Srebrenica ist heute. Ein gnadenloser Pazifismus macht es möglich

Heute vor 25 Jahren wurde die UN-Schutzzone Srebrenica kampflos an die Soldateska des serbischen Generals Mladic ausgeliefert. Während die dort stationierten UN-Blauhelme ebenso wie die westlichen Regierungen wegsahen, massakrierten die Eroberer 8000 bosnisch-muslimische Einwohner. Im Frühjahr 1996 analysierte ich in der Zeitschrift „Merkur“ das Versagen führender deutscher Intellektueller angesichts des Gemetzels auf dem Balkan, und wie der von ihnen lange Zeit kultivierte moralische Maximalismus in der Stunde der Bewährung in einen relativistischen Attentismus umschlug. Meine damalige Kritik an dem gnadenlosen Pazifismus selbstgerechter Wegseher hat leider nichts von ihrer Aktualität verloren. Denn was in Srebrenica geschah, geschieht auch heute – an anderen Orten wie Idlib. Und von dem Krieg, der damals nach Europa zurückkehrte, wird heute die Ukraine überzogen.  

Richard Herzinger:
Flucht aus der Politik. Deutsche Intellektuelle nach Srebrenica

Erschienen in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Mai 1996.

Kaum ein Jahrzehnt ist es her, dass führende Intellektuelle wie Günter Grass,
Walter Jens oder Jürgen Habermas den zivilen Ungehorsam gegen die
NATO-Nachrüstung proklamierten und in Mutlangen und anderswo zum
Widerstand gegen angebliche amerikanische Kriegsvorbereitungen in Europa aufriefen. Der Nuklearkrieg hat − den damaligen Beschwörungen der
Friedensaktivisten zum Trotz, es sei bereits »fünf Minuten nach zwölf« − bekanntlich nicht stattgefunden. Statt dessen brach das sowjetische Imperium in sich zusammen, das europäische Gleichgewicht geriet ins Wanken − und mit ihm das weltanschauliche Koordinatensystem der deutschen Linksintellektuellen.

Sie hatten ihr ethisches Selbstverständnis vor allem aus der moralischen
Verpflichtung abgeleitet, ein neues Auschwitz müsse für alle Zukunft unmöglich gemacht werden. Wie hoch der Anspruch gesteckt war, zeigt eine
Äußerung von Jürgen Habermas aus dem Jahre 1986. In einem Gespräch erklärte er damals, »die konkreten, partikularen, in ganz bestimmten Lebensformen verwurzelten Moralen« seien »heute nur noch akzeptabel, wenn sie einen universalistischen Kern haben. Denn sie müssen im Ernstfall verhindern können, dass so etwas wie ›Shoa‹ wieder passiert. Sonst sind sie nichts wert und lassen sich nicht rechtfertigen.« Im nächsten Atemzug empörte sich Habermas über die amerikanische Militäraktion gegen Libyen, mit der die Reagan-Administration 1986 Vergeltung für die terroristischen Aktivitäten Gaddafis üben wollte: »Die Aktion gegen Libyen − die ich im übrigen für so katastrophal halte, dass ich mich zum ersten Mal seit Jahren wieder einer Demonstration angeschlossen habe −, diese Aktion verstößt gegen das Völkerrecht und gegen eine ganze Reihe leicht einsehbarer Normen. Sie setzte zum Beispiel mutwillig das Leben Unschuldiger aufs Spiel; das ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen.« (Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Frankfurt: Suhrkamp 1987.)

Habermas’ Gedankensprung von der Shoa zum amerikanischen Bombenangriff auf Libyen ist symptomatisch für den Kurzschluss im Denken einer ganzen Generation deutscher »engagierter Intellektueller«: Sie vermischten die Maxime »Nie wieder Auschwitz« mit der Maxime »Nie wieder Krieg«. Als in Bosnien im Sommer 1995, nach dem schmählichen Scheitern aller Versuche, den Metzeleien durch Beschwichtigung Einhalt zu gebieten, nur noch die Alternative zwischen der Duldung des Völkermords und dem Einsatz kriegerischer Mittel blieb, entschied sich die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen standhaft gegen den Krieg. Folgerichtig ignorierten
sie, so gut es ging, die Barbarei in Bosnien und engagierten sich mit um so
größerem Eifer in einer Boykottkampagne gegen die französischen Atomtests im Pazifik. Allen voran Günter Grass: Mit den Atomversuchen, so zürnte er in einem Brief an Kenzaburo Oe, »erniedrigt sich ein hochzivilisiertes
Land zur barbarischen Tiefstform« (FR, 8.August 1995). Den Krieg in Bosnien erwähnt er dagegen nur in einem Nebensatz − als er moniert, dieser verdränge im Bewußtsein der Öffentlichkeit unzulässigerweise andere Kriege
wie den »der türkischen Armee gegen die Kurden«.

Die Konzentration auf die Beendigung eines konkreten Krieges mußte
Grass ein Ärgernis sein, weil damit in seiner Sicht der Kampf gegen »den
Krieg« als solchen verwässert wurde. Es bedurfte wohl erst einer Extremsituation wie der in Bosnien, um endgültig sichtbar zu machen, daß diese Art von Moralismus zu nichts anderem als Zynismus führt.

Die Bereitschaft, das Leben Unschuldiger aufs Spiel zu setzen, ist die Voraussetzung für jede kriegerische Handlung. Es ist richtig, darauf immer wieder hinzuweisen, um das Bewusstsein wachzuhalten, dass alle Kriege, auch wenn sie für noch so »gerechte« Ziele geführt werden, schreckliche Konsequenzen haben. Wer aber, wie Jürgen Habermas, daraus folgerte, Kriegshandlungen seien, da sie Unschuldigen das Leben kosten können, »unter keinen Umständen zu rechtfertigen«, musste in letzter Konsequenz vor den Betreibern von »so etwas wie ›Shoa‹« kapitulieren. Dies zeigte sich, als der von Habermas beschworene »Ernstfall« nur wenige hundert Kilometer vor unserer Haustür eintrat.

