Kampf gegen Rassismus: für oder gegen universale Werte?

Der Rassismus zählt zu den schlimmsten Geißeln der Menschheit. Der Kampf gegen Rassismus in jeglicher Erscheinungsform ist daher für offene demokratische Gesellschaften von überlebensnotwendiger Bedeutung und Dringlichkeit. Denn rassistische Ideen, Handlungen und Strukturen verletzen die Menschenwürde und greifen damit die Werteordnung, auf der Demokratie und Rechtsstaat gründen, in ihrer Substanz an.

Doch der „Antirassismus“, in dessen Namen derzeit in der westlichen Welt mobilisiert wird, hat seinerseits ein Doppelgesicht. Genauer gesagt: Es gibt ihn in zwei Varianten, die in der Praxis zwar nicht immer säuberlich voneinander zu trennen sind, in ihrer Konsequenz jedoch in diametralem Gegensatz zueinander stehen. Der freiheitliche, universalistische Antirassismus bekämpft die Unterdrückung und Diskriminierung von Menschen, ihre Abwertung aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe, auf der Basis des Gleichheitsgrundsatzes, der jedem einzelnen Bürger dieselben Rechte und denselben Anspruch auf Schutz durch das Gesetz sowie auf individuelle Entfaltung und Selbstverwirklichung in der Gesellschaft zusichert. Der Imperativ dieses Antirassismus ist die Farbenblindheit – das heißt, dass Hautfarbe, ethnische Abstammung, religiöse Zugehörigkeit oder andere Kollektivzuordnungen im staatlichen wie gesellschaftlichen Umgang mit dem Einzelnen keine Rolle spielen dürfen.

Dieses Prinzip impliziert keine Gleichmacherei und widerspricht nicht dem heutzutage so oft beschworenen Gebot der „Diversität“. Es stellt im Gegenteil überhaupt erst jenen gesicherten Freiraum her, in dem sich unterschiedliche Lebensentwürfe unter kulturellen, religiösen oder anderen partikularen Vorzeichen entfalten können. Dass das Gleichheitsgebot vielfach noch weit von seiner Verwirklichung entfernt ist, macht es keineswegs ungültig. Die Erkenntnis dieser Defizite muss vielmehr Ansporn zu verstärkten Anstrengungen sein, die Lücke zwischen seinem Anspruch und seiner Realisierung zu schließen.   

Unter dem Einfluss sogenannter postkolonialistischer Theorien hat sich jedoch eine Form des „Antirassismus“ herausgebildet, die das Prinzip der Farbenblindheit negiert und als Ausdruck einer ihrerseits unterdrückerischen Ideologie unter Verdacht stellt. In der Nachfolge von antikolonialistischen Theoretikern wie Frantz Fanon teilt diese Denkschule die Menschheit grundsätzlich in die Erben des (westlichen, weißen) Kolonialismus und der von ihm Kolonisierten ein und unterstellt, die universellen Menschenrechte seien nur eine Täuschung, mit der die Opfer westlicher Dominanz auch nach dem formellen Ende der Kolonialherrschaft in Abhängigkeit von den vormaligen Kolonialherren gehalten werden sollten. So lange sich die Kolonisierten nicht radikal – bei Fanon ausdrücklich durch Akte „reinigender“ Gewalt – , von dem gesamten Wertesystem der unterdrückerischen europäisch-westlichen Zivilisation befreit hätten, blieben die Nachfahren der Täter und Opfer dauerhaft in ihrer jeweiligen Rolle eingeschlossen.

Indem diese Theorie Angehörige diskriminierter Bevölkerungsgruppen nicht primär als Individuen und Bürger, sondern als Bestandteile eines geschlossenen Opferkollektivs betrachtet, sperrt sie diese in eine vorbestimmte „Identität“ ein und beraubt sie der Koordinaten, an denen sich ihr Streben nach Emanzipation positiv orientieren kann. Mit dieser Entpersonalisierung und Reduktion der Unterdrückten auf eine kollektive Existenz, die qua Herkunft absolut determiniert ist, reproduziert dieser doktrinäre „Post“- oder „Antikolonialismus“ die Denkschemata des Rassismus. Und indem er die freiheitlichen Prämissen der pluralistischen Demokratie diskreditiert, spielt er den Kräften in die Hände, die diese zu Gunsten „völkischer“ und rassistischer Kategorien beseitigen wollen.

