Sollte Donald Trump seinen Plan wahrmachen, die Ukraine zu Gebietsabtretungen an den russischen Aggressor und zum Verzicht auf den NATO-Beitritt zu nötigen, würde er damit die gesamte regelbasierte internationale Ordnung ins Wanken bringen – sehr zur Freude nicht nur Putins und seiner globalen antiwestlichen Kriegsachse, sondern auch von „Realisten“ wie dem US-Politologen John Mearsheimer, der mit seiner Theorie über die Globalpolitik das Recht des Stärkeren nobilitiert. Dazu mein Essay, der zuerst am 9.11.2024 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist:
Ein weit verzweigtes politisches, intellektuelles und akademisches Netzwerk versucht den Verteidigungswillen der westlichen Demokratien zu untergraben, indem es das Ausmaß der Bedrohung durch Russland und andere autokratische Mächte leugnet oder herunterspielt. Es handelt sich um eine Diskursformation, die über die traditionelle Trennline zwischen „Links und „Rechts“ hinausreicht. Ihr gemeinsamer Nenner ist die stereotype Suggestion, an Aggressionen wie dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine könne letztlich nur der Westen schuld sein, da er die Aggressoren „provoziert“ habe.
Einer ihrer wesentlichen Taktgeber ist der US-Politologe John Mearsheimer, der prototypisch die USA und ihre Verbündeten für die russische Aggression gegen die Ukraine verantwortlich macht. Gemäß dieser Logik habe sich Russland durch die Ausweitung von NATO und EU nach Osteuropa in seinem hegemonialen Status innerhalb seiner „Einflusszone“ bedroht fühlen müssen und sei daher gleichsam genötigt gewesen, dem mit militärischer Gewalt einen Riegel vorzuschieben.
Diesem weit verbreiteten antiwestlichen Verschwörungskonstrukt, das sich mit den propagandistischen Vorgaben des Kreml deckt, verleiht Mearsheimer den Anschein politikwissenschaftlicher Seriosität. Denn er vertritt eine vermeintlich konsistente Theorie über die Gesetzmäßigkeiten der Weltpolitik, was ihm in der Fachwelt nach wie vor den Rang eines zwar kontroversen, aber dennoch kompetenten Strategieexperten sichert.
Weit von der Realität
Mearsheimer gilt als ein führender Vertreter des „Neorealismus“ in einer Variante, die er selbst als „offensiven Realismus“ bezeichnet. Wie weit diese Theorie allerdings von der Realität entfernt ist, zeigt sich an den aktuellen Kommentaren und Diagnosen zu weltpolitischen Entwicklungen, die Mearsheimer aus ihr ableitet.
So hatte er 2015 in einem Vortrag erklärt, Putin sei „zu schlau, um die alte Sowjetunion zurückbekommen zu wollen“, und damit die offensichtlichen imperialen Absichten des Kreml-Regimes schlichtweg geleugnet. Nachdem Putin seine apologetische Aussage durch die russische Invasion der gesamten Ukraine brutal widerlegt hatte, erklärte Mearsheimer im Juni 2022 in einem Interview nunmehr, durch Waffenlieferungen an die Ukraine werde eine „ohnehin schon schlimme Situation noch weiter verschlimmert“. Der „beste Weg aus diesem Desaster heraus“ bestehe „in einer Verhandlungslösung“. Zu diesem Zeitpunkt war bereits das Massaker von Butscha bekannt, und jeder konnte sich ausmalen, was der gesamten ukrainischen Zivilbevölkerung blühen würde, verfügte die ukrainische Armee über keine Waffen zu ihrer Verteidigung.
Mearsheimer aber suggeriert, es gebe für die Ukraine überhaupt eine Option für „Verhandlungen“ – obwohl die Kreml-Führer nie einen Zweifel daran gelassen haben, dass Verhandlungen für sie nur unter der Voraussetzung der Unterwerfung der Ukraine unter ihre Bedingungen in Frage kommen. Dies aber liefe auf die ukrainische Kapitulation und damit die Liquidierung ihrer staatlichen Souveränität und nationalen Identität hinaus.
Proputinistisch, antiisraelisch
Im selben Interview bezichtigt Mearsheimer jedoch die Amerikaner, sie wollten keine Verhandlungslösung, sondern hätten „vielmehr ein Interesse daran, Russland auf ukrainischem Boden militärisch zu besiegen.“ Angesichts der Tatsache, dass die USA zwar in der Tat der bei weitem größte und wichtigste Waffenlieferant der Ukraine ist, ihr aber bis heute Waffensysteme vorenthält, die für den Sieg über den Aggressor unverzichtbar sind, ist das eine realitätsferne Behauptung. Es geht Mearsheimer dabei aber darum, zu verschleiern, wer ganz allein für den Ausbruch wie das Andauern des Krieges verantwortlich ist: Russland.
Er erweist sich somit als plumper Schallverstärker der Desinformationskriegsoperationen des Kreml. An ihm zeigt sich aber auch exemplarisch, dass Sympathien für den Putinismus und antiisraelische Affekte strukturell zusammengehören. Schon seinem gemeinsam mit Stephen Walt verfassten Pamphlet „Die Israel-Lobby“ von 2007 hatte Mearsheimer antisemitische Ressentiments geschürt, indem er behauptete, jüdische Organisationen hielten die USA davon ab, ihren wahren weltpolitischen Interessen zu folgen. Dieses Zerrbild erinnert an das alte antisemitische Stereotyp vom Judentum als einem Fremdkörper im Inneren der Nationen. Schon die amerikanischen Isolationisten der 1930er und 1940er Jahre agitierten nicht nur gegen den Kriegseintritt der USA in Europa, sondern auch gegen Waffenlieferungen an Großbritannien. Diese seien sinnlos, da die Briten den Krieg gegen Hitler ohnehin verlieren würden. Wortführer dieses Isolationismus waren die Antisemiten Henry Ford und Charles Lindbergh, die das „Weltjudentum“ bezichtigten, Amerika in den Krieg treiben zu wollen.