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Srebrenica kann
nicht mit Auschwitz gleichgesetzt werden. Aber wer möchte ernsthaft daran
glauben, dass eine universalistische Moral, die Srebrenica zulässt, an irgendeinem fernen Tage ein neues Auschwitz verhindern könnte?
Als in Europa − und nicht in einem fernen Erdteil − drei Jahre lang ein
ethnischer Vernichtungskrieg wütete, konnte oder wollte die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen darin den seit fünfzig Jahren als Menetekel an die Wand gemalten »Ernstfall« nicht erkennen. Wieder galt ihre bohrende Sorge vor allem denjenigen, die Opfer einer wie auch immer begrenzten westlichen Militärintervention werden könnten, und sie wurden nicht
müde davor zu warnen, eine solche Aktion müsse den Krieg auf dem Balkan
zwangsläufig ausweiten und verlängern. Währenddessen weiteten die Soldatesken der Warlords Milosevic, Karadzic und Tudjman den Krieg gegen die unschuldige Zivilbevölkerung in Bosnien nach Belieben aus, und die im
Auftrag von UNO und NATO in Srebrenica stationierten niederländischen
Truppen gaben, befehlsgemäß kampflos, ihre Schutzbefohlenen zum Abschlachten frei.

Erst nachdem die politische und moralische Katastrophe des demokratischen Europa mit dem Fall von Srebrenica vollendet war, sprach sich Jürgen Habermas doch noch für eine begrenzte militärische Aktion in Bosnien aus − wenn auch nur »schweren Herzens« und »mit Bauchschmerzen«, wie er in einem Interview (Spiegel vom 7.August 1995) gestand: »Moralisch gesehen«, rechtfertigte Habermas seine jahrelange Option gegen eine Intervention, »lädt der, der aktiv eingreift, die größere Verantwortung auf sich. Krieg heißt: töten, töten lassen, vorsätzlich das Risiko des Todes eingehen und unschuldige Opfer in Kauf nehmen.« Er habe in bezug auf den Balkankrieg »immer Verständnis für einen hinhaltenden Kurs der − sagen wir − geringeren Verantwortung« gehabt. »Wer Krieg führt, ist bereit zu töten. Wer möchte denn diese Verantwortung übernehmen? Ich sah keinen Grund, irgendwen mit meiner Stimme, die ja sowieso nicht zählt, in einen Krieg zu treiben.« Auf den Einwand, der Preis für den »hinhaltenden Kurs« sei es immerhin gewesen, ethnische Vertreibung und Ausrottung hinzunehmen, konzedierte Habermas etwas kleinlaut: »Ja, das zerrt an den Nerven«.

Wenn auch sehr spät und zögernd, so löste sich Habermas am Ende doch
noch von der Position eines erbarmungslosen Pazifismus, der sich auch durch das jahrelange Flehen der unschuldigen Bevölkerung von Sarajevo, Zepa und ˇSrebrenica, UNO und NATO sollten endlich mit ihren Bombardements beginnen, in seiner puristischen Ignoranz nicht erweichen ließ. Aber es ist fraglich, ob Habermas verstanden hat, dass er mit der gequälten Revision seiner
bisherigen Haltung die praktische Untauglichkeit seiner einst so offensiv
verkündeten politischen Ethik eingestanden hat. An Bosnien hat sich erwiesen, dass die von Habermas 1986 aufgestellte Formel genau umgekehrt hättelauten müssen: Keine Ethik mit »universalistischem Kern« ist etwas wert,
w enn sie nicht auf konkrete, partikulare »Lebensformen« (auch jenseits der
westeuropäischen Wohlstandsgrenze) praktische Anwendung finden kann;
wenn sie keine Antwort darauf gibt, wer die zivilisatorischen Normen, die
aus ihr folgen, gegen ihnen zuwiderlaufende »partikulare Moralen« durchsetzen soll; wenn sie keine Auskunft darüber erteilen will, mit welchen konkreten Mitteln dies nötigenfalls zu geschehen habe.

Jürgen Habermas ist ein entschiedener Verfechter der deutschen Westbindung. Seine berechtigte Wertschätzung für die kulturellen und politischen Errungenschaften der demokratischen Zivilisation basiert aber auf einer weitgehenden Ausblendung der Tatsache, dass diese Errungenschaften nicht ohne eine unablässige, entschiedene Bereitschaft zur Abwehr ihrer inneren und äußeren Feinde denkbar sind. Habermas möchte vom Westen die Bürgerfreiheiten und zivilen Tugenden übernehmen, nicht aber dessen institutionalisierten Willen zur politischen und militärischen Selbstbehauptung.

Er sieht nicht, dass beides auf derselben moralischen Basis gründet und daß
das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Abstrakte Appelle für eine Stärkung der UNO als supranationaler Rechtsinstanz können keine Antwort auf die Frage ersetzen, was der Westen tun soll, solange die schöne Vision nicht Wirklichkeit geworden ist. Die moralisch einwandfreie Forderung nach einer universalistischen Weltverfassung wird, wenn sie sich dem Problem der
Durchsetzbarkeit zivilisatorischer Minimalstandards entzieht, zur Camouflage für politisch-ethische Verantwortungslosigkeit.

Viele Jahre lang hatte Habermas seine Aufgabe darin gesehen, den Prozess
der Zivilisierung der deutschen politischen Kultur im Sinne westlicher demokratischer Werte zu befördern. Ende der achtziger Jahre glaubte er feststellen zu können, dass − in der Bundesrepublik − die Zivilisierung weitgehend gelungen sei. Als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, hatte Habermas Angst, diese schöne, so mühsam aufgebaute Zivilgesellschaft könne durch eine zu starke Erschütterung von außen in die Brüche gehen. Deshalb plädierte er dafür, sich aus allem so weit wie möglich herauszuhalten: Das zarte Pflänzchen deutscher Zivilkultur, deren Lebensfähigkeit er im Grunde zutiefst misstraut, hielt er noch nicht für reif, um aus dem Glashauseiner scheinbar befriedeten Nachkriegswelt entlassen und den Stürmen der Gegenwart ausgesetzt zu werden. Auch das: Eine Art von Besitzstandswahrung.

