Zweiter Weltkrieg: Wie Putins Regime die Opfer missbraucht

Am 9. Mai im Treptower Park in Berlin, rund um das „Sowjetische Ehrenmal“: Inmitten von putinistischen Russen und deutschen Pro-Putinisten, die sich an diesem Ort wie jedes Jahr versammelt hatten, um den vom Moskauer Regime verordneten „Tag des Sieges“ zu zelebrieren, hielt die Gruppe Demokrati-JA, eine Inititiative russischer Demokraten und Regimegegner, mit einem eigenen Stand mutig dagegen. Dort fand nachmittags eine Kundgebung statt, die auf die Parallelen zwischen dem Ausrottungsfeldzug des nationalsozialistischen Deutschland gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und dem aktuellen russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hinwies.

Mein Redebeitrag zur Instrumentalisierung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg durch das Kreml-Regimee wurde verschiedentlich gestört. Ein Zuhörer ging, die üblichen „Faschisten“-Beschimpfungen ausstoßend, in bedrohlicher Haltung auf die Bühne zu, wo er von Ordnern erst einmal gestoppt wurde. Es bedurfte jedoch mehrerer Aufforderungen der Veranstalter, bis sich die umstehenden Polizisten endlich zum Einschreiten entschlossen und den Störer vom Platz komplimentierten. Wesentlich wacher hatte sich die Polizei gezeigt, als sie vor Beginn der Kundgebung die Veranstalter absurderweise anwies, auf ihrem Transparent die Parole: „Für den Sieg der Ukraine“ zu überkleben.

Man kann der Berliner Polizei dennoch für ihre Präsenz und dafür dankbar sein, die vom Berliner Senat verhängten Auflagen für prorussische Manifestationen – es durften bei öffentlichen Gedenkveranstaltungen zum 9. Mai weder die russische Fahne noch das Kreml-Regime und seinen Kriegskurs unterstützende Symbole wie das Sankt-Georgsband oder der Buchstabe Z gezeigt werden – im Großen und Ganzen durchgesetzt zu haben. Das Aggressionspotenzial, das in den Reihen der hiesigen Parteigänger des Terrorstaats Russland steckt, ist damit jedoch längst nicht entschärft.

Im Folgenden der Text meiner Rede:

Systematisch verfälschte Geschichte wird von Putins Russland schon seit vielen Jahren als hybride Kriegswaffe eingesetzt.  Mit  skrupelloser Infamie verfolgen Putin und seine ideologischen Einpeitscher ihre Absicht, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ihrer großrussisch-imperialen Geschichtsklitterung zu unterwerfen – und sie zum Instrument der Durchsetzung ihrer weltpolitischen Agenda zu machen, die auf nichts weniger zielt als die Auslöschung der liberalen demokratische Zivilisation sowie der auf ihren Werten basierenden Weltordnung.

Russland will sich so zum historischen Alleinerben der Zweiten-Weltkriegs-Siegermacht Sowjetunion aufschwingen und sich damit als eigntlichen und einzigenErlöser der Menschheit von der Geißel des Nationalsozialismus inszenieren. Dieser angemaßte Nimbus dient dem Kreml dazu, nach innen seinem neototalitären Herrschaftssystem und nach außen seiner genozidalen Gewaltpolitik, deren Blutspur von Tschetschenien über Georgien und Syrien bis in die Ukraine reicht, den Anschein einer höheren moralischen Legitimation zu geben.

Berlin, 9. Mai im Treptower Park: Polizisten drängen bei der proukrainischen und proeuropäischen Kundgebung einen Störer ab.

Dementsprechend wird die ukrainische Unabhängigkeit und Demokratie von der Kremlpropaganda als das Werk von „Faschisten“ oder „Nazis“ denunziert, die in der Kontinuität ukrainischer nationalistischer NS-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg stünden. Wobei Moskau verschweigt, dass es in Russland ein nicht weniger breites Spektrum an Kollaborateuren gegeben hat als in der Ukraine.

Die ganze Perfidie und Verlogenheit der „antifaschistischen“ Camouflage des Kreml wird daran deutlich, dass er in Wahrheit der wichtigste finanzielle und propagandistische Förderer sowie ideologische Einflüsterer der extremen Rechten in Westeuropa ist. Um seine „antinazistische“ Maske passend zu machen, muss Putin indeszentrale Teile der historischen Wahrheit aus der Geschichte tilgen. So etwa die, dass der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 der NS-Kriegsmaschinerie überhaupt erst den Weg zur Invasion Polens geebnet hat, wofür sich die Sowjetunion mit der Besetzung und brutalen Unterwerfung Ostpolens sowie der gewaltsamen Einverleibung der baltischen Staaten schadlos hielt. Vergessen gemacht werden soll auch, dass in Folge dieses Pakts Moskau bis zum Überfall Hitlers auf die Sowjetunion 1941 als dessen Verbündeter agierte und mit umfänglichen Rohstofflieferungen aktiv dazu beitrug, dass NS-Deutschland große Teile Europas mit Krieg überziehen konnte.

Ins historische Zerrbild Putinscher Prägung passt ebenfalls nicht, dass die Sowjetunion ohne die massiven Rüstungslieferungen der Vereinigten Staaten im Zuge von Roosevelts „Leih- und Pacht-Gesetz“ den Krieg gegen die NS-Invasoren kaum hätte durchhalten, geschweige denn hätte siegreich bestehen können.

Mit dem völkermörderischen Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine hat die Instrumentalisierung des Gedenkens an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs durch den Kreml eine neue Dimension an bösartigem Zynismus erreicht. Unter dem Vorwand der „Befreiung“ vom „Faschismus“ bzw. „Nazismus“ führt Moskau einen Vernichtungskrieg und begeht systematisch grauenvollste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die denen der NS-Invasoren im Zweiten Weltkrieg kaum nachstehen.

Dass die russische Propaganda- und Desinformationsmaschinerie diesen Überfall auf ein souveränes, friedliches und demokratisches Land als einen „Verteidigungskrieg“ in der Kontinuität des sog. „Großen Vaterländischen Krieges“ ausgibt, bedeutet eine Schändung der Opfer der NS-Barbarei und derer, die sie niedergekämpft haben. Ihr Andenken wird von dem putinistischen Regime missbraucht, um die russische Gesellschaft im Sinne seines imperialistischen Eroberungswahns und mörderischen Gewaltkults gleichzuschalten und zu eliminatorischem Hass aufzustacheln.   

Meine Ansprache im Treptower Park

So sehr sich Deutschland für immer seiner historischen Verantwortung für die deutschen Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion bewusst sein muss, so wenig darf dies dazu führen, gegenüber dem heutigen russischen Regime Nachsicht und Zurückhaltung an den Tag zu legen. Dies umso weniger, als es die Ukraine und Belarus waren, deren Territorium im Gegensatz zu dem Russlands vollständig von Nazideutschland besetzt war. Sie hatten folglich die größte Last der deutschen Okkupation zu tragen und die weitaus höchsten Opferzahlen zu beklagen.

Diese Nationen aber sind heute Zielscheibe berserkerischer Aggression und Obstruktion vonseiten des Kreml. Gerade angesichts des unermesslichen Leids, das den einst in der Sowjetunion zwangsvereinten Völkern vom nationalsozialistischen Deutschland angetan wurde, gilt es mit aller Kraft für deren Recht auf Selbstbestimmung, Frieden und demokratische Freiheit einzutreten – für alles das also, was von den heutigen Deutschen für sich selbst wie selbstverständlich in Anspruch genommen wird.

Stand with Ukraine! Slava Ukraini!

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt