Deutsche Russland-Sehnsucht: Faszination und Furcht

Materielle, politische und moralische Korrumpierung durch das Putin-Regime ist ein wesentlicher, aber bei weitem nicht der einzige Grund dafür, dass sich führende Persönlichkeiten in Deutschland immer wieder zu Lautsprechern der Desinformation und Geschichtsfälschungen des Kreml machen. Ihre Bereitschaft, Putins Autokratie mit der geistigen oder kulturellen Eigenheit Russlands zu entschuldigen, dem man westliche demokratische Werte nicht „aufzwingen“ dürfe, steht auch in einer langen deutschen ideengeschichtlichen Tradition.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert haben deutsche Denker ein mythisches Russlandbild entwickelt, das zwischen Angst und Faszination hin und her schwankt. Einerseits wurde Russland als unheimlich und bedrohlich empfunden, weil dieses riesige Land „unzivilisiert“ und von archaischen Instinkten getrieben sei.

Anderseits wurde gerade diese vermeintliche Rohheit und Irrationalität zum Ausdruck einer unverbildeten geistigen und moralischen Reinheit „des russischen Volkes“ verklärt. Diese positiven Eigenschaften aber sah man auch in der eigenen deutschen Nation. Der Kulturphilosoph und Vordenker einer „konservativen Revolution“, Arthur Moeller van den Bruck, glaubte Anfang des 20. Jahrhunderts in Russen und Deutschen „junge Völker“ zu erkennen, die im Gegensatz zum rationalistischen, nur materiell orientierten Westen noch ideell frisch und seelisch unverbraucht seien.

„Die einzige Macht mit Dauer im Leib“

Zu diesem Stereotyp trugen einige der größten Köpfe des deutschen Geisteslebens bei. 1889 nannte der Philosoph Friedrich Nietzsche Russland, „die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann.“ Russland sei der „Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität“. Der Dichter Rainer Maria Rilke meinte 1920, Russland habe ihn „zu dem gemacht, was ich bin“, er habe dort seinen „inneren Ursprung“ gefunden. Russland sei „das Land des unvollendeten Gottes, und aus allen Gebärden des Volkes strömt die Wärme seines Werdens wie ein unendlicher Segen aus.“

Thomas Mann passte in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918 diese schwärmerische Russland-Sehnsucht in ein kulturgeschichtliches Gegensatzschema ein, mit Deutschen und Russen auf der einen und den westlichen Demokratien – England, Frankreich und Amerika – auf der anderen Seite. Weil sich sowohl die deutsche als auch die russische „Kultur“ dem anmaßenden „Imperialismus“ und der geist- und seelenlosen, rationalistischen „Zivilisation“ des Westens widersetze, verbinde beide Völker eine tiefe Seelenverwandtschaft. Deshalb würden sie vom Westen stets missverstanden und drangsaliert.

Bevor die NS-Barbarei mit ihrem mörderischen rassistischen Hass gegen „slawische Untermenschen“ diesen Bestrebungen ein Ende setzte, war das Zusammengehen Deutschlands und Russlands gegen den Westen für große Teile der deutschen nationalistischen Rechten eine bevorzugte Option. „Nationalbolschewisten“ wie Moeller van den Bruck und der – von der äußersten Linken auf die äußerste Rechte gewechselte – Publizist Ernst Niekisch wollten in der Oktoberrevolution eine antiwestliche Rückwendung zu russischen „völkischen“ Wurzeln und damit ein Vorbild für die eigene „nationale Revolution“ erkennen. So dachte bis Ende der 1920er Jahren (als er sich Hitler bedingungslos unterwarf) auch Joseph Goebbels, der Lenin als großen russisch-nationalistischen Führer feierte. Nach dem Ersten Weltkrieg kooperierten die Rote Armee und die Reichswehr bei der geheimen Wiederaufrüstung Deutschlands. Im Hitler-Stalin-Pakt 1939-41 flammte die Vision der deutsch-russischen Allianz gegen den Westen kurzzeitig noch einmal auf – mit den bekannten verheerenden Folgen.

Der Traum von einem deutsch-russischen Gegengewicht zum übermächtigen Westens lebte aber auch nach dem Ende der NS-Herrschaft fort – in Form neutralistischer Bestrebungen von links wie rechts ebenso wie in der deutschen „Friedensbewegung“ gegen die Nato-Nachrüstung in den 1980er Jahren. Und seit dem Ende des Kalten Kriegs  hat sich in vielen deutschen Köpfen die Vorstellung festgesetzt, die Deutschen hätten die Wiedervereinigung ihres Landes primär der Warmherzigkeit und Großzügigkeit der russischen Führung unter Gorbatschow, und nicht etwa der politisch und moralisch überlegenen Kraft der westlichen Demokratien zu verdanken.

Ressentiment gegen deutsche Westbindung

Indem sie sich mit Russland als vermeintlichem Opfer westlicher Überheblichkeit identifizieren, drücken deutsche Putin-Versteher projektiv ihr Ressentiment  gegen die demokratische Transformation Deutschlands unter Aufsicht der Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Sie zeigen damit, dass die tiefe Integration Deutschlands in den Westen von weiten Teilen der deutschen Gesellschaft nie gänzlich akzeptiert worden ist.

Um Rücksicht und Nachgiebigkeit gegenüber dem Putin-Regime anzumahnen, wird heute auch immer wieder die Verantwortung für die deutschen Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg beschworen. So essenziell es tatsächlich ist, sich dieser Verantwortung jederzeit bewusst zu sein, so fragwürdig ist es doch, wenn die damit verbundene historische Sensibilität allein für Russland eingefordert wird. Denn die Sowjetunion bestand eben nicht nur aus Russland, sondern auch aus Nationen wie der Ukraine und Belarus, die ihrerseits die größte Last der deutschen Okkupation zu tragen und die höchsten Opferzahlen zu beklagen hatten.

Diese inzwischen unabhängigen Länder aber sind heute Zielscheibe von Aggression und Obstruktion vonseiten des Kreml im Hinblick auf ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung. Und der eigenen russischen Bevölkerung verweigert das Putin-Regime grundlegende Bürgerrechte und demokratische Freiheiten. Die richtigen Lehren aus der deutschen Vergangenheit zu ziehen, kann ja wohl nicht bedeuten, diesen Zustand zu rechtfertigen oder zu beschönigen. Gerade angesichts des Leids, das den Russen vom nationalsozialistischen Deutschland angetan wurde, gilt es vielmehr dafür einzutreten, dass diese in den Genuss derselben Rechte und Freiheiten kommen, die für die heutigen Deutschen selbstverständlich sind.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt