten Denkfehler aufgesessen
: dass ökonomischer und
gesellschaftlicher Niedergang eine Diktatur zwangsläufig schwächen
müssten. In Wahrheit scheren sich Autokratien nicht um das
Wohlergehen ihrer Bevölkerung, so lange ihr Repressionsapparat
intakt ist und sie über die Mittel verfügen, die Machteliten ihres
Landes durch materielle und ideologische Korrumpierung bei Laune
zu halten.

Wie stabil Putins Herrschaftsmodell, das sich auf die Symbiose von
Mafia und Geheimdiensten stützt, auf lange Sicht tatsächlich ist, kann
indes niemand mit Sicherheit sagen. Es wäre jedoch fahrlässig, nicht
davon auszugehen, dass den westlichen Demokratien in Putins
Russland ein dauerhafter, zu allem entschlossener Gegner erwachsen
ist, den man nicht durch „Dialog“ und gutes Zureden im Zaum halten
kann, sondern nur mittels konsequenter politischer und militärischer
Abschreckung.

Putins neue Verfassung, durch die er nunmehr unverhüllt auf die
Justiz durchgreifen kann, und in der unter anderem die
Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare zementiert wird,
zerstört nicht nur die letzten Hoffnungen auf eine innere
Demokratisierung des Landes. Sie manifestiert auch die
Entschlossenheit des Putin-Regimes, sich definitiv vom europäischen Rechtverständnis abzukoppeln. Durch die Verankerung der Priorität
nationalen Rechts vor der Autorität internationaler Gerichtsbarkeit in
Russlands Verfassung hat es die EU jetzt nicht mehr nur mit einem
Staat zu tun, dessen Auslegung grundlegender europäischer
Rechtsnormen von der europäischer Demokratien gravierend
abweicht, sondern mit einer Macht, die die Geltung dieser Normen
im Grundsatz negiert.

Eine peinliche Schlappe bedeutet diese Entwicklung nicht zuletzt für
die Parlamentarische Versammlung des Europarats, die Russland im
vergangenen Jahr das Stimmrecht zurückgab, obwohl sich an den
Gründen für dessen Entzug – die Annexion der Krim und Moskaus
Aggression in der Ostukraine – nichts geändert hat. Zur Begründung
für diese Kapitulation
war damals von führenden europäischen
Politikern das Argument zu hören, Russland im Europarat zu halten,
sichere der russischen Zivilgesellschaft die Möglichkeit, gegen
gravierende Menschenrechtsverletzungen die Hilfe der europäischen
Justiz in Anspruch zu nehmen.

Dabei hatte Moskau im Umgang mit supranationalen
Gerichtsentscheidungen bereits seit geraumer Zeit Willkür walten
lassen. So weigerte es sich wiederholt, Entscheidungen des
europäischen Menschenrechtsgerichtshofs umzusetzen, und die
Anordnung des Internationalen Seegerichtshofs, die bei dem Überfall
der russischen Marine auf ukrainische Schiffe
in der Straße von
Kertsch Ende 2018 festgesetzten Seeleute freizulassen, wurde vom
Kreml schlichtweg ignoriert. Nun aber hat Putin seine Untertanen
qua Verfassung von der Option abgeschnitten, juristischen Beistand
aus Europa einzuholen. Das Einknicken des Europarats hat ihn dazu
ermutigt, in der Missachtung europäischer Institutionen noch weiter
zu gehen als bisher.

Unter Putins Führung verstößt Russland seit Jahren aggressiv gegen
internationales Recht
– in dem Bewusstsein, dafür keine ernsthaften
Konsequenzen vonseiten der internationalen Gemeinschaft fürchten zu müssen.

So hält Moskau ohne jedes Anzeichen von Kompromissbereitschaft an der völkerrechtwidrigen Einverleibung der Krim und an der militärischen Besetzung von Teilen der Ostukraine fest. In Syrien bombardiert die russische Luftwaffe ohne
Rücksicht auf das humanitäre Völkerrecht systematisch zivile
Einrichtungen, und im Libyen-Krieg mischt der Kreml mittels einer
Schattenarmee, bestehend aus Söldnern der „Wagner-Gruppe“,
aufseiten des abtrünnigen Generals Haftar mit.

Zunehmend scheint sich das Putin-Regime auch nicht zu scheuen,
Mordanschläge auf dem Territorium westlicher Länder ausführen zu
lassen. Nach der Giftattacke im britischen Salisbury 2018 ist die
Ermordung eines tschetschenischen Dissidenten im Berliner
Tiergarten vergangenen Sommer, die nach Einschätzung der
Bundesanwaltschaft von der russischen Regierung in Auftrag gegeben
wurde, ein weiteres Indiz dafür.

Dennoch klammert man sich im Westen mehr denn ja an die
Vorstellung, Russland könne und müsse als globaler Stabilitäts- und
Sicherheitspartner gewonnen werden. Besonders Frankreichs
Präsident tut sich gegenwärtig darin hervor, Putin in diesem Sinne zu
umgarnen. Und während der US-Kongress scharfe Sanktionen gegen
Russland verhängt hat, amtiert im Weißen Haus ein ergebener
Bewunderer und Günstling des Kreml-Herrschers, der diese
Maßnahmen unterläuft. Es bleibt dabei: Putins wachsende Stärke
resultiert aus der Schwäche und Desorientierung des Westens – mit
fatalen Konsequenzen für die Zukunft der westlichen Demokratien.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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