Der Warschauer Aufstand gegen die NS-Besatzung, der am 1. August 1944 begann, ist eine der beeindruckendsten Manifestationen europäischen Freiheitsstrebens im 20. Jahrhundert. Dennoch kommt ihm in der westlichen und in der deutschen Erinnerungskultur noch immer nicht der Rang zu, der ihm gebührt. Im Folgenden die leicht aktualisierte und ergänzte Fassung meines Texts dazu, der zuerst 2024, zum 80. Jahrestag des Aufstands, hier und hier erschienen ist.
Der Warschauer Aufstand gegen die NS-Besatzung vor einundachtzig Jahren ist eine der beeindruckendsten Manifestationen europäischen Freiheitsstrebens im 20. Jahrhundert. 63 Tage lang, von Anfang August bis Anfang Oktober 1944, hielten die Kämpferinnen und Kämpfer der polnischen Heimatarmee der deutschen Übermacht stand.
Dennoch kommt dem Warschauer Aufstand in der westlichen Erinnerungskultur noch immer nicht der Rang zu, der ihm gebührt. Das liegt auch daran, dass ihm nachgesagt wird, ein von vorneherein aussichtsloses Unterfangen gewesen zu sein. Die polnische Exilregierung in London habe, so die Kritik mancher Historiker, die Aufständischen auf verantwortungslose Weise in den sicheren Untergang geschickt, um ihre Position innerhalb der Anti-Hitler-Koalition zu stärken und eine eigene polnische Verwaltung zu installieren, bevor die nach Westen vorrückende Rote Armee die Hauptstadt einnimmt. Tatsächlich forderte der Aufstand unermessliche Opfer: Bis zu 180.000 Zivilisten wurden von den Besatzern ermordet und sämtliche überlebende Einwohner nach dem Ende der Kämpfe deportiert. Anschließend machten die Deutschen die Stadt dem Erdboden gleich.
Nicht leichtfertig
Doch die Insinuation, der Aufstand sei leichtfertig vom Zaun gebrochen worden, lässt außer Acht, welche enorme Bedeutung ihm für die Wiederherstellung der Würde der gepeinigten polnischen Nation zukam. Er wäre vermutlich auch ohne Anweisung aus London ausgebrochen. Zudem war die anfängliche Lageeinschätzung der Aufständischen durchaus nicht gänzlich unrealistisch. Die deutschen Truppen befanden sich im Spätsommer 1944 bereits auf breiter Front auf dem Rückzug, und es war nicht unbedingt zu erwarten, dass sie noch die Kraft zu einer derartig massiven Repression aufbringen könnten. Immerhin sollte nicht vergessen werden: Während des Warschauer Aufstands, Mitte August, erhob sich auch Paris gegen die deutschen Besatzer – was zur Befreiung der französischen Hauptstadt und zum Einzug der Alliierten führte.
Die negative Beurteilung des Aufstands entspricht indes dem Tenor der sowjetischen und der heutigen russischen Propaganda, die allen Grund hat, den Warschauer Aufstand ins Zwielicht zu rücken. Denn für sein Scheitern trägt die Sowjetunion eine erhebliche Mitverantwortung. Statt auf die polnische Hauptstadt vorzurücken, blieb die Rote Armee mit ihren Truppen am östlichen Weichselufer stehen und sah tatenlos zu, wie der Aufstand niedergeschlagen wurde. Die Sowjetführung distanzierte sich offiziell von ihm und denunzierte ihn als ein “unüberlegtes, furchtbares Abenteuer, das die Bevölkerung große Opfer kostet.” Moskau ließ zudem nur einen einzigen Abwurf von Waffen und Hilfsgütern für die Aufständischen durch die Westalliierten zu, obwohl die US-Luftwaffe zu weiteren Hilfsflügen bereit war.
