Ach, Britannien! Ach, Europa! Ihr könnt nicht ohne einander

Großbritannien und Europa können angeblich nicht mehr miteinander – sie können aber eben auch nicht ohne einander. Wer geschichtsvergessen die europäisch-britischen Interdependenzen negiert, die für beider Selbstverständnis konstitutiv sind, begibt sich auf den Weg der Selbstzerstörung. Eine legendäre TV-Politiksatire hat das auf sarkastische Weise schon in den 1980er Jahren erkannt.

Ob es in letzter Minute doch noch zu einem irgendwie gearteten (faulen?) Deal zwischen der EU und Großbritannien kommt, oder ob sie ungebremst in einen harten Brexit rauschen – die Schäden, die diese Trennung anrichtet, werden in jedem Fall immens sein. Dabei sind es aber gar nicht in erster Linie die daraus folgenden ökonomischen Probleme, die am meisten beunruhigen müssen. Sie werden gewiss gravierend sein, doch die Volkswirtschaften beider Seiten dürften stark genug sein, um einigermaßen damit zurecht zu kommen. Weitaus beängstigender sind die politischen und kulturellen Implikationen einer drohenden gegenseitigen Entfremdung.

Nach dem ersten Schock über die britische Austrittsentscheidung hatte es nicht an Versuchen gefehlt, sich diesen dramatischen Einschnitt schönzureden. Die Briten hätten sich doch traditionell sowieso Europa („The Continent“) nie zugehörig gefühlt, hörte man da häufig, und seien in der Union deshalb ohnehin stets nur ein Fremdkörper gewesen. Manche europäische Politiker meinten gar allen Ernstes, der Abgang des Vereinigten Königreichs stelle für Europa eine Chance für einen Neuanfang dar. Des lästigen insularen Nörglers und Bremsers entledigt, könne sich die EU nun ungehindert auf den Ausbau und die Festigung ihrer politischen Strukturen konzentrieren. Angesichts zahlreicher sich bedrohlich verschärfender Konflikte zwischen ihren Mitgliedsstaaten, an denen die EU zu zerbrechen droht, klingen derartige Aussagen heute wie blanker Hohn.

Britannien katapultiert sich ins historische Nirwana

Die Wirklichkeit ist, dass das Wegbrechen einer der wichtigsten Säulen des europäischen Einigungsprojekts dieses als Ganzes in seinen Grundfesten erschüttern muss – und Großbritannien in eine Art historisches Nirwana katapultiert. Der britische Austritt markiert keine Rückkehr in einen irgendwie gearteten Urzustand „vor der ,EU“, sondern erzeugt eine historische Anomalie, die willkürlich mit der geschichtlichen Kontinuität bricht.

Einen klassischen britischen Nationalstaat, wie ihn sich die Brexiteers zurückwünschen, hat es nämlich nie gegeben. Abgesehen davon, dass es sich bei dem Vereinigten Königreich um ein multinationales Gebilde handelt , das jetzt durch den irrationalistischen, englischen Ethno-Nationalismus der radikalen Brexiteers zerstört zu werden droht – bis kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterhielt Großbritannien ein Imperium. Und nach dessen Auflösung richtete es sich, wenn auch oft zähneknirschend, in dem postkolonialen Projekt der europäischen Einigung ein.

Das Empire aber wird nie mehr zurückkehren, und die engen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bindungen an Europa aufzulösen oder zumindest erheblich zu verkomplizieren, gleicht einer Selbstverstümmelung. Der Brexit bedeutet nicht die Rückkehr in ein goldenes Zeitalter insularer Abgeschiedenheit, wie die Brexit-Befürworter suggerieren, sondern ist eine Expedition ins Unbekannte, zu der die Briten ohne historisches Rüstzeug und politischen Kompass aufbrechen. Mit der Abwahl Donald Trumps sind nun einstweilen auch noch die Blütenträume der Brexit-Illusionisten geplatzt, mit den USA und an der EU vorbei eine paradiesische Achse des Freihandels aus dem Boden stampfen zu können..

Die sprichwörtliche „Splendid Isolation“ der britischen Insel war nie mehr als ein Ideologem, das überdeckte, von welch existenzieller Bedeutung die Entwicklung Europas für das britische Selbstverständnis tatsächlich war. Wendet sich Britannien von seiner Orientierung vom gemeinsamen Europa ab, droht es zur willkommenen Beute für autoritäre Machte wie China und Russland zu werden, dessen geheimdienstliche Unterwanderungs- und Desinformationsoperationen wesentlichen Anteil an der Pro.Brexit-Entscheidung im Referendum 2016 hatten.

Abschied von kühler britischer Zweckrationalität

In der unnachahmlichen britischen TV-Politikersatire „Yes, Minister“ wurde in den 1980er-Jahren in humoristischer Überspitzung erklärt, warum die Briten ungeachtet aller Aversionen unbedingt in der europäische Gemeinschaft bleiben müssten. „Wir müssen drin sein, um dafür zu sorgen, dass sie nicht funktioniert“, hieß es da sinngemäß.