Aber eine demokratische, universalistisch verfasste Zivilgesellschaft unterminiert ihre eigenen politischen und moralischen Grundlagen, wenn sie − und sei es indirekt, durch Nicht-Handeln, aus Passivität oder Schwäche −
mit ihren Todfeinden paktiert oder sie auch nur gewähren lässt. Es ist heute
mehr denn je ein existentielles Problem der freiheitlichen westlichen Gesellschaften, wie sie kriegstauglich bleiben und nötigenfalls kriegsbereit sein können, ohne ihre zivilen Errungenschaften und ihren prinzipiellen Abscheu vor kriegerischen Lösungen aufzugeben. Einem Bekenntnis zum Westen, das sich diesem Dilemma nicht stellt, liegt das Wunschdenken von einem noch immer kriegsfernen Westeuropa zugrunde. Über die Zukunft des freien Westens nachzudenken aber heißt, spätestens wieder seit Bosnien, den Krieg als Ernstfall zu denken.

Was im Kern bedeutet: politisch zu denken. Denn es kann nur die Sache
einer pragmatischen und zugleich prinzipiengeleiteten, einer sowohl flexiblen wie weitsichtigen Politik sein, die westlichen Demokratien auf die
kommende Periode gefährlicher Konfrontationen und Krisen vorzubereiten.
Für die Intellektuellen heißt dies, von liebgewordenen Dichotomien wie
denen zwischen Macht und Moral, Utopie und Realismus oder Gesinnungs-und Verantwortungsethik Abschied zu nehmen. Nur eine Politik, die die
Einhaltung der universalen Menschenrechte als ihren harten programmatischen Kern betrachtet, ist für eine liberal verfasste Gesellschaft realistisch; nur eine Menschenrechtspolitik, die sich auf starke, handlungsbereite Institutionen stützt, kann andererseits ihrem ethischen Anspruch praktische Bedeutung verleihen.
*
Um ihre Flucht aus der Politik und ihr Ausweichen vor der Anwesenheit des
Krieges zu kaschieren, versteifen sich manche Intellektuelle pedantisch auf
Unterscheidungen von verschiedenartigen Verbrechen gegen die Menschheit. So belehrt uns die Rechtsphilosophin Sibylle Tönnies: »Das Merkmal der ›ethnischen Säuberung‹ ist ungenügend, um eine Analogie zu Auschwitz herzustellen.« (Spiegel vom 4.Dezember 1995) Daraus folgt für sie, dass sich die Befürworter militärischen Eingreifens zum Schutz des Lebens von europäischen Mitbürgern nicht auf die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie berufen dürften. Ein »Universalismus« aber, der erst dann zur Aktion ruft, wenn unzweifelhaft der Tatbestand eines zweiten Auschwitz erwiesen ist oder die globale nukleare Auslöschung (angeblich oder tatsächlich) bevorsteht, muss in der Konsequenz zum unfreiwilligen Komplizen der »partikularen«, regionalen Menschenvernichter werden. Im übrigen ist die »bellizistische« Analogie nicht die zwischen Srebrenica und Auschwitz, sondern die zwischen Srebrenica und München 1938. Die Tatsache, dass beide Ereignisse sehr wohl miteinander vergleichbar sind, wäre auch dann noch alarmierend genug, wenn es Auschwitz nicht gegeben und sich Nazideutschland mit einer »normalen« Ausrottungspolitik begnügt hätte.

Die Entrückung von »Auschwitz« ins Apokalyptische scheint perverserweise die politische und moralische Entwaffnung vor den Mördern der Gegenwart zu bewirken. Und die quasi-religiöse Aufladung der »Shoa« zum
Geschichtszeichen, zum Ziel- und Wendepunkt zivilisatorischer Unheilsgeschichte, hat den moralischen Imperativ, sie zukünftig zu verhindern, in die eschatologische Erwartung einer universalen Läuterung der Menschheit aufgelöst. Diesseits einer solchen moralischen Reinigung erscheinen die politischen Institutionen auch und gerade demokratischer Staaten verdächtig, dem stets auf Ausbruch lauernden apokalyptischen Verhängnis zuzuarbeiten. Ein gewohnheitsmäßiger Antiimperialismus brachte namentlich die Großmachtpolitik der Amerikaner immer wieder mit den Untaten der Nazis in Verbindung. Am Ende verkehrte sich der Impetus der Beschwörung von »Auschwitz« ins Gegenteil: Die rituelle Anrufung des unerklärlichen und unvergleichbaren Verbrechens dient nunmehr zur Legitimation des Nichtstuns gegenüber vergleichsweise »geringeren« Verbrechen der Gegenwart.

Die konsequentesten Matadore der apokalyptischen deutschen Kulturkritik arbeiten inzwischen mit Hochdruck daran, die quälende Erinnerung an
den bosnischen Krieg zum Verschwinden zu bringen, indem sie seine Realität in Zweifel ziehen. Peter Handkes serbischer Reisebericht ist die bisher
krasseste Manifestation dieser Bewusstseinsoperation. Sein Phantasma von
den unverstandenen Serben, die tapfer und eigensinnig, mit Bergstiefeln und
Bauernbroten, den Verlockungen und Drohungen der entfremdeten westlichen Zivilisation (McDonald’s! Hollywood!) widerstehen und dafür verleumdet und ausgegrenzt werden, dient Handke nur als Vorwand, um seinen Ressentiments gegen die nivellierte und geistlose liberalistische Massengesellschaft einmal mehr freien Lauf lassen zu können. Der Kulturpriester schäumt gegen das unmoralische Fernsehen, das, während er selbst sich in esoterisches Schweigen hüllte, die grauenhafte Wirklichkeit des Vernichtungskrieges in Bosnien präsent zu halten versuchte. Für diese Belästigung will die tiefe Seele am nichtswürdigen Medium Rache nehmen. Indem er große Teile der Wirklichkeit des Krieges zu einer medialen Erfindung erklärt, soll am Ende doch wieder der ewige deutsche Endzeitprophet als einsamer Mahner inmitten einer verächtlichen, verkommenen sekundären Welt der Erfahrungslosigkeit, der Täuschung und des Bilderkonsums erscheinen. Schuld am Debakel sind dann nicht die Täter, die doch immerhin authentisch und kulturell autark mordeten − an allem schuld ist vielmehr der westliche Globalisierungswahn, der keiner Wirklichkeit mehr ihre eigentümliche Würde lassen will. Unter dem Vorwand, die Ersetzung authentischer Wahrnehmung durch eine mediale Scheinwirklichkeit anzuprangern, betreibt Handke selbst die Verwischung des Unterschieds zwischen Fiktion und Realität. Nach der »Auschwitz-Lüge« der Neonazis bescherte uns der apokalyptische Zivilisationskritiker eine weitere Variante deutscher Vergangenheitsbewältigung: die Srebrenica-Lüge.

