Der Heroismus der Ukraine und die deutsche Schande


UPDATE: Kurz nach Veröffentlichung dieses Artikels am 26.2.22 hat sich die Bundesregierung endlich doch entschlossen, den Widerstandskampf der Ukraine gegen den russischen Aggressor mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Die plötzliche Kehrtwende.(auch in der Frage des Ausschlusses Russlands aus SWIFT) ist jedoch wohl eher dem wachsenden Druck vor allem der osteuropäischen Verbündeten geschuldet als einer tieferen Einsicht in der Regierung und den Koalitionsparteien in die Notwendigkeit einer wirksamen militärischen Abschreckung. Und es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig die Neuaufstellung der Russland-Politik Berlins tatsächlich ist.. Die Gedanken, die ich mir in diesem Text über die Hintergründe der Hartnäckigkeit gemacht habe, mit der sich Deutschland so lange dagegen gesperrt hat, den um ihr Existenzrecht als Nation kämpfenden Ukrainern mit Verteidigungswaffen beizuspringen, sind daher nicht obsolet.

Der heldenhafte Widerstand der ukrainischen Armee gegen die verbrecherischen russischen Aggressoren hat bereits jetzt für alle Zeiten ein Fanal für den unbezwingbaren Freiheitswillen des ukrainischen Volkes gesetzt. Es ist eine nationale Schande für Deutschland, dass sich die Bundesregierung noch immer weigert, den Verteidigungskampf, den die Ukraine nicht nur für das eigene, sondern für das Recht und die Würde der gesamten demokratischen Welt und zivilisierten Menschheit führt, durch Waffenlieferungen zu unterstützen.

In meiner schon vor Putins Überfall geschriebenen jüngsten Kolumne für das ukrainische Magazin Український тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua) habe ich versucht, den soziohistorischen und soziopsychologischen Hintergrund für dieses schmähliche historische Versagen der deutschen Politik und Gesellschaft zu beleuchten. Ich veröffentliche die deutsche Fassung des Textes zu dem Zeitpunkt, da die ukrainische Hauptstadt dem Ansturm der Soldateska des Kriegsverbrechers Putin noch standhält – und in tiefster Sorge um die Sicherheit meiner Kolleginnen und Kollegen in Kyjiw sowie um die Zukunft des freien Journalismus in der Ukraine.

Die Hartnäckigkeit, mit der sich Deutschland weigert, der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung zu liefern, ist mit rein rationalen Motiven nicht zu erklären. Nicht nur sorgt Berlin dadurch in der Ukraine für Verbitterung und das Gefühl, von einem wichtigen europäischen Verbündeten im Stich gelassen zu werden. Es isoliert sich so auch von seinen transatlantischen Partnern und nährt bei ihnen – nicht zu Unrecht – den Verdacht, Deutschland wolle sich selbst angesichts der extrem verschärften Aggressionspolitik des Kreml noch eine Hintertür für Sonderbeziehungen mit Russland offen halten.

Verlogenes Dogma

Dabei sind die Begründungen, die von der deutschen Bundesregierung für ihre Verweigerung angeführt werden, weder logisch schlüssig noch moralisch überzeugend. Insbesondere der Hinweis auf die deutsche Geschichte, die der heutigen deutschen Politik besondere Zurückhaltung gegenüber Russland auferlege, erweist sich bei genauerem Hinsehen als geradezu zynisch. Denn wenn es eine Lehre aus der nationalsozialistischen Vergangenheit gibt, so lautet sie, dass die Expansionsgelüste autoritärer und totalitärer Mächte nur durch frühzeitige militärische Abschreckung eingedämmt werden können, und dass Konzessionen an sie auf Kosten schwächerer Staaten – wie in München 1938 praktiziert – den Aggressor nur ermutigen können. Zudem hat unter den deutschen Verbrechen in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg neben Belarus vor allem die Ukraine gelitten. Gerade aus historischen Gründen müsste Deutschland daher umfassend dazu beitragen, neues verheerendes Unheil von ihr abzuwenden.

Zudem gehört Deutschland zu den größten Rüstungsexporteuren der Welt und hat extensive Waffenlieferungen selbst an brutale Autokratien nie gescheut. Und das vermeintlich unverrückbare Dogma der deutschen Außenpolitik, es dürften „keine Waffen in Krisengebiete“ geschickt werden, ist bereits bei früheren Anlässen aufgeweicht worden. So wurden 2015 die kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ von Deutschland mit umfangreichem  Kriegsgerät beliefert.

Dass der Ukraine vorenthalten wird, was man kurdischen Freiheitskämpfern gewährte, geschieht aus Angst, Deutschland könnte mit Waffenlieferungen den Kreml „provozieren“ und so seinen Status als bevorzugter „vermittelnder“ Ansprechpartner Russlands einbüßen – ebenso wie den eines vorrangigen Wirtschaftspartner Moskaus. Doch über diese vordergründigen Faktoren hinaus ist Deutschland in einer Art selbst suggerierter emotionaler Abhängigkeit von Russland gefangen. Diese Haltung geht auf die Umstände zurück, unter denen es 1989/90 zum Fall der Berliner Mauer und zur friedlichen deutschen Vereinigung kam. Die in der deutschen Gesellschaft tief verankerte kollektive Erinnerung an diese historischen Ereignisse unterscheidet sich wesentlich von der osteuropäischer Nationen. Während diese mit dem damaligen Umsturz die Befreiung vom Joch des Totalitarismus und damit die Hochschätzung des Werts der Freiheit verbinden, wird er in Deutschland vor allem mit den Maximen „Frieden“ und „Stabilität“ assoziiert.

Fetisch „Dialog“

Zugespitzt lautet das in der deutschen (und vor allem ostdeutschen)  Gesellschaft vorherrschende Narrativ, Gorbatschow (in Deutschland liebevoll „Gorbi“ genannt) habe Osteuropa die Freiheit und den Deutschen die Einheit geschenkt. Und es sei der stetige, auch  angesichts von Rückschlägen durchgehaltene „Dialog“ im Zuge einer unermüdlichen Entspannungspolitik gewesen, der der die Moskauer Führung schließlich zur Einsicht in die Vorteile friedlicher Zusammenarbeit gebracht habe.

Die Annahme einer grundsätzlichen Friedfertigkeit Moskaus, die nur temporär von aggressiven Tönen überdeckt werde, aber durch intensiven „Dialog“ wieder wachgerufen werden könne, wurde auf die russischen Folgeregierungen nach Gorbatschow projiziert und hat sich in der deutschen politischen Elite zu einem geradezu identitätsstiftenden Glaubensbekenntnis verfestigt. Aus ihm ging das Axiom hervor, es könne „in Europa keine Sicherheit ohne Russland“ geben, das Bundeskanzler Scholz kürzlich in Moskau in Anwesenheit Putins wiederholte. Die Bedrohung, die von Putins neoimperialen Ambitionen primär für seine Nachbarn ausgeht, sind von Berlin folgerichtig über viele Jahre hinweg systematisch unterschätzt oder beschönigt worden.

Verdrängt wurde dabei, dass die Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre nur auf der Basis einer konsequenten militärischen, nuklearen Abschreckung möglich war und Gorbatschow mit seiner Reformpolitik erst auf der Bühne erschien, als der Sowjetkommunismus seine aggressive Hochrüstung ökonomisch nicht mehr durchhalten konnte. Auch der Beitrag der osteuropäischen, insbesondere der polnischen und baltischen Freiheitsbewegungen zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums spielt im Gedächtnis der breiteren deutschen Öffentlichkeit allenfalls eine zweitrangige Rolle.

Mangelnde Empathie

Dementsprechend fehlt es heute in Deutschland – nicht nur bei offen prorussischen Kräften – auch an Empathie für die Ukraine. Wenn über 70 Prozent der Deutschen laut Umfrage Waffenlieferungen an sie ablehnen, drückt sich darin eine innere Einstellung aus, der die Erhaltung des Wohlwollens Russlands im Zweifelsfall wichtiger ist als die demokratische Solidarität mit den Ukrainern. Es offenbart sich damit eine gewisse Überheblichkeit gegenüber den osteuropäischen Nationen, denen bei der Aushandlung der Bedingungen für Sicherheit in Europa nur eine Nebenrolle zugewiesen wird. Als maßgeblich für das europäische Gleichgewicht gilt hingegen das deutsche Verhältnis zu Russland.

Durch die forcierte russische Aggression sind die Luftschlösser der deutschen Schaukelpolitik, die die Verankerung im transatlantischen Bündnis mit einem privilegierten Kooperationsverhältnisses zum zunehmend aggressiv antiwestlichen Russland in Einklang bringen wollte, jetzt zum Einsturz gebracht worden. Deutschland steht nun vor der historischen Grundsatzentscheidung, ob es unzweideutig fester Bestandteil eines wehrhaften westlichen Bündnisses sein oder sich im Namen des „Friedens“ und der „Stabilität“ den hegemonialen Ansprüchen des russischen Autoritarismus unterwerfen will.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

5 Kommentare

  • Sie werfen, Herr Dr. Herzinger, der deutschen Politik aber auch der Bevölkerungsmehrheit mangelnde Empathie mit dem ukrainischen Volk vor bzgl. der bisherigen Verweigerung von Waffenlieferungen..Diese Ihre Kritik hätte mich noch betroffener gemacht, wenn Sie uns Deutsche mit diesem Versagen und Versäumnis gegenüber den anderen europäischen Partnern bloßgestellt hätten, die alle bereitwilligst Waffenlieferungen durchgeführt haben, oder? Jedenfalls lese ich davon nichts in Ihrem Artikel. Und wenn sich in der Vergangenheit 70% der Bevölkerung dagegen ausgesprochen haben, so doch offensichtlich in der Besorgnis, damit den ukrainischen Konflikt mit Nachbar Russland eher anzuheizen als zu entspannen.. Heute würde die Umfrage wohl eher auf 70% pro und das nicht nur mit Helmen hinauslaufen.

    • Keineswegs. Erst vor wenigen Tagen gabe es eine neue Umfrage mit einer deutlichen Mehrheit gegen Waffenlieferungen. Sollte sich die Stimmung nun doch noch drehen, umso besser. Aber in meinem Text geht es um all die verlorenen Jahre, in denen man den verbrecherischen Aggressor Putin aus Ignoranz, Angst oder Opportunismus gewähren ließ und so die Möglichkeit verstreichen ließ, ihn rechtzeitig zu stoppen.

  • Sie haben völlig recht. Die Deutschen sind weder verteidigungsfähig aufgrund der quasi nicht vorhandenen Bundeswehr, sie sind und das ist viel schlimmer noch nicht einmal verteidigungswillig. Und das hat die linke Presse vollbracht und dieses Virus hat sich in alle Parteien gefressen, dass die Verteidigung ihres Landes durch die NATO erfolgen soll und das natürlich hauptsächlich durch die Amerikaner, diese sie natürlich bei jeder Gelegenheit lächerlich machen und kritisieren.

    • Aber nicht nur „die linke Presse“. Das Kriechertum vor Putin, die Unterschätzung oder Schönfarberei der Gefahr, die von Putins Verbrecherregime ausgeht – wenn nicht gar die Korrumpierung durch den Kreml – ist im konservativen Spektrum (und leider auch unter vermeintlichen „Liberalen) nicht weniger verbreitet.

  • Sehr geehrter Herr Herzinger!
    Vielen Dank für alle Ihre ,der Realität entsprechenden, Artikel, deren Inhalte aber leider meist (immer) der Bequemlichkeit geopfert werden.
    Mein eher (lächerlicher) Versuch, mit dem Stolperstein, den ich für einen ehemaligen Bewohner meines Hauses (Novemberpogrom in Innsbruck, der relativ blutigsten Stadt im Deutschen Reich) verlegen möchte – was mir aber von der Innsbrucker Stadtregierung nicht erlaubt/verboten wird – ein wöchentlich wiederkehrendes Zeichen zu setzen, hat zu diesem Text geführt.
    Mir ist klar, dass, wenn Ihre Warnungen nicht gehört werden, ich schon gar kein Gehör finden werde.
    Aber vielleicht können wir in großer Zahl doch einen entscheidenden Tropfen zum Überlaufen des berühmten Fasses beitragen?

    Zum 4., am nächsten

    Samstag um 16 45 Uhr

    stattfindenden Gedenken

    an vergangene und gegenwärtige Gräueltaten

    vor dem Haus Haydnplatz 8,

    finde ich nur verzweifelte, vielleicht sogar auch unpassende Worte…

    Paul Celan möge mir verzeihen, dass dabei seine
    TODESFUGE in meinem Kopf nicht verstummt ist…

    Schon damals zugeschaut, wie Nazibanden, Menschen weggeräumt vom Heimatort,
    und heute wieder, scheinbar sicher, aus der Ferne, wird akzeptiert der gleiche Mord.
    Nur nicht den Menschenschlächter reizen, der könnte uns ja gar bereiten Schmerz,
    lass doch die anderen für uns bluten, wir stehn doch bei mit Trauer und mit Herz.
    Du schleppst die selbst verbrochene Schuld wie eine Last, die dich erblinden lasst,
    für alles Leid, für jeden Opfermut, für jeden armen Menschen, der nach Hilfe fasst.
    Die Angst, die ist kein Freund, sie lässt dich zaudern, wo schnelle Tat nur ist gefragt,
    wer nicht wehrt dem Anfang, trauert nach dem Augenblick, in dem er nichts gesagt.
    Denn dieser Krieg, bei dem ein Land zerfällt und Frauen, Kinder, Männer sterben,
    ist ganz besonders deine Schuld, und die Folgen werden unsere Kinder erben.
    Europa, wo bleiben deine hohen Werte, Menschenrechte, Humanismus, Toleranz…
    wenn du deine Rolle nur mehr siehst als willenlos geführter Partner in dem Totentanz.

    Harald Büchele

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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