In Hongkong und auf der Krim stirbt das internationale Recht

Die Offensiven Russlands und Chinas gegen das internationale Recht bedingen einander. Wie die Annexion der Krim durch Putins Russland ist die Gleichschaltung Hongkongs ein Testfall dafür, ob der Westen noch zur Verteidigung einer auf dem Recht basierenden Weltordnung bereit und fähig ist. Der Verzicht der EU auf Sanktionen gegen China lässt nichts Gutes ahnen.

Mit dem vom chinesischen Volkskongress verabschiedeten „Sicherheitsgesetz“ hat das totalitäre Regime in Peking der relativen Unabhängigkeit Hongkongs und dem demokratischen Selbstbestimmungsrecht seiner Bürger ein brutales Ende gesetzt. Indem es damit den bei der Übergabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an die Volkrepublik China 1997 garantierten Sonderstatus Hongkongs faktisch für nichtig erklärt, bricht es offen internationales Recht.

Dennoch kann sich die EU nicht zu Sanktionen gegen Peking durchringen. Sie belässt es bei folgenlosem verbalem Protest und dem Versprechen, sich im „Dialog“ mit der chinesischen Führung für die Rechte Hongkongs einzusetzen. Die chinesischen Machthaber wird das nicht beeindrucken. Sind die EU-Staaten doch offensichtlich nicht bereit, für die Verteidigung elementarer internationaler Rechtsnormen wirtschaftliche Nachteile zu riskieren. Das chinesische Regime aber wird nicht zögern, die Abhängigkeit Europas von Chinas Kapital und Absatzmärkten als Druck- und Erpressungsmittel einzusetzen. Die Zurückhaltung der Europäer erweist sich so als Ausdruck vorauseilenden Gehorsams.

Geradezu zynisch klingt die Begründung, die der EU-Außenbeauftragten Joseph Borrell für den Verzicht auf Sanktionen nannte: Ein Konfrontationskurs gegenüber Peking verbiete sich nicht zuletzt, weil man China ja für die gemeinsame Lösung globaler Probleme wie den Klimawandel brauche. Nach dieser Logik müssen Prinzipen des internationalen Rechts im Zweifelsfall hinter vermeintlich übergeordneten, existenziellen Menschheitszielen zurückstehen. Soll der Preis für die Rettung des Planeten somit darin bestehen, dass das Leben auf ihm künftig von der Willkür autoritärer Mächte bestimmt wird? Lässt man sich auf diese Logik ein, hat man sich dem totalitären Denken bereits unterworfen. Denn dessen Kern besteht in der Prämisse, das „formale  Recht“ habe gegenüber den höheren Lebensrechten eines von der Ideologie konstruierten Kollektivkörpers nur untergeordnete Bedeutung.

Im Gegensatz zur EU drohen immerhin die USA der VR China Konsequenzen für ihren Völkerrechtsbruch an. Doch der Konfrontationskurs Washingtons gegenüber Peking leidet an einem Glaubwürdigkeitsproblem. Setzt US-Präsident Donald Trump seine Attacken in Richtung Peking doch allzu offensichtlich dafür ein, von seinem innenpolitischen Versagen abzulenken. Auch angesichts des planlosen Chaos, das unter Trump in der US-Außenpolitik herrscht, sind Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Eintretens Washingtons für die Menschenrechte in Hongkong angebracht. Trump, der von Nordkoreas Despoten Kim Jong-un bis zu Saudi Arabiens Alleinherrscher Mohammed bin-Salman Autokraten zu preisen und zu hofieren pflegt, ist bisher jedenfalls noch nie als Verfechter einer konsequenten Menschenrechtspolitik aufgefallen.

Und während Trump gegen den chinesischen Autoritarismus wettert, überrumpelt er die westlichen Partner mit der Ankündigung, zum nächsten G7-Gipfel Russland einladen zu wollen – wobei er Putins Aggressor-Staat kurzerhand in eine Reihe mit „alten Verbündeten“ des Westens wie Südkorea, Australien und Indien stellt. Wer aber für eine harte Haltung gegenüber der Volksrepublik China trommelt und sich zugleich an Putins Neoimperialismus anbiedert, offenbart nicht nur seine Verlogenheit –  er spaltet und desorientiert damit auch den Westen.

Denn die Offensiven Russlands und Chinas gegen das internationale Recht bedingen einander. Wie die Annexion der Krim durch Putins Russland ist die Gleichschaltung Hongkongs ein Testfall dafür, ob der Westen noch zur Verteidigung einer auf dem Recht basierenden Weltordnung bereit und fähig ist. In beiden Fällen rechtfertigen autoritäre Mächte die gewaltsame Unterwerfung einer Bevölkerung mit deren vermeintlich unveränderbar vorbestimmten Zugehörigkeit zu einem ethnischen Kollektiv. Wer als Russe zu gelten hat und folglich vom russischen Staat vereinnahmt werden darf, liegt nach dieser Lesart in der Entscheidungsbefugnis des Kreml. Und was mit Chinesen außerhalb des Machtbereichs der chinesischen Kommunisten zu geschehen hat, unterliegt nach dieser Vorstellung der willkürlichen Festlegung durch die Pekinger Zentralmacht. Auf der Krim wie in Hongkong  stehen sich zwei unvereinbare Prinzipien gegenüber: das auf universalen Werten beruhende Selbstbestimmungsrecht der Völker und die autoritäre Anmaßung des ethnischen Nationalismus.

Die Einwohner der Krim haben sich in einer freien Abstimmung 1991 für die Zugehörigkeit zu einer unabhängigen Ukraine entschieden. Mit  Hilfe eines gefälschten Scheinreferendums haben die russischen Okkupanten diesen souveränen Entschluss 2014 gewaltsam rückgängig gemacht. Die Einwohner Hongkongs ihrerseits hatten nie die Chance zu entscheiden, ob sie sich als einer von der Kommunistischen Partei Chinas definierten chinesischen Nation zugehörig betrachten oder ihre bürgerlichen Freiheitsrechte über ihre angebliche ethnische Identität stellen wollen. Dass Großbritannien und mit ihm der gesamte Westen es 1997 versäumten, die Bürger Hongkongs über ihre künftige staatliche Verfasstheit abstimmen zu lassen, hat sich als fataler Geburtsfehler des damals getroffenen Abkommens erwiesen. Die Zustimmung des Westens zu der Formel: „Ein Land, zwei System“ basierte auf der irrigen Annahme, das chinesische Regime werde sich dauerhaft an internationale Vereinbarungen halten. Totalitäre und autoritäre Systeme respektieren Verträge jedoch nur so lange, wie die internationalen Kräfteverhältnisse sie dazu zwingen.

Das gilt auch für Russland, das sich im Budapester Memorandum von 1994 zur Unverletzlichkeit des Territoriums der Ukraine bekannt hatte. Auf Moskaus gewaltsamen Bruch dieser völkerrechtlichen Verpflichtung hat der Westen immerhin mit Sanktionen reagiert, die trotz massiver innerer Widerstände bis heute in Kraft sind. Dass die EU nun aber im Fall Hongkong auf eine Sanktionierung Chinas verzichtet, lässt auch im Blick auf ihre Standhaftigkeit in der Krim-Frage nichts Gutes erahnen.

Zuerst erschienen auf ukrainisch in Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua) und auf deutsch in der Reihe „Intervention“ des Online-Kulturmagazins „Perlentaucher“.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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