Stoppt Nord Stream 2, statt Annalena Baerbock zu bashen!

Was mich an der laufenden Schmähkampagne gegen Annalena Baerbock am meisten befremdet, ist die Tatsache, dass sich daran mit zum Teil obsessivem Eifer auch Personen beteiligen, die sonst an vorderster Front und völlig zu Recht vor der Bedrohung durch Putins Russland warnen. (Eine gewisse miefige Alte-Herren-Herablassung gegenüber dem vermeintlich ahnungslosen Dummchen, das sich anmaßt, in die Domäne der ernsthaften Politiker einzudringen, ist bei den Ausfällen gegen Baerbock vor allem in den sozialen Netzwerken leider nicht selten auch im Spiel.)

Statt aber die Schlagzeilen mit ziemlich belanglosen Fragen wie der nach den ethischen Grenzen gängiger Copy-and-Paste-Praxis bei der Generierung überflüssiger Politikerbücher zu füllen, sollten wir uns daran erinnern, dass Baerbock unter den zur Wahl stehenden Kanzlerkanidat/inn/en die einzige ist, die sich seit Jahren eindeutig gegen die Putin-Gaspipeline Nord Stream 2 und generell für eine härtere Gangart gegenüber dem Kreml ausspricht – und dass sie deshalb von Anfang an bevorzugt ins Visier der Moskauer Desinformationskriegs-Apparate geraten ist (vgl. hier). In dem Maße, wie sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen oder angeblichen kleinen Schummeleien der Grünen-Frontfrau fixiert hat, ist diese für die Zukunft der westlichen liberalen Demokratien existenzielle Herausforderung weitgehend aus der öffentlichen Debatte verschwunden.

Ich will damit keineswegs behaupten, dass die emsigen Baerbock-Plagiatsjäger im direkten Auftrag des Kreml agieren würden. Hochstimmung dürfte Baerbocks Demontage im Kreml jedoch ganz bestimmt auslösen. Nichts besseres kann dem Putin-Regime passieren, als dass seine Machenschaften zur Unterminierung der westlichen Demokratien in der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar gemacht und zugleich die wenigen Stimmen diskreditiert werden, die mit der gebotenen Klarheit davor warnen. Und dies dazu noch, ohne dass die Moskauer Desinformationsspezialisten von sich aus allzu viel dazu beitragen müssen.

Fauler Deal Mitte Juli?

Das gilt umso mehr, als hinter den Kulissen derzeit offenbar intensive Verhandlungen über einen faulen Kompromiss zwischen Washington und der deutschen Bundesregierung in Sachen Nord Stream 2 stattfinden. Joe Bidens Rückzieher bei den Sanktionen gegen die Pipeline-Betreiber legt nahe, dass er unbedingt zu einer Übereinkunft mit Berlin kommen will, die es diesem ermöglicht, am deutschen Lieblings-Appeasement-Projekt gegenüber Russland festzuhalten. So stellt die hellsichtige Analystin Anne