„Nicht die Zeit vergeht. Wir vergehen“: André Glucksmann

Heute vor fünf Jahren, am 10. November 2015, starb im Alter von 78 Jahren der französische Philosoph und engagierte Intellektuelle André Glucksmann. Die aktuelle Krise der liberalen Demokratien und der Wiederaufstieg autoritärer Mächte hätten ihn mit Sicherheit beunruhigt, aber nicht überrascht. Denn stets hatte Glucksmann die demokratischen Gesellschaften davor gewarnt, sich ihrer selbst zu sicher zu fühlen und darüber zu vergessen, dass sie nach wie vor existenzielle Feinde haben. Putins imperiale Ambitionen und seinen hybriden Krieg gegen den Westen etwa hatte er bereits vor zwanzig Jahren vorausgesehen. Heute, da seine Befürchtungen unglücklicherweise wahr geworden sind, fehlt seine Stimme schmerzlich.

Als ich 1997 André Glucksmann bei einem Vortrag an der Berliner Humboldt-Universität vorstellen durfte, war der französische Philosoph soeben 60 Jahre alt geworden – ein Alter, das ich mit diesem als junger Feuerkopf berühmt gewordenen Denker kaum in Verbindung bringen konnte. Mir falle, sagte ich, dazu nichts ein als der Stoßseufzer: „Kinder, wie die Zeit vergeht.“ Bevor Glucksmann mit seiner Rede begann, korrigierte er mich sanft, in seinem charmant französisch eingefärbten, aber treffsicheren Deutsch: „Du irrst, mein Lieber. Nicht die Zeit vergeht. Wir vergehen.“

Philosophieren heißt sterben lernen – dieses Wort Michel de Montaignes war eine der bevorzugten Maximen, die Glucksmann über sein Denken gestellt hat. Im Bewusstsein unserer Vergänglichkeit zu leben, bedeutete für den durch und durch säkularen Sohn jüdisch-osteuropäischer Eltern, die in seinem Geburtsjahr 1937 aus Deutschland nach Frankreich geflohen waren, jedoch alles andere, als sich demütig mit den irdischen Verhältnissen abzufinden. Im Gegenteil, es verpflichte uns dazu, unser Dasein aktiv in menschlicher Würde einzurichten.

Die Wurzel des Totalitarismus

Es bewahre uns in seiner Sicht aber auch vor der Hybris, uns ideale, auf eine illusionäre Ewigkeit gegründete Ideengebäude zu errichten. Am Ende werde die Wirklichkeit dann nämlich nur zu oft gewaltsam an sie angepasst – unter der Opferung von Menschen, die ihrer Realisierung im Weg stehen. In dieser vernichtenden Logik des Utopischen sah Glucksmann die Wurzel des Totalitarismus wie aller Formen ideologisch motivierter Unterdrückungssysteme.

Dagegen setzte er das, was er die „Ethik des äußersten Notfalls“ nannte. Nicht an erträumten Idealzuständen, sondern an der Aufgabe, die jederzeit drohende äußerste Unmenschlichkeit abzuwenden, sollten sich die moralischen Ansprüche orientieren, aus denen wir unser Handeln ableiten. Um diese Verteidigung elementarer Menschlichkeit nicht ihrerseits mit euphorischen Erwartungen an das Gute im Menschen zu überfrachten, plädierte er in seinem Buch „Die cartesianische Revolution“ (1989) für einen „negativ formulierten Humanismus“, der „nicht die Scherben des Kosmos in vergeblicher Mühe zusammensetzen“ will, sondern sich damit abfindet, dass die Kluft zwischen uns und dem, was wir uns unter der Welt vorstellen, nicht zu schließen ist.

In Anspielung auf die Suche nach dem authentischen Sein, wie es namentlich in der deutschen Philosophie bis hin zu Martin Heidegger hervortritt, schrieb Glucksmann: „Der Humanismus in negativer Absicht hat weder mit der Nostalgie nach einer guten alten Zeit zu tun noch mit der Ankündigung einer neuen Welt; er hütet sich vor der Illusion des In-der-Welt-Seins.“

Bruch mit dem illusionären Guten

Diesen konsequenten Bruch mit allen Konstruktionen eines illusionären Guten hatte sich der Philosoph seiner eigenen Erfahrung mit der Verführungskraft von Welterlösungslehren abtrotzen müssen. In jungen Jahren hatte er sich, von den kommunistischen Idealen der Eltern geprägt, immer weiter in den Linksradikalismus bewegt. Im legendären Pariser Mai 1968 zählte er zu den führenden Köpfen der Bewegung, um sich in der Folge einer spontaneistischen Spielart des Maoismus anzuschließen.

Die Abkehr vom Extremismus vollzog sich Anfang der Siebziger unter dem Eindruck der Lektüre Alexander Solschenizyns. In seinen Büchern „Köchin und Menschenfresser“ (1975) und „Die Meisterdenker“ (1977) rechnete Glucksmann nicht nur mit dem Marxismus, sondern auch mit dessen Wurzeln im deutschen Idealismus und der Dialektik Hegels ab. Sie wirkten in der französischen Öffentlichkeit wie ein Paukenschlag und machten den glutäugigen Renegaten von der reinen linken Lehre mit seinen langen, schwarzen Haaren zum Star der Pariser Salons und TV-Talkshows. Und sie inspirierten eine junge, antitotalitäre Richtung französischer Denker, die das Etikett „Neue Philosophen“ erhielten.

Zu einer Schlüsselfigur im intellektuellen Leben Frankreichs wurde Glucksmann, als es ihm Ende der Siebzigerjahre gelang, seinen liberalkonservativen akademischen Lehrer Raymond Aron und Jean-Paul Sartre, die Ikone der französischen Linken, in einer gemeinsamen Initiative zur Rettung der vietnamesischen „Boat People“ zusammenzubringen. Die Aktion drückte prototypisch aus, was Glucksmann von posttotalitären Intellektuellen erwartete: ihre ideologischen Schützengräben zu verlassen, wenn es um konkrete Hilfe für die am meisten Bedrohten geht.

Für die atomare Abschreckung

In Deutschland stieß Glucksmanns Schändung der Heiligtümer der Linken jedoch auf Skepsis bis feindselige Ablehnung. Ganz unten durch war er bei gläubigen deutschen Pazifisten und Linken, als er auf dem Höhepunkt der Bewegung gegen die Nato-Nachrüstung unter dem Titel „Die Philosophie der Abschreckung“ eine Rechtfertigung der nuklearen Rüstung des Westens veröffentlichte. Nur diese, argumentierte er, könne den sowjetischen Totalitarismus von der Unterwerfung ganz Europas abhalten, ohne dass man dazu einen schrecklichen Krieg führen müsse.

Den Anti-Atomfundamentalisten, die in der Drohung mit Atomschlägen einen absolut amoralischen Akt und die Beschwörung eines „nuklearen Holocaust“ sahen, provozierte er mit einer Gegenfrage: Hätten die Insassen des Warschauer Ghettos 1943 über eine Atombombe verfügt, hätten sie drohen dürfen, sie auf Berlin zu werfen?

In diesem Streit zeichnete sich bei Glucksmann bereits ein Perspektivwechsel ab. Die osteuropäischen Dissidenten hatten in den späten Siebzigerjahren mit der Gründung des „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ in Polen und der Charta 77 in der Tschechoslowakei eine neue Form des Zusammenschlusses gefunden. Die Abweichler vom „realen Sozialismus“ vereinten sich nicht mehr um ein gemeinsames Ideal, sondern kamen in der Entschlossenheit zusammen, sich den potemkinschen Dörfern und Sprachregelungen des Kommunismus nicht mehr zu beugen. Sie wollten aussprechen, wie seine Realität tatsächlich aussah.

Er fand seine Ideen bei Osteuropas Dissidenten wieder

Vaclav Havel sah in dieser Entscheidung, „in der Wahrheit zu leben“, die „Macht der Ohnmächtigen“. Statt sich über die Prinzipien einer besseren Gesellschaft zu streiten, wollten die Dissidenten überhaupt erst einmal würdige Zustände herbeiführen, unter denen über ihre unterschiedlichen Werte und Ziele frei gestritten werden könne. Glucksmann erkannte darin seine eigenen philosophischen und humanitären Ansichten wieder.