Die Rückkehr des Krieges nach Europa hat die Theorien vom »Posthistoire«,
vom »Ende des Subjekts«, vom »Verschwinden der Wirklichkeit« oder von
der »Überflüssigkeit von Politik« ad absurdum geführt. Sie hat die pazifistischen Illusionen der deutschen Friedensbewegung ebenso zerplatzen lassen wie die Hoffnungen sozialdemokratischer und liberaler Geschichtsoptimisten auf eine Epoche ungefährdeter Prosperität und friedvoller Zusammenarbeit in einem ungeteilten Europa, wie sie nach 1989 für kurze Zeit aufgeblüht waren. Der Streit zwischen »Pazifisten« und »Bellizisten« über das Für und Wider einer Militärintervention in Bosnien hat das Kernproblem des westlichen Debakels in Bosnien bislang eher verdeckt: Es ist die Folge falscher Politik, nämlich des vollständigen Fehlens einer entschlossenen und geschlossenen Politik des Westens gegenüber der neuen totalitären Herausforderung, die mit den Exzessen des ethnischen Nationalismus über Europa hereingebrochen ist. Bosnien ist nicht bloß ein ferner Krisenherd, es ist der grauenhafte Vorschein einer möglichen Zukunft ganz Europas. Denn die Sanktionierung einer völkischen, auf ethnischer Auslöschung basierenden Ordnung müsste zwangsläufig einen gewaltigen Auftrieb für kulturnationalistische Tendenzen und für die Re-Ethnisierung auch Westeuropas bedeuten. Die europäische Neue Rechte formuliert dafür schon das ideologische Programm.

Die bosnische Katastrophe kann mit den Instrumentarien linker Theorietradition nicht mehr plausibel erklärt werden. Kein anonymer »Modernisierungsprozess«, kein Selbstlauf »instrumenteller Vernunft« trägt für diese Entwicklung die Verantwortung; weder dem »Kapitalismus« oder »Imperialismus« noch einer blinden Zerstörungsgewalt des »Weltmarkts« kann die Schuld an diesem Geschehen in die Schuhe geschoben werden. Die Schuldigen und die direkt oder indirekt Mitverantwortlichen haben Namen und Adressen; das bosnische Massaker macht auf drastische Weise deutlich, dass politisches Handeln und politische Entscheidungen konkreter Subjekte keineswegs überflüssig oder nebensächlich geworden sind. Da trifft es sich gut, dass das Scheitern ihrer eigenen utopischen Denkentwürfe in den Augen
vieler Intellektueller öffentliches Engagement als solches diskreditiert hat.
Weniger sarkastisch gesagt: Die ideologiekritische Dekonstruktion der Werte des westlichen Liberalismus und ihre kulturrelativistische Denunziation
als Instrumente kolonialer Unterdrückung hat bewirkt, dass Universalien
wie den Menschenrechten vielfach der Realitätsgehalt abgesprochen wird.
Für die Tatsache, dass die Achtung dieser Universalien sich jetzt als unverzichtbare Voraussetzungen für ein Minimum an zivilisiertem Umgang in der Gesellschaft erweisen, haben poststrukturalistische, diskursanalytische oder systemtheoretische Ansätze keine Erklärung.

Im Anschluss an die Theorien Niklas Luhmanns erschien Politik in den
achtziger Jahren vielen als ein bloßes »Teilsystem« unter anderen »Funktionssystemen« in Staat und Gesellschaft. Die Demokratie basiert bei Luhmann auf einer prekär ausbalancierten Interaktion zwischen solchen selbstreferentiellen Systemen. Daraus folgt für Luhmann, dass der Horizont und die Wirkungsmöglichkeiten der Politik drastisch begrenzt sind, dass sich die Demokratie zum »Rechtsstaat und zum Steuerstaat« entwickelt.
Luhmann hat sich der utopischen Überfrachtung des Politischen im Gefolge von Neomarxismus und Frankfurter Schule entgegengestellt, seine
Verdienste um eine rationale Beschreibung von Politik und Demokratie sollen nicht geschmälert werden. Es fällt jedoch beim Wiederlesen von seinen
Schriften der siebziger und achtziger Jahre auf, wie stark seine Vorstellungen
von der Demokratie als einem sich selbst regulierenden System auf der stillschweigenden Voraussetzung aufbauten, dass dieses System durch keinen externen Feind mehr in Frage gestellt werden könne. Sofern Luhmann Gefährdungen der Demokratie ins Auge fasste, bezogen sie sich auf mögliche Veränderungen im funktionalen Zusammenhang der Demokratie selber. Dass die Politik noch einmal vor existentielle Grundsatzentscheidungen gestellt werden könnte wie die zwischen Westintegration und Sonderweg oder Krieg und Frieden, und dass es in solchen Fällen sie alleine ist, die die Folgen solcher Entscheidungen zu kalkulieren und die Verantwortung dafür zu übernehmen hat, gerät bei der Sicht auf das Politische als eines »geschlossenen, autopoietischen Systems« nicht ins Blickfeld.

Für verantwortlich handelnde politische Individuen, die gesellschaftlich
folgenreiche Entscheidungen zu treffen haben, gibt es in der theoretischen
Konstruktion Luhmanns keinen Platz. »Es ist nur eine geringe Übertreibung«, schreibt er 1984 im vierten Band von Soziologische Aufklärung, »wenn
man sagt, dass wir heute nicht mehr durch Personen regiert werden, sondern
durch Codes«. Auch wenn dies richtig war oder ist: Mittlerweile dient die
Phrase, die Politik dürfe ihren Einfluss auf die Gesellschaft nicht überschätzen und müsse sich die Begrenztheit ihrer Erkenntnismöglichkeiten und
Handlungsspielräume eingestehen, vorwiegend als Ausrede von Politikern,
die ihre Unfähigkeit verschleiern wollen, Lösungsvorschläge für dringliche
gesellschaftliche Probleme zu formulieren.