Den Deutschen die Vernichtung der polnischen Heimatarmee zu überlassen, passte in das politische Kalkül des Kreml – fiel es ihm so doch leichter, nach Kriegsende in Polen eine kommunistische Diktatur zu installieren. Das Schicksal Warschaus hat sich daher wie der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bis 1941 als traumatischer Einschnitt und Symbol für das Zusammenspiel der beiden totalitären Mächte in das polnische nationale Gedächtnis eingebrannt.
Dunkle Flecken
Im Westen, und namentlich in Deutschland, findet dieser Aspekt des Zweiten Weltkriegs dagegen noch immer zu wenig Beachtung. Kaum bekannt ist überdies, dass an der Niederschlagung des Warschauer Aufstands auch Russen beteiligt waren. Die “Kaminski-Brigade”, eine Truppe von NS-Kollaborateuren, die zuvor mit extremer Brutalität sowjetische Partisanen bekämpft hatte, mordete und plünderte an der Seite der SS nun auf grausamste Weise in Warschau.
Von der russischen Geschichtsschreibung wird dieses Detail selbstredend verschwiegen. Setzt die putinistische Propaganda doch alles daran, die Ukraine zu einer Nation von NS-Sympathisanten zu stempeln, während Russland als strahlender, makelloser Befreier der Menschheit vom Nationalsozialismus erscheinen soll. Würde der Kreml eingestehen, dass es in Wahrheit auch in Russland eine breite Kollaboration mit den deutschen Okkupanten gegeben hat, käme dieses Lügenkonstrukt zum Einsturz.
Im Westen werden die dunklen Flecken im Bild der Sowjetunion als untadeligem Alliierten gegen Hitler indes noch immer nicht ausreichend wahrgenommen. Namentlich in Deutschland herrscht die Befürchtung vor, eine zu intensive Beleuchtung der zwielichtigen Rolle der Sowjets könnte als eine Relativierung deutscher Schuld betrachtet werden. Es drückt sich darin aber auch eine gewisse Herablassung gegenüber Polen und der osteuropäischen historischen Erfahrung aus, die bis in die Gegenwart hineinreicht – was sich etwa daran zeigt, dass die Warnungen Polens vor dem Ausmaß der Aggressionspläne Putins lange Zeit als Ausfluss überzogener, irrationaler Ängste abgetan wurden
Erschütternde Aktualität
Generell passt Polen ins deutsche Geschichtsbild offenbar besser als passives Opfer denn als aktiver Bestandteil der Anti-Hitler-Koalition. Kaum präsent sind dementsprechend in der hiesigen Öffentlichkeit die bedeutenden militärischen Beiträge der polnischen Exilstreitkräfte zum Sieg über NS-Deutschland, wie etwa die herausragende Leistung polnischer Piloten in der Luftschlacht um England 1940. Den Warschauer Aufstand als einen dieser großen militärischen Taten anzuerkennen, würde den Westen mit einer schmerzhaften Frage konfrontieren: Ob es nicht vorschnell war, die Freiheit Polens dem harmonischen Verhältnis zu dem sowjetischen Kriegsalliierten zu opfern. Gehörte es doch zur Tragik des Warschauer Aufstands, dass – was die Aufständischen nicht wussten – die Westalliierten den Sowjets wohl schon zugesagt hatten, ihnen Polen als Teil ihrer Einflusssphäre zu überlassen.
Der Anblick des dem Erdboden gleichgemachten Warschau ruft indes nicht nur die Schrecken der Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern auch das Grauen der Gegenwart. Die Bilder von Städten wie Grosny, Aleppo und Mariupol, nachdem sie von der russischen Armee in Schutt und Asche gelegt wurden, gleichen auf erschütternde Weise denen des vom nationalsozialistischen Deutschland ausgelöschten Warschau. Sie wirken als Mahnung an die freie Welt, den Opfern verbrecherischer Aggression in vollem Umfang jegliche Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen, um dem Vernichtungsfuror totalitärer Menschheitsfeinde erfolgreich zu widerstehen.