Tatsächlich war das britische Verhältnis zum Kontinent immer durch die Befürchtung geprägt, dass sich dort eine dominante Hegemonialmacht herausbilden könnte, die Großbritannien in seiner imperialen Vorrangstellung herausfordert Um dies zu verhindern, habe es in seiner Geschichte mit den Holländern gegen die Spanier, mit den Deutschen gegen die Franzosen, mit den Franzosen und Italienern gegen die Deutschen und mit den Franzosen gegen die Deutschen und Italiener gekämpft, erläuterte die TV-Serie. Im europäischen Verbund könne man nun, ganz in dieser Tradition, simultan (und ohne Krieg) „die Deutschen gegen die Franzosen, die Franzosen gegen die Italiener, die Italiener gegen die Holländer“, und so weiter, ausspielen.

In augenzwinkernder Übertreibung reflektierten die Satiriker damit jenen charakteristischen, kühl kalkulierenden Realitätssinn, der die britische Politik des „Teile und Herrsche“ stets auszeichnete. Mit ihrer von ideologischen Affekten und blinden Abwehrreflexen befeuerten Austrittsentscheidung scheint er den Briten aber abhanden gekommen zu sein, haben sie ihren Einfluss auf den Kontinent damit doch freiwillig preisgegeben.

Dieser britische Zweckrationalismus ist es allerdings auch, auf den sich in Deutschland einst das Schmähwort vom „perfiden Albion“ gründete. Der tiefsitzende antibritische Affekt wirkt – trotz Royals-Romantik und der Liebe zur Brit-Pop-Kultur – untergründig bis heute weiter und erklärt wohl zu einem Teil die emotionale Kälte und den intellektuellen, bisweilen nahezu hämischen Gleichmut, mit denen Großbritanniens bevorstehender Abgang hierzulande hingenommen wird.

Doch Europa wird unter dem Verlust der Briten nicht weniger leiden als diese selbst, und das nicht einmal primär wirtschaftlich. Großbritannien war in der EU eben nie nur jener Störfaktor oder Hemmschuh, als den es seine Verächter hinstellen wollten. Mit seiner Freihandelstradition und seinem ausgeprägten bürgerlichen Individualismus bildete es vielmehr ein unerlässliches Korrektiv, das den Tendenzen zu einem bürokratischen europäischen Superstaat entgegenwirkte.

Das Prinzip evolutionären Ausgleichs

Viel mehr als die blutige und in eine neue furchtbare Tyrannei mündende Französische Revolution war es das britische evolutionäre Prinzip des konstitutionellen Ausgleichs und der Gewaltenteilung, das den heutigen rechtstaatlichen, pluralistischen Demokratien Europas den Weg gewiesen hat. Der britische Staatenbund taugt eher als Vorbild für ein vereintes Europa als die zentralistischen oder föderalistischen Staatsmodelle auf dem Kontinent.

Dabei ist Europa stets stärker von britischem Geist durchdrungen worden, und seine moderne Verfasstheit schuldet britischer Inspiration weit mehr, als es dies wahrhaben will – und es übrigens wohl auch die Briten selbst wahrhaben wollen. So atmete im 18. Jahrhundert Voltaire im britischen Exil jenen skeptischen Freiheitsgeist ein, der ihn vor dem dogmatischen, potenziell totalitären Idealismus eines Rousseau und seines Jüngers Robespierre bewahrte. Und nicht Frankreich oder irgendeine andere kontinentale demokratische Nation rettete die europäische Zivilisation vor der totalen Vernichtung durch Hitlers Barbarei, sondern der unbezwingbare Widerstandswille Großbritanniens. Den Ausschlag gab am Ende die gewaltige militärische und ökonomische Macht der USA, doch hätten die Briten nicht alleine kämpfend durchgehalten, bis die rettende Kraft aus Übersee endlich eingriff, wäre sie zu spät gekommen.

Alle diese Interdependenzen werden sich mit dem Brexit natürlich nicht in Luft auflösen. Doch es erfordert konzentrierte Anstrengungen, sie weiterhin fruchtbar zu halten. So bleibt das militärische Potenzial der Atommacht Großbritannien für Europas Sicherheit unverzichtbar. Wenn aber die Europäer den Briten bisweilen „Rosinenpickerei“ im Blick auf die Post-EU-Ära vorwerfen, sollten sie sich ihrerseits im Klaren sein, dass der britische Beistand kein Selbstläufer ist, sondern die intensive Pflege des Bewusstseins für die gemeinsame Sache des freien Westens zur Voraussetzung hat.

Die staatspolitische Trennung ist nicht mehr aufzuhalten, der drohenden gesellschaftlichen Entfremdung aber muss mit allen Kräften entgegengetreten werden. Interparlamentarische und politische Kontakte auf kommunaler und regionaler Ebene müssen intensiviert werden, und auch die Zivilgesellschaften müssen aktiv werden. In allen Bereichen, von Wirtschaft bis Kultur, von Wissenschaft bis Bildung sollten so viele zukunftsweisende gemeinsame Projekte wie möglich entstehen. Und für die politische Ebene gilt in der Post-Brexit-Ära ein Paradox: Europäische Politik muss jetzt probritischer, britische Politik proeuropäischer denn je werden, wollen beide ihre Identität bewahren,

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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