Die Rolle des Intellektuellen reduziert sich bei Luhmann auf den Status
des analysierenden Beobachters, der − jedenfalls was Luhmann selbst betrifft
− das Zusammenspiel der autonomen Institutionen und Teilgewalten in der
parlamentarischen Demokratie mit geradezu ästhetischem Entzücken bestaunt. Ist die Rezeptionshaltung bei Luhmann eingestandenermaßen affirmativ, so kleidet sie sich bei anderen nach wie vor in einen subversiven Gestus. Auf die Feststellung, nichts als ein Beobachter sein zu können und zu
wollen, legt aber auch ein durch und durch systemkritischer Diskursanalytiker wie Jürgen Link höchsten Wert. Für ihn ist die Bundesrepublik längst
die »mindestens dritte Weltmacht«, gar eine »selbsternannte militärische
Weltpolizeimacht« (In: Frauke Meyer-Gosau/Wolfgang Emmerich (Hrsg.), Über Grenzen. Göttingen: Wallstein 1995.)

Seine Diagnose gibt er als das Resultat einer streng
wissenschaftlichen »Diskursanalyse« aus. Doch in Wirklichkeit übertüncht
er mit ihr nur seine Weigerung, zur zukünftigen deutschen Rolle in Europa
Stellung zu beziehen. Seine Ratlosigkeit versteckt er hinter einer scheinradikalen Attitüde, die von der legitimen Frage, wie konkrete Menschen unter bestimmten Umständen richtig handeln könnten, nicht behelligt werden will. So fristet die alte linke Ideologiekritik im neuen Mäntelchen quasistrukturalistischer Objektivität ihr tristes, rechthaberisches Dasein fort.

Von dem Verharren der deutschen intellektuellen Klasse im antipolitischen Elfenbeinturm profitiert im Augenblick am meisten die sogenannte
Neue Rechte. Deren politische Philosophie lässt sich leicht zusammenfassen:
nach innen fordert sie einen autoritären, starken Staat auf der Basis der
Freund-Feind-Unterscheidung Carl Schmitts, nach außen eine Neuauflage
der »Geopolitik« im Geiste des völkischen Staatstheoretikers Karl Haushofer. Ihre Alternative zur liberal-demokratischen Europäischen Union mit enger transatlantischer Bindung ist das Konzept der »Großraumordnung mit
Interventionsverbot für raumfremde Mächte«, mit dem sich Carl Schmitt
Ende der dreißiger Jahre bei seinem Führer Adolf Hitler als Chefplaner einer
Neuordnung Europas empfehlen wollte. Dominiert werden sollen solche
»natürlichen« Großräume von den jeweils stärksten Regionalmächten; im
Falle »Mitteleuropas« natürlich von Deutschland. Aus Europa heraushalten
wollen die Neuen Rechten vor allem die USA. Denn die Amerikaner, die
dem deutschen Großmachtwahn zweimal einen Riegel vorgeschoben haben,
sind − wie zuletzt Dayton gezeigt hat − nach wie vor die zuverlässigsten Garanten für ein demokratisch stabiles Europa.

Auf das Fiasko westlicher Politik in Bosnien reagierten die Rechtsnationalisten mit der triumphierenden Feststellung, dass sich universalistische Prinzipien in der Politik nunmehr endgültig als utopische Illusionen erwiesen hätten. Laut Junge Freiheit (18.August 1995) gilt es, die »eigenen Interessen mit eigenen Mitteln zu wahren«, und nur weil sich die Bundesregierung nach wie vor als integraler Bestandteil eines obsoleten supranationalen Bündnisses begreife, verpasse sie »die Chance, die Führung bei einer neuen, am Selbstbestimmungsrecht souveräner Nationen orientierten Außenpolitik zu übernehmen«. Für die Propagandisten der »selbstbewussten Nation« reduziert sich »realistische« Politik auf die Befolgung der schlichten Maxime, das »nationale Interesse« müsse endlich wieder über verderblichen, abstrakten Normen wie den Menschenrechten rangieren. Dass solche abstrakten Normen nichts anderes bewirken als die Verschleierung von »Interessen«, hat uns aber schon die linke Ideologiekritik jahrzehntelang einzupauken versucht.

Es gehört mittlerweile zu den gängigsten Gemeinplätzen der sogenannten
Politikverdrossenheit, das Politische sei nichts als der bloße Ausdruck des
Zusammenstoßes von »Interessen«. Es wird dabei stets übersehen, dass man
ein Interesse nicht einfach »haben« kann wie eine Haarfarbe oder einen
Schnupfen, sondern dass man es, bevor man es hat, erst definieren muss. Das
zu tun, ist relativ leicht; weit schwieriger ist es schon, einem Interesse gemäß
zu handeln, das man als »das eigene« definiert hat. Der Glaube an »das Interesse« als unsichtbares Steuerungsprinzip, das den konkreten politischen Subjekten ihre Handlungen vorzeichnet, ist nicht weniger mystisch als die Annahme, in der Geschichte walteten überhistorische »Gesetze« oder »Ideen«.
Die unreflektierte Rede vom »Interesse«, die heute von den Ideologen der
Neuen Rechten revitalisiert wird, ist das letzte Refugium der Geschichtsphilosophie. Und die von den Apologeten Carl Schmitts propagierte Reduktion des »Politischen« auf das Streben nach Hegemonie und Abgrenzung ist in Wahrheit ein besonders dumpfer Ausdruck traditioneller deutscher Politikverachtung.
*
Welche theoretischen Konstruktionen, welche politischen Präferenzen sie
auch trennen: Der Großteil der deutschen Intellektuellen trifft sich heute in
der Verweigerung der Aufgabe, eine der modernen liberalen Gesellschaft
adäquate Idee von Politik zu entwickeln. Hans Magnus Enzensbergers 1993
erschienener Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ hat diese Fluchtbewegung aus dem Politischen in origineller und doch exemplarischer Weise zum Ausdruck gebracht. (Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt: Suhrkamp 1993.) Obwohl der Essay Stimmungen reproduzierte und verstärkte, die in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit, und nicht nur der intellektuellen,
weit verbreitet sind, präsentierte er sich im Gestus der Provokation und des
Tabubruchs. Enzensberger behauptet, wir befänden uns mitten in einem
weltweit eskalierenden »Bürgerkrieg«, der vom Westen weder verstanden
noch eingedämmt werden könne. Dieser Bürgerkrieg habe bereits die Metropolen der westlichen Industrieländer erreicht und äußere sich in einer zunehmenden, unkontrollierbaren Gewaltausübung aller gegen alle. Aus diesem alarmierenden Befund zieht Enzensberger jedoch eine überraschende Schlussfolgerung: Es gelte − und es sei möglich −, den »molekularen Bürgerkrieg« im jeweils eigenen Land »auszutrocknen«. Die Vorstellung dagegen, man könne mit Hilfe internationaler Institutionen eine Befriedung des gesamten Planeten durchsetzen, sei Ausdruck eines illusionären Universalismus, der in Wahrheit nichts anderes darstelle als die säkularisierte christliche Missionsidee und somit die »letzte Zuflucht des Eurozentrismus«.