Im Oktober 1989, als Vaclav Havel noch inhaftiert war, wurde diesem in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Auf seinen Wunsch hielt Glucksmann die Laudatio. „Mit Havel“, sagte er, „diesem so oft ins Gefängnis gebrachten modernen Sokrates, treten Sie in eine Geschichte ohne Illusionen ein. Das Trugbild der strahlenden Zukunft verdeckt nicht mehr Ihren Blick, Sie schauen direkt auf das Böse – das Böse, das wir stets begehen können, nachdem es von mir oder meinesgleichen einmal begangen wurde.“

Der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa rief bei André Glucksmann dementsprechend keine Triumphgefühle hervor. Sogleich warnte er vor neuen emphatischen Erwartungen einer nun anbrechenden Epoche ungetrübten demokratischen Glücks. Vehement stritt er gegen die These des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama, mit dem Ende totalitärer Systeme sei nun auch das „Ende der Geschichte“ gekommen. Als auf dem Balkan kurz darauf ein blutiges ethnisches Gemetzel ausbrach, dem der Westen lange Zeit indifferent zusah, war Glucksmann unter den Ersten, die Alarm schlugen.

Schon sehr früh warnte er vor Putin

Früher als die meisten westlichen Beobachter und Experten erkannte André Glucksmann auch die Gefahr, die von Putins autoritärer Restauration in Russland ausging. Während der Westen nach dem 11. September 2001 den neuen Kreml-Herrn als guten Verbündeten im Krieg gegen den Terror betrachtete, machte Glucksmann vehement und hartnäckig auf das mörderische Wüten der russischen Armee gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung aufmerksam.

Doch im Westen wollte kaum jemand etwas davon hören. Viele taten Glucksmanns Warnungen, das brutale Eroberungsstreben des „neuen Zaren“ werde sich früher oder später auch gegen Europa richten, als obsessiv ab. Als sie in den vergangenen Jahren eines besseren belehrt wurden, war Glucksmann bereits zu krank, um in die Debatte darüber einzugreifen, wie der Westen der Herausforderung durch Putins Autoritarismus begegnen soll.

Lesen Sie auch mein letztes Interview mit André Glucksmann vom 1.12.2011: hier

Hatte Glucksmann in seiner frühen antitotalitären Phase noch mit aufklärungsskeptischen Ideen wie denen des „Lebensphilosophen“ Henri Bergson geliebäugelt, konzentrierten sich seine späteren Werke auf die kritische Rekonstruktion des westlichen aufklärerischen Erbes. In Büchern wie „Der Eros des Westens“, „Die Macht der Dummheit“, „Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt“ und zuletzt dem – noch nicht ins Deutsche übersetzten – „Voltaire contre-attaque“ beschrieb er eine freiheitliche Gesellschaft, die ohne den Pomp hochtrabender „Werte“ auskommt. Doch fanden seine Arbeiten hierzulande immer weniger Beachtung. Man warf ihm Vielschreiberei vor. Man erkannte nicht, welche gedanklichen Schätze seine Bücher bergen.

Vielfach wurde André Glucksmann wegen seiner eindrucksvollen Präsenz als eitler Selbstdarsteller abgestempelt. Wer ihn kennenlernen durfte, musste feststellen, dass er das genaue Gegenteil war. Ich habe nie einen bescheideneren und gütigeren Menschen getroffen als ihn. Oftmals, wenn ich über die bedrohlichen Wirrnisse der Gegenwart nachgrübele und darüber der Verzweiflung nahe bin, frage ich mich, was wohl André dazu gesagt hätte. Trost könnte er nicht spenden, wohl aber Orientierung. Ich werde mich niemals daran gewöhnen können, dass es ihn nicht mehr gibt.

Der Text ist die ergänzte und leicht überarbeitete Fassung meines Nachrufs auf André Glucksmann,, der 2015 in der „Welt“ erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt