Zum 20. Juli: Stauffenberg und die deutsche Beschämung

Am 20. Juli 1944 scheiterte das Attentat des Obersten Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler. Damit misslang zugleich der Versuch der militärischen Widerstandsgruppe um ihn und andere Wehrmachts-Offiziere wie den Generalmajor Henning von Tresckow, die beispiellose verbrecherische Herrschaft des Nationalsozialismus zu beenden.

In der Geschichtserzählung der Bundesrepublik Deutschland gewinnen Stauffenberg und seine Mitstreiter seit einigen Jahren wachsende Bedeutung als positive Identifikationsfiguren für das moderne demokratische Deutschland. Durch den Hollywood-Film „Operation Walküre“ von 2008 mit Tom Cruise in der Hauptrolle wurde aus Stauffenberg sogar so etwas wie ein Held der westlichen Welt gemacht, dessen Wertvorstellungen im Kern denen der heutigen liberalen Demokratien entsprochen hätten.

Den realhistorischen Stauffenberg begreift man jedoch nur durch einen differenzierteren Blick. Auch wenn er unzweifelhaft ein aufrechter Charakter war und sein Handeln von mutiger Tatkraft und größter Opferbereitschaft zeugt, so war er doch eine vielschichtige Persönlichkeit, die auch unauflösbare Widersprüche in sich trug. Daher eignet er sich nicht zu einer plakativen Heroisierung, die im übrigen auch nicht in seinem und dem Sinne seiner Mitstreiter selbst wäre. Sie sahen sich nicht als Helden, sondern als pflichtbewusste Einzelne, die in größter historischer Bedrängnis keiner anderen Instanz als ihrem Gewissen folgen wollten.

Politisch gesehen war ihr Versuch, Hitlers Mordmaschine zu zerschlagen und Deutschland einen Neuanfang aus eigener Kraft zu ermöglichen, indes aussichtslos und wohl schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Ihr Plan sah vor, ihren Umsturzversuch als eine Verteidigungsmaßnahme gegen einen angeblichen Putsch von SS und Gestapo zu tarnen und zu diesem Zweck die Tötung Hitlers diesen Kräften in die Schuhe zu schieben. Das hieß aber, dass am Anfang der Ära nach Hitler eine Täuschung der deutschen Bevölkerung gestanden hätte. Lange wäre sie wohl nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Selbst wenn Hitler bei dem Attentat ums Leben gekommen wäre, hätte dies somit noch keine Garantie für das Gelingen des Umsturzes bedeutet.

Illusionär war zudem die Absicht der Gruppe, im Falle ihres Erfolges den Krieg im Westen sofort zu beenden und die Westalliierten ins Deutsche Reich einmarschieren zu lassen, den Krieg gegen die Sowjetunion jedoch fortzuführen, um deren Vordringen nach Deutschland zu verhindern. Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit dieses Vorhabens, die bedingungslose Kapitulation des „Dritten Reichs“ zu verhindern: Niemals hätten sich die USA und Großbritannien auf einen solchen gegen ihren sowjetischen Verbündeten gerichteten Plan eingelassen. Den Widerständlern ist das mit der Zeit wohl selbst klar geworden. So schrieb Tresckow vor dem Attentat des 20. Juli, es komme gar nicht mehr auf dessen „praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat“.

Die innere Motivlage des deutschen militärischen Widerstands liefert immer wieder Stoff für Kontroversen. Stauffenberg und andere Köpfe des Umsturzversuches vom 20. Juli hatten anfangs Illusionen über Hitler gehegt oder waren ihm gar begeistert gefolgt. Am Feldzug gegen Polen nahm Stauffenberg noch voller Enthusiasmus teil, und Äußerungen aus dieser Zeit verraten seine tief sitzenden antisemitischen Affekte. Umstritten ist zudem, inwieweit einzelne Angehörige des Widerstands nicht selbst an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Und auch nach ihrer Wandlung zu Hitler-Gegnern sind die Widerständler keineswegs zu Demokraten in unserem heutigen Verständnis geworden – auch wenn sie bemüht waren, in ihre Pläne für einen Neubeginn Deutschlands ein breites politisch-gesellschaftliches Spektrum bis hin zu Sozialdemokraten und Gewerkschaftern einzubeziehen.

20. Juli und „Weiße Rose“

Die Größe ihrer Tat wird durch all diese Defizite jedoch nicht geschmälert. Die Kraft aufgebracht zu haben, ihren Irrglauben an den „Führer“ mit aller persönlicher Konsequenz zu überwinden, gibt ihrem Handeln eher zusätzliches Gewicht. Umgekehrt nämlich zeigt die Erfahrung, dass der Besitz der richtigen Gesinnung noch längst keine Gewähr dafür bietet, dass Menschen in extremen Situationen auch das Richtige tun. Fest steht im übrigen, dass Stauffenberg und seine engsten Mitstreiter des 20. Juli keineswegs nur aus nationalistischen Motiven handelten, sondern von den Gräueltaten an Juden und anderen Zivilisten an der Ostfront moralisch tief abgestoßen und erschüttert waren.

Die Erinnerung an Widerstandskämpfer ist in Deutschland stets auch mit einer gewissen Beschämung darüber verbunden, dass die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Nationalsozialismus unterstützt hat oder ihn doch zumindest passiv gewähren ließ. Der Widerstand gegen das NS-Regime sowie die insgesamt fünfzehn Versuche, Hitler zu beseitigen, wurden von wenigen isolierten Individuen oder kleinen Gruppen betrieben. Das gilt für den Schreiner Georg Elser, der 1939 einen Sprengstoffanschlag auf Hitler verübte, ebenso wie für die studentische Widerstandsgruppe um die Geschwister Sophie und Hans Scholl, die unter dem Namen „Weiße Rose“ vom Sommer 1942 bis Anfang 1943 Flugblattaktionen gegen das Regime durchführte. Und isoliert blieb letztlich auch die militärische Widerstandsgruppe um Stauffenberg.

Das Gedenken an ihn und andere aktive deutsche Hitlergegner eignet sich daher weniger zur nationalen Identitätsbildung oder zur Untermauerung einer demokratischen Tradition der Bundesrepublik, als vielmehr zur Bekräftigung einer universellen menschlichen Haltung. Das Schicksal der deutschen Widerstandskämpfer erinnert jeden Einzelnen an seine individuelle Mitverantwortung dafür, das Unrecht in der Welt nicht triumphieren zu lassen.

„Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weiße Rose lässt Euch keine Ruhe“ – dieser Satz aus einem Flugblatt der Gruppe um Sophie und Hans Scholl, die im Februar 1943 hingerichtet wurden, behält bis heute seine volle Kraft. Schweigen und Indifferenz sind die größte Ressource, auf die verbrecherische totalitäre und autoritäre Systeme ihre Herrschaft gründen. Scheinbar schwache Stimmen wie die der Weißen Rose, die ihnen diese Ressource verweigern, sind daher in Wahrheit ihre gefährlichsten Feinde

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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