Enzensberger liefert also gleichzeitig ein globales Katastrophenszenario
und eine Rechtfertigung dafür, das Nachdenken über geeignete Gegenmaßnahmen vorerst einzustellen. Krieg erscheint bei Enzensberger als eine anthropologische Konstante, deren Triebkräfte und Mechanismen bis heute unerforscht seien. Er argumentiert, die weltweiten kriegerischen Massaker, die er unter dem Begriff »Bürgerkrieg« faßt, stellten eine Art Rückfall in einen vorzivilisatorischen Zustand der Menschheit dar. Der »›gehegte‹ Staatenkrieg, der gegen einen äußeren Feindstaat geführt wird«, schreibt er, sei eine »verhältnismäßig späte Entwicklung«, die ihre vollständige Durchrationalisierung erst im 19.Jahrhundert erfahren habe. So erscheint der »Staatenkrieg« als Phänomen einer zivilisatorischen Übergangsperiode, die jetzt durch das Wiederaufbrechen atavistischer Muster beendet worden sei. Und diese Muster besagten, dass der Krieg gegen »den Fremden jenseits der Grenze« eher einer späteren, verfeinerten Kulturstufe angehöre, das Abschlachten des unmittelbaren »Nachbarn« dagegen die ursprünglichere Form der kriegerischen Aggression sei.
Seine Spekulationen über das plötzliche Durchbrechen atavistischer Verhaltensweisen durch die dünne Kruste der Zivilisation dienen Enzensberger dazu, seiner eigentlichen Kernthese einen kulturphilosophischen Unterbau zu geben: Die gegenwärtige Welt könne mit den uns zur Verfügung stehenden Instrumentarien des Denkens, welche dem Weltbild der Aufklärung und des Rationalismus verpflichtet seien, nicht erklärt werden; unser Wissen über die Ursachen und Zusammenhänge der Prozesse, mit denen wir konfrontiert seien, reiche nicht aus, um ihrer Herr zu werden. »Die wirre Realität sprengt nicht nur die formalen Definitionen der Juristen. Auch die Planspiele der Generalstäbe versagen vor einer Neuen Weltunordnung, die unter dem Signum des Bürgerkriegs steht. Dabei geht das noch nie Dagewesene mit dem Atavismus explosive Verbindungen ein. Alte anthropologische Fragen stellen sich in dieser Lage neu.«

Um dieses Bild einer elementaren Eruption unkontrollierbarer Kräfte auszumalen, stellt Enzensberger alle Formen nichtstaatlicher Gewaltexzesse
prinzipiell auf eine Stufe und subsumiert sie unter der Kategorie des »molekularen« und des »makroskopischen Bürgerkriegs«. Nicht nur in Afrika
oder im ehemaligen Jugoslawien tobe dieser »Bürgerkrieg«, er habe »längst
in den Metropolen Einzug gehalten«. Er werde »nicht nur von Terroristen
und … Todesschwadronen, Neonazis und Schwarzen Sheriffs, sondern auch
von unauffälligen Bürgern« geführt, »die sich über Nacht in Hooligans,
Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln«. Enzensberger muss
suggerieren, alle diese Formen von Gewalt entsprängen ein und derselben
Ursache und seien Facetten ein und desselben Phänomens, damit er seiner
Behauptung Plausibilität verleihen kann, auch politische Bewegungen missbrauchten Ideologien heute nur noch als Vorwand, um einem blinden Zerstörungstrieb nachgeben zu können. Selbst der islamische Fundamentalismus verfolge in Wahrheit keine politisch-ideologischen Ziele, sondern sei ein Beispiel für den fortschreitenden »Autismus« und »Überzeugungsschwund«, der bei den Gewalttätern weltweit zu beobachten sei.

Genau das gleiche gelte für den deutschen Rechtsradikalismus: Für den
jugendlichen Neonazi sei »die Ideologie bloße Maskerade … Vom Nationalsozialismus weiß er nichts. Die Geschichte interessiert ihn nicht. Hakenkreuz und Hitlergruß sind beliebige Requisiten.« Auch wenn dem so wäre − mit wirklichen Neonazis hat sich Enzensberger offensichtlich niemals beschäftigt, und die Programme und planvollen Strategien fundamentalistischer Organisationen in Algerien, Ägypten und Palästina sind ihm ebenso entgangen wie die Tatsache, dass die serbischen Milizen keineswegs wahllos Menschen umgebracht haben, sondern ihre Massaker in konsequenter Ausführung ihrer völkisch-nationalistischen Eroberungspläne durchführten.

Anders herum ist es richtig: Totalitäre politische Ideologien haben schon
immer einen erheblichen Anteil an irrationaler Vernichtungsenergie in sich
getragen; die Behauptung aber, dieser irrationale Anteil sei nun plötzlich
absolut geworden, ist ganz einfach aus der Luft gegriffen.
Enzensberger behauptet weiter, die Kombattanten des globalen »Bürgerkriegs« seien einem blinden Willen zur Zerstörung und Selbstzerstörung verfallen, dessen geheime Triebkraft der Wunsch sei, sich selbst aus der Welt zu schaffen: ethnische Ausrottungskriege und fundamentalistischer Terror als Ausdruck eines finalen Unbehagens in der Kultur, als die äußerste Form eines kollektiven Todestriebes. Auf der Basis dieser Diagnose versucht Enzensberger, die Prämissen der universalistischen Ethik grundsätzlich in Frage zu stellen. Er tut dies im Rückgriff auf ein klassisches Argument der konservativen Anthropologie und Kultursoziologie, namentlich Arnold Gehlens, für den die moderne Massen- und Kommunikationsgesellschaft eine Überforderung des Menschen darstellt, der ethische Maßstäbe nur in bezug auf seine unmittelbare oder nächstliegende Erfahrungswelt entwickeln könne. Die in der Kommunikationsgesellschaft zugänglichen Informationen aus allen, auch den fernsten Teilen des Erdballs, seien jedoch nur über »sekundäre« Erfahrungen vermittelt. Informationen dieser Art könnten nur begrenzt aufgenommen werden, sonst schlage die Bereitschaft, gegenüber fremden Phänomenen ethische Verhaltensweisen zu entwickeln, in Aggression und Ablehnung um.

Auch Enzensberger postuliert, die universalistische Ethik erlege »jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist. Darin zeigt sich
ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierungen überstanden hat. Jeder soll
für alle verantwortlich sein.« Dieser Anspruch setze jedoch »Allgegenwart,
ja Allmacht« voraus und beinhalte somit die Forderung, Gott ähnlich zu
werden. »Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet
sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter. Bald ist
die Grenze zur objektiven Heuchelei überschritten; dann erweist sich der
Universalismus als moralische Falle.«

Enzensberger irrt: Keineswegs verlangt der Universalismus »den unbegrenzten Einsatz, überall und jederzeit«. Wenn bestimmte Universalien für alle Menschen und zu allen Zeiten zu gelten haben, heißt das keineswegs,
dass dieses Postulat sich überall und zu jeder Zeit in gleichem Umfang
durchsetzen ließe. Aber Enzensberger will nicht auf kulturrelativistische
Rechtfertigungen für Menschenrechtsverletzungen hinaus, sondern auf eine
Art Universalismus in einem Lande: »bevor wir den verfeindeten Bosniern in
den Arm fallen, müssen wir den Bürgerkrieg im eigenen Land austrocknen«.
Bleibt nur die Frage, wie die »Austrocknung« des Bürgerkrieges im eigenen
Land vonstatten gehen soll, wenn doch die in ihm freigesetzte Gewalt unkontrollierbar und durch nichts anderes als durch einen Drang zur Selbstzerstörung motiviert ist. (Ganz abgesehen davon, dass die Formulierung »die verfeindeten Bosnier« von einer geradezu provozierenden Ignoranz gegenüber dem realen Täter-Opfer-Verhältnis in diesem Land zeugt). Wie kommt es, dass ausgerechnet Enzensberger, dessen Positionen häufig so anregend sind, als Verkünder der Kapitulation des Denkens vor den globalen Problemen fungiert? Schon 1978 hatte Enzensberger der geschichtsgläubigen Linken im Kursbuch (Nr.52, Mai 1978) ins Stammbuch geschrieben, »dass es keinen Weltgeist gibt; dass wir die Gesetze der Geschichte nicht kennen; … dass die gesellschaftliche wie die natürliche Evolution kein Subjekt kennt und dass sie deshalb unvorhersehbar ist; da wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes …; und dass die Krise aller positiven Utopien eben hierin ihren Grund hat«.

Damals wirkten diese Einsichten gegenüber dem historizistischen Dogmatismus befreiend und vorwärtsweisend. 1990 konnte sich Enzensberger durch die weltpolitischen Ereignisse, durch den unerwarteten Zusammenbruch des Kommunismus, in seinen Einschätzungen bestätigt fühlen. In einem weiteren Essay, wieder im Kursbuch, (Nr.100, Juni 1990), erklärte er, die jüngsten Entwicklungen in Europa seien der Beweis für die grundsätzliche Ohnmacht der Politik und der Politiker: »Der tölpelhafte Eindruck, den die Regierungen angesichts der jüngsten Veränderungen in Europa machen, ihr hilfloses Auftrumpfen ist daher keine zufällige Peinlichkeit …; er folgt aus der prinzipiellen Unmöglichkeit, den gesellschaftlichen Prozess vorherzusehen, einem allgemeinen Kalkül zu unterwerfen und von oben her zu beherrschen. Dies gilt nicht nur für den Extremfall.« Den Konsequenzen dieses Abschieds von der Politik sah Enzensberger freilich eher optimistisch entgegen. Die Politiker würden sich »mit der banalen Tatsache abfinden müssen, dass die Demokratie ein offener, produktiver, riskanter Prozess ist, der sich selbst organisiert und der sich, wenn nicht ihrem Einfluss, so doch ihrer Kontrolle entzieht«.

Glaubte Enzensberger − mit beinahe anarchistischen Untertönen − also
damals noch, die demokratische Bürgergesellschaft sei ein Selbstläufer und
könne ganz ohne politische Führung auskommen, so schlug diese Überzeugung 1993, als sich seine eigenen positiven Erwartungen als Illusionen erwiesen hatten, in einen heftigen Geschichts- und Kulturpessimismus um. Führte ihn seine These von der grundsätzlichen Unkontrollierbarkeit gesellschaftlicher und geschichtlicher Prozesse 1978 noch dazu, jedem Prophetengestus abzuschwören und die Offenheit der Zukunft zu betonen, so wurde er nun zum Wahrsager eines anbrechenden neuen Zeitalters: 1990 zum Verkünder einer Epoche der sich selbst organisierenden Demokratie, 1993 zum Propheten eines angeblich unmittelbar bevorstehenden Untergangs der Zivilisation im entfesselten, irrationalen Krieg aller gegen alle.

Die eigentliche Zielgruppe der Enzensbergerschen Polemik in seinen Aussichten auf den Bürgerkrieg ist die Linke. Ihr wirft er Selbstüberschätzung und ein idealistisch verblendetes Weltbild vor. Doch indem Enzensberger jegliche Möglichkeit planvollen Handelns von politischen Subjekten ausschließt, reproduziert er nur das notorisch gebrochene Verhältnis der deutschen Linken zu konkreter, gleichzeitig ethisch fundierter Politik. Und deshalb bleibt auch Enzensberger in einem Lamento befangen, verfällt einem konservativ eingefärbten, antipolitischen Attentismus.
*
Enzensberger hat zwar recht, wenn er das Prinzip »First things first« als Maxime ethischen und politischen Handelns einklagt. Aber die ersten Dinge
sind nicht notwendigerweise die räumlich am nächsten liegenden. Wer 1993
nicht erkannte, daß der Krieg in Bosnien von mindestens ebenso großer
Tragweite für die Zukunft der liberalen Zivilisation war wie rechtsradikale
Anschläge in Mölln und Rostock, bewies nur, daß ihm selber jeder Maßstab
für die Setzung von Prioritäten fehlt. Es ist die größte Leistung Franklin D. Roosevelts gewesen, zum Zwecke des Kampfes gegen Hitler eine universalistische Doktrin mit einer konkreten politischen Interessendefinition zu verbinden. Für die USA, so erklärte er, sei der offene Weltmarkt von lebenswichtiger Bedeutung. Würde aber Hitler Europa beherrschen, müsste dies den freien Welthandel blockieren. Der Kampf gegen die Naziherrschaft in Europa sei somit nicht nur eine moralische Pflicht des freien Amerika, sondern liege auch im unmittelbaren nationalen Interesse der Vereinigten Staaten. Mit dieser Argumentation gelang es Roosevelt, die starken isolationistischen Kräfte in den USA der dreißiger Jahre argumentativ aus dem Feld zu schlagen. Seine Doktrin verband auf exemplarische Weise die Treue zu ethischen Grundprinzipien der amerikanischen Demokratie mit einer pragmatisch begründeten globalen Handlungsperspektive.

Diese Art von Umgang mit dem Politischen muss heute wieder gelernt
werden. Kein abstraktes Prinzip kann konkrete politische Optionen im Einzelfall präjudizieren. Wann und wie der Westen an irgendeinem Ort der
Welt interveniert, hängt von einer genauen Prüfung der jeweiligen Umstände und der möglichen politischen Folgewirkungen ab. Nichts und niemand
kann es der Politik abnehmen, diese Faktoren zu analysieren und daraus
nachvollziehbare Handlungskonzepte zu entwickeln. Immer sprechen in
Konfliktfällen gute Gründe für oder gegen ein militärisches Eingreifen.
Wenn, wie im Falle Bosniens, militärische Aktionen schließlich unvermeidlich wurden, heißt dies nicht, dass damit ein Modell für das Vorgehen in anderen Krisenfällen irgendwo auf der Welt geschaffen worden wäre. Militärisches Eingreifen kann und darf vielmehr auch weiterhin nur als die ultima ratio westlicher Politik gelten. Auch in Bosnien hätte es im übrigen vermutlich
nie so weit kommen müssen, hätte der Westen frühzeitig einen glaubhaften
politischen Willen erkennen lassen, Verletzungen des Völkerrechts nicht ungestraft hinzunehmen. Entscheidend ist, dass die jeweilige Option mit nachvollziehbaren politischen Argumenten begründet wird. Zu diesen Argumenten gehören selbstverständlich eigennützige sicherheitsstrategische und ökonomische Erwägungen. Die Parole »Kein Blut für Öl«, die zu Golfkriegszeiten skandiert wurde, ist heuchlerisch. Es ist die Pflicht demokratischer Regierungen, zu verhindern, dass unberechenbare, aggressive Diktatoren den Zugang zu unverzichtbaren Rohstoffen kontrollieren. Wäre der Westen nicht mehr bereit, notfalls »Blut für Öl« zu vergießen, würde er riskieren, sich nach Belieben erpressbar zu machen. Man lässt sich nicht auf eine moralisch minderwertige Ebene herab, wenn man feststellt, dass der Westen nun einmal Öl braucht. Man disqualifiziert vielmehr seinen Anspruch an westliche Politik, sie habe sich überall für Menschenrechte einzusetzen und diese zu Hause zu sichern, wenn man nicht einsieht, dass der Freiheit von ihren Feinden auch über ökonomische Hebel der Garaus gemacht werden kann.

Pragmatische Argumente dieser Art müssen sich aber immer auf übergreifende ethische Werte beziehen und an ihnen überprüfen lassen. Wer den Universalismus aus der Politik des Westens streichen will, raubt ihr den
Ausgangs- und Zielpunkt. Als politisches Subjekt gäbe es »den Westen«
dann nicht mehr. Und damit hätte sich übrigens auch die Diskussion über
die »Westbindung« Deutschlands erledigt. Mit der »Bindung« ist es ohnehin längst vorbei: Eine Sonderrolle innerhalb der westlichen Welt kann es für
Deutschland nicht mehr geben. Entweder versteht es sich als integraler Bestandteil des Westens und handelt in seinem Sinne, oder es löst sich, auf der krampfhaften Suche nach seinen »Besonderheiten«, einmal mehr von ihm ab.

In deutschen Intellektuellendiskursen finden sich bisher kaum Anzeichen
für ein Problembewusstsein über solche zentralen politischen Fragen. Wer
sich jedoch dem differenzierten Nachdenken über Politik verweigert, für den
werden über kurz oder lang auch moralisch alle Katzen grau.
Schon 1964, als Enzensberger behauptet hatte, im Zeitalter der Nuklearwaffen seien Politik und Verbrechen identisch geworden, hatte ihm Hannah
Arendt »Escapismus« vorgeworfen. Enzensbergers Verallgemeinerungen, so
Arendt im Merkur (Nr.205, April 1965), liefen auf die Auslöschung aller
moralischen Differenzen hinaus. Und »wo alle schuldig sind«, so meinte sie,
»hat keiner schuld. Gerade das Spezifische und Partikulare ist wieder in der
Sauce des Allgemeinen untergegangen.« Damit ist auch das Elend der deutschen intellektuellen Klasse seit der Rückkehr des Krieges nach Europa treffend bezeichnet.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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