Ein Liberalismus, der uns heute fehlt: Raymond Aron

Ein diesbezügliches Jubiläumsdatum steht nicht an. Dennoch kann man ruhig einmal anlasslos an einen wichtigen Denker des Liberalismus erinnern, der hierzulande viel zu wenig beachtet wurde. Und der schon allein deshalb außergewöhnlich ist, weil er den in Frankreich gängigen Antiamerikanismus ablehnte.

„Die Menschheit hat keine andere Hoffnung zu überleben als die Vernunft und die Wissenschaft.“ Dieser Satz, der inmitten der Corona-Pandemie aktueller und zutreffender ist denn je, stammt von einem der bedeutendsten Theoretiker des Liberalismus im 20. Jahrhundert.

Denker wie der französische Philosoph Raymond Aron, der 1983 im Alter von 78 Jahren starb, werden heute , da die liberale Demokratie in Europa zunehmend unter den Druck autoritärer und konformistischer Ideologien von rechts wie links gerät, schmerzlich vermisst. Dass der politische Liberalismus derzeit kaum Attraktivität ausstrahlt, liegt auch daran, dass ihm intellektuelle Köpfe von der Statur Arons fehlen, die unbeirrt an seinen grundlegenden Werten und Prinzipien festhalten, ohne sie in unwandelbaren Dogmen erstarren zu lassen.

DIE SKEPSISTRADITION DES LIBERALISMUS

Raymond Aron war jede Art von utopischem und doktrinärem Denken fremd. Er gehörte nicht zu jenen Hurra-Liberalen, die von der erträumten Erfüllung ihrer Visionen – aufs Allernotwendigste verschlankter Staat, ungehindertes freies Spiel der Marktkräfte, minimale Steuersätze etc. – die Lösung aller gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte erwarten. Wie kein anderer moderner politischer Philosoph hat Aron vielmehr die skeptische und im Kern defensive Grundstimmung der authentischen liberalen Tradition herausgearbeitet und zu neuer Vitalität erweckt.

Dabei knüpfte der bekennende Kantianer an die Ideen der liberalen Klassiker Montesquieu, Tocqueville und Max Weber an. Aron hielt nichts von politischen und gesellschaftlichen Glücksverheißungen, auch nicht im Namen noch so schön klingender freiheitlicher Ideale. „Es gibt keine vollkommene Gesellschaft, aber es gibt Grade der Unvollkommenheit“, schrieb er 1955 in einem seiner wichtigsten Werke, „Opium für Intellektuelle“, in dem er vor allem die zahlreichen zeitgenössischen Anhänger des Marxismus unter den führenden französischen Denkern ins Visier der Kritik nahm.

Die westliche liberale Demokratie erachtete er als die am wenigsten unvollkommene Staatsform, weswegen er sie mit Leidenschaft gegen alle Formen von Totalitarismus und Despotismus verteidigte. Was aber nicht heißt, dass Aron die liberale Demokratie nur als „kleineres Übel“ betrachtete. „Rechtfertigen lässt sich die freiheitliche Gesellschaft“, schrieb er, „gerade durch die Möglichkeit der persönlichen Initiative und der dem Einzelnen eingeräumten Möglichkeit der Selbstverwirklichung, also nicht als geringeres Übel, sondern aufgrund mancher Vorzüge.“ Aron bezeichnete sich selbst als einen „aktiven Pessimisten“ – was für ihn bedeutete, „aus meinem Pessimismus (oder aus dem, was als solcher verstanden wird) niemals die Lehre der Indifferenz und der Passivität gezogen“ zu haben.

KEINE ALLEIN GÜLTIGE FORMEL WAHRER FREIHEIT

„Pessimismus“ hieß für ihn nichts anderes, als auf die Droge der Verheißung eines idealen Glückszustands der Gesellschaft zu verzichten, um umso klarsichtiger wirkliche Verbesserungen des menschlichen Daseins in Angriff nehmen zu können. Wem dieses nüchterne Freiheitskonzept Arons zu minimalistisch erscheint, verkennt, welche enorme, aber auch stets fragile historische Errungenschaft die Spielräume politischer und persönlicher Freiheit darstellen, die in liberalen Demokratien Gestalt angenommen haben. Liberale müssen bestrebt sein, diese Spielräume im Rahmen von Institutionen und Gesetzen für möglichst viele Menschen stetig zu erweitern. Dabei bestand er darauf, dass es „eine allein gültige Formel wahrer Freiheit nicht gibt.“ Er hielt es gerade für die Stärke demokratisch-liberaler Gesellschaften, dass sie dies anerkennen.

Für den skeptischen Realisten und „engagierten Beobachter“, wie sich Aron selbst nannte, war theoretische Erkenntnis keine Beschäftigung im akademischen Elfenbeinturm. Neben seiner Tätigkeit als einflussreicher Universitätsprofessor (und Verfasser von 40 Büchern) stand gleichrangig seine Aktivität als tagespolitischer Kommentator. Mindestens so sehr wie als politischer Philosoph gewann er dabei Bedeutung als globalstrategischer Denker und kühler, unvoreingenommener Analytiker des Krieges. Den in Frankreich weit verbreiteten Antiamerikanismus lehnte er ab.

Der 1905 in Paris geborene Sohn einer jüdischen Familie, der sich in streng republikanischer Tradition freilich an erster Stelle als französischer Patriot und erst in zweiter Linie als Jude verstand, ging im Zweiten Weltkrieg nach England, um sich der Widerstandsbewegung de Gaulles anzuschließen. Nach dem Krieg erkannte Aron den Kommunismus als ähnlich tödliche Bedrohung für die freiheitliche Zivilisation an wie es zuvor der Nationalsozialismus gewesen war.

Dabei setzte Aron die beiden Systeme aber keineswegs gleich, sondern arbeitete im Gegenteil detailliert ihre Unterschiede heraus – sowohl was ihre ideologischen Wurzeln, als auch was die Funktionsweise ihrer Herrschaftssysteme betrifft. Eine substanzielle Gemeinsamkeit zwischen ihnen erkannte er allerdings unter anderem darin: Beide Systeme waren „revolutionär“ in dem Sinne, dass sie radikal mit der Vergangenheit und allen geschichtlichen Konventionen brechen wollten, wohingegen liberale Demokratien, so Aron, „in dem Sinne grundsätzlich konservativ sind, dass sie die überkommenen Werte bewahren wollen, auf die unsere Zivilisation gegründet ist.“

DENKEN OHNE NETZ UND DOPPELTEN BODEN

Auch wenn die großen totalitären Systeme inzwischen verschwunden sind, ist Arons Denkmethode, das Gute nicht aus einem erdachten Idealzustand abzuleiten, sondern im Kontrast zu den größten drohenden Übeln zu bestimmen, keineswegs inaktuell geworden. Neue Mutationen des Autoritarismus wie der chinesische Neokommunismus, der Putinismus in Russland und der Islamismus fordern die freiheitliche Ordnung des Westens erneut heraus. Aron glaubte nicht an einen Sinn der Geschichte und einen vorbestimmten historischen Fortschritt, hielt aber gerade deshalb daran fest, man könne „im Lichte der Idee der Vernunft fortfahren, an eine humanisierte Gesellschaft zu denken, von ihr zu träumen, sie zu erhoffen“.

Liberalismus bedeutete für Raymond Aron das Abenteuer eines unerschrockenen Denkens ohne Netz und doppelten Boden. Dass er sich dafür Gegner auf allen politischen Seiten einhandelte, nahm er in Kauf: „Ich bin wahrscheinlich isoliert und ein Opponent“, resümierte er 1981 in einem Gespräch. Doch das sei „ein normales Schicksal für einen wahren Liberalen.“

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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