Nicht von ungefähr sind im Zuge der Entkolonialisierung unter dem Vorwand „antikolonialistischer“ Solidarität zahlreiche neuartige brutale Unterdrückungssysteme entstanden. Und nicht zufällig blühen im „postkolonialistischen“ Denk-Biotop so manche antisemitische und israelfeindliche Affekte – gilt darin der Zionismus doch als eine Spielart des „Kolonialismus“, womit der jüdische Anspruch auf Selbstbestimmung jenem europäisch-westlichen Unheilszusammenhang weißer Vorherrschaft zugeschlagen wird, der alle Übel der Gegenwart in die Welt gebracht habe.

Seinen Ausdruck findet dieser antiwestliche „Antirassismus“ etwa darin, dass Demonstranten in den USA und anderswo nicht nur Denkmäler von Sklavenhaltern und Südstaatengenerälen attackieren, die für die Aufrechterhaltung der Sklaverei Krieg geführt haben, sondern auch Statuen von Ikonen des westlichen Entdeckergeistes wie Christoph Kolumbus vom Sockel stürzen. In England wurde gar ein Denkmal Winston Churchills mit einer Aufschrift beschmiert, die ihn als Rassisten brandmarkt. Die Botschaft dieser Art von Attacken ist klar: Sie unterstellt, dass der Westen (und er allein) in seinem Kern und ursprünglichen Wesen auf Rassismus gegründet sei – gleichgültig, ob er sich in demokratischer oder in faschistischer beziehungsweise nationalsozialistischer Verkleidung präsentiere. In dieser „antikolonialistischen“ Nacht sind alle Katzen grau, und ein großer demokratischer Staatsmann wie Churchill, der gewiss noch in imperialem Denken befangen war, gleichwohl aber entscheidend dazu beigetragen hat, die Menschheit vor der Herrschaft des grauenvollsten rassistischen Gewaltsystems der Weltgeschichte zu bewahren, landet in demselben Topf wie übelste Rasseideologen.

Doch wie rassistisch ist der Westen tatsächlich? Zunächst einmal ist Rassismus keineswegs eine rein westliche – europäische und nordamerikanische – Spezialität. Er existiert auf allen Kontinenten und in allen sogenannten Kulturkreisen. Die Abwertung, Dehumanisierung und Ausgrenzung von Menschen aus dem eigenen Stamm, der eigenen Ethnie oder der eigenen religiösen Gemeinschaft gab es weltweit lange, bevor sich in Europa das herausbildete, was als westliche Moderne bezeichnet wird. Auch ist die neuzeitliche Versklavung von als minderwertig betrachteten Menschengruppen nicht exklusiv mit dem europäischen Kolonialismus verknüpft. So gab es in der islamischen Welt bis in das 19 .Jahrhundert hinein ein extensives (und subkutan mancherorts bis heute fortexistierendes) System der Sklaverei und des Sklavenhandels, dem auch unzählige Europäer zum Opfer fielen. Vonseiten der „postkolonialistischen“ Theorie wird dieser Teil der Geschichte – wie generell nichteuropäische Unterdrückungszusammenhänge – jedoch kaum jemals problematisiert.

Allerdings hat es nur der europäische Kolonialismus zu globaler Ausdehnung gebracht, und nur europäische Kolonialisten brachten es fertig, die Unterjochung als „rückständig“ angesehener Völker und „Rassen“ mit der ideologischen Rechtfertigung zu versehen, diese müssten im Sinne des historischen Fortschritts auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben werden.. Zutreffend ist auch, dass die pseudowissenschaftliche Kategorisierung von Menschen in „Rassen“ und ihre entsprechende Hierarchisierung nach ihrem vermeintlichen Wert oder Unwert europäisch-westlichen Ursprungs ist. An dieser „Verwissenschaftlichung“ des Rassismus zeigt sich eine dunkle Seite der europäischen Aufklärung, an deren Ausformung, von Voltaire bis Kant, viele ihrer größten Geister Anteil hatten. Dass die pseudowissenschaftliche Sortierung der Menschen in höher und minder entwickelte „Rassen“ westliches Denken lange Zeit tief durchdrungen und bis heute seine Spuren in der Bewusstseinsstruktur demokratischen Gesellschaften hinterlassen hat, macht sie für diese zu einer anhaltenden Hypothek.

Doch ebenso wahr ist, dass  der Widerstand gegen diese Pervertierung rationalen, wissenschaftlichen Denkens für antihumane Zwecke eine nicht weniger originäre Triebkraft der westlichen aufklärerischen Moderne darstellt. Erst im Kontext des von ihr gesetzten (und bereits in der jüdischen und christlichen Tradition angelegten) Postulats der angeborenen Gleichheit aller Menschen wurde es möglich, jegliche Ungleichbehandlung von Menschen grundsätzlich in Frage zu stellen.

Kaum ein Ereignis hat der Fortentwicklung der westlichen Demokratien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine solch entscheidenden Schub verliehen wie der erfolgreiche Kampf der US-Bürgerrechtsbewegung für die politische und rechtliche Gleichstellung der schwarzen Amerikaner in den 1960er Jahren. Die Frauen und Männer, die dieses Ziel unter enormen Opfern erkämpften, verkörperten damit die authentischen Werte des Westens, und nicht ihre rassistischen Unterdrücker, die ihnen die Wahrnehmung ihrer elementaren Bürger- und Menschenrechte vorenthielten. Die Bürgerrechtsbewegung obsiegte, weil sie das in der US-Verfassung angegebene Gleichheitsversprechen für sich einklagte, statt es als trügerischen Tand zu verwerfen. Und auch das Ende der Apartheid in Südafrika vollzog sich unter der Prämisse, die vom Westen propagierten  Werte zu verwirklichen. Sie konnte ohne einen mörderischen Bürgerkrieg beseitigt werden, weil sich Nelson Mandela das Prinzip der Farbenblindheit zu eigen machte und sich zu den Idealen der westlichen pluralistischen Demokratien bekannte.

Selbstredend war damit weder in den USA noch in Südafrika der Kampf gegen den Rassismus endgültig gewonnen – weder dort noch irgendwo sonst wird er leider jemals in Gänze an sein Ende kommen können. Doch nur die offenen Gesellschaften, wie sie sich zuerst im Westen herausgebildet haben, bieten das ideelle Instrumentarium und die institutionellen Voraussetzungen dafür, ihn so weit wie möglich zurückzudrängen. Die freiheitliche Verfasstheit des Westens, jenes „unvollendeten Projekts“, als das ihn der Historiker Heinrich August Winkler definiert hat, steht und fällt mit seinem konstanten Bestreben, die gesellschaftliche Wirklichkeit an die von ihm als verbindlich gesetzten Werte und Normen anzunähern. Ohne die Bereitschaft zu permanenter selbstkritischer Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten ihrer eigenen Vorgeschichte wie den Verbrechen des Kolonialismus und ihren daraus resultierenden Deformationen in der Gegenwart würden die westlichen Demokratien sowohl hre Legitimation als auch ihre Dynamik verlieren.

Auch die aktuelle Bewegung gegen den Rassismus in den USA und anderswo in der westlichen Welt wird nur erfolgreich sein, wenn sie sich als Teil des Kampfes für die universellen Menschenrechte und die Sicherung der Grundrechte aller Bürger versteht. Es ist allerdings wahr, dass man sich, wie jetzt allenthalben betont wird, als weißer Mensch nicht wirklich in die Lage eines schwarzen Opfers des Rassismus versetzen kann. Deshalb ist es selbstverständlich, dass die Stimmen der davon unmittelbar Betroffenen in diesem Kampf den Ton und die Richtung angeben müssen. Missstände wie rassistische Diskriminierung müssen konkret und gezielt angegangen werden und dürfen nicht in einer allgemeinen Soße abstrakter humanistischer Bekenntnisse ertränkt oder durch Hinweise auf ebenso existierendes anderes Unrecht relativiert und zerredet werden. Doch leitet sich daraus andererseits nicht ab, dass Personen, die selbst Opfer von rassistischer Herabsetzung sind, dadurch per se in jeder Frage im Recht wären, ihre Argumente seine höhere, unangreifbare Wahrheit repräsentieren würden und ihre Handlungen durch eine höhere Moral legitimiert wären.

Was die aktuelle Situation in den USA betrifft, ist zu hoffen, dass die berechtigte und notwendige Erhebung gegen rassistische Gewalt und Benachteiligung den Gesamtzusammenhang des Kampfes für die demokratische Erneuerung des Landes im Blick behält und sich nicht auf eine partikularistische Perspektive verengt. Für die Zukunft der US-Demokratie – und damit für die Demokratien weltweit – ist es von essenzieller Bedeutung, dass Donald Trump, der die Grundwerte der Vereinigten Staaten verachtet, ihre demokratischen Institutionen ruiniert und rassistischen Reaktionären vom Schlage der weißen Suprematisten Auftrieb gibt, baldmöglichst aus dem Amt entfernt wird. Zu seiner Abwahl bedarf es einer breiten, lagerübergreifenden Allianz jener noch verbliebenen gesellschaftlichen Mitte, die den alle Amerikaner verbindenden Freiheitsidealen der USA treu bleiben will. Würde die antirassistische Bewegung dem Einfluss radikaler Demagogen und „postkolonialistischer“ Relativierer der Errungenschaften der Demokratie erliegen, gäbe es aktuell nur einen Nutznießer: Donald Trump

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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