Heute wirft Mearsheimer Israel vor, in Gaza einen Genozid zu verüben, während er den von Russland in der Ukraine tatsächlich begangenen Genozid verschweigt. Überhaupt stellt er auch in Bezug auf Israels Verteidigungskrieg gegen die Phalanx Iran-Hamas-Hisbollah das Täter-Opfer-Verhältnis auf den Kopf. In seiner Darstellung ist es Israel, das den Krieg im Nahen Osten „eskaliert“, indem es die Hamas in Gaza und die Hisbollah im Libanon angreift. Dass dies Akte der Selbstverteidigung als Antwort auf das Massaker vom 7. Oktober 2023 ist, dem größten und grausamsten Massenmord an Juden seit dem Holocaust, lässt der „Experte“ unter den Tisch fallen. Wenn er nicht andeutet, Mordaktionen wie diese seien die Quittung für die angebliche maßlose Gewaltpolitik des jüdischen Staats, deren wahres Motiv die Vertreibung der Palästinenser sei.
Globale antiwestliche Achse
Mearsheimers „Neorealismus“ zeugt vor allem von einer zynischen Empathielosigkeit gegenüber den Opfern exterminatorischer Gewalt und stellt nichts anders dar als eine „objektivistisch“ verbrämte Nobilitierung der Willkür des Stärkeren. Weltpolitik ist dieser Theorie zufolge die Sache von Großmächten, deren Streben nach Hegemonie gleichsam strukturell in ihrem Wesen angelegt sei. Deren Vorherrschaftsambitionen hat man demnach hinzunehmen wie eine Naturgegebenheit, gegen die man mit „moralischen“ und ideellen Kategorien nicht ankommt. Folgerichtig spielt in Mearsheimers Theorie der Unterschied zwischen demokratischen und diktatorischen Mächten so wenig eine Rolle wie die Rechte von Völkern wie dem ukrainischen, die sich imperialer Dominanz nicht beugen wollen.
Wenn aber Weltpolitik nur das Kräftespiel zwischen Großmächten in einem „anarchischen“ System ohne übergeordnete Regeln ist – warum wirft Mearsheimer dann den USA beziehungsweise dem Westen vor, Russland mit der Ausweitung seiner Einflusszone „provoziert“ zu haben? Wenn es um Demokratien geht, verlässt Mearsheimer seine Attitüde als vermeintlich streng objektiver Analytiker und wird zum Ankläger.
Die unverwüstliche Zuneigung vieler „Realisten“ gegenüber Russland erklärt sich nicht zuletzt aus einer ihrer Lieblingsvorstellungen: Moskau könne als Verbündeter gegen oder doch zumindest Gegengewicht zu China gewonnen werden. Doch in Wahrheit bilden China und Russland gemeinsam mit Iran und Nordkorea eine globale antiwestliche Achse zur Auslöschung der bestehenden regelbasierten Weltordnung. Bis zu den „Realisten“ scheint sich diese offensichtliche Wirklichkeit jedoch noch nicht herumgesprochen zu haben.
„Experte“ Baberowski
Der Gestus eines „nüchternen Realismus“, der sich von „moralisierenden“ Illusionen in eine liberale Weltordnung nicht ablenken lasse, wird von zahlreichen westlichen „Experten“ gepflegt. So erklärte kürzlich der deutsche Osteuropahistoriker Jörg Baberowski, man habe im Westen nicht wahrnehmen wollen, dass Putin auf „die Annäherung der Ukraine an die Nato und die EU“ früher oder später „mit einer Aggression antworten würde“. Baberowski, der es im übrigen für eine „völlig irreale“ Vorstellung hält, Putin werde ein NATO-Land angreifen, schlussfolgert daraus, wir könnten „nicht ändern, dass Putin und Russland sind, wie sie sind. Mit dieser Wirklichkeit muss man auf pragmatische Weise zurechtkommen“.
Die Dinge zu nehmen, „wie sie sind“, auch wenn es sich um monströse Mordmaschinerien handelt, erweist sich als ebenso ärmliche wie gefährliche Essenz dieser Art von „Realismus“. Was gemäß dessen Prämissen und angesichts der globalen Aggression der „Achse der Autokraten“ (Anne Applebaum) mit „Pragmatismus“ gemeint ist, lässt sich leicht erahnen: der Versuch, sich durch Zugeständnisse an den Aggressor eine trügerische Sicherheit zu erkaufen.
Doch der Kardinalfehler von „Realisten“, die gerne in den Kategorien von Carl Schmitts „Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ denken, liegt darin zu glauben, aggressive Regime würden sich damit zufrieden geben, dass man sie innerhalb ihrer „Einflusszonen“ nach Belieben schalten und walten lässt. In Wahrheit zielt Putins Russland darauf, die liberalen Demokratien im Ganzen zu zerstören, und auch Peking strebt verschärft nach Kontrolle über die internen Schaltstellen der westlichen Gesellschaften. Sollte sich der Westen tatsächlich eine Art Interventionsverbot in jene „Räume“ auferlegen, die angeblich seinen Gegnern zustehen, heißt das keineswegs, dass sich auch seine Widersacher in umgekehrter Richtung daran halten werden. Ein „Realismus“, der diese Illusion nährt, ebnet dem Vormarsch des Autoritarismus den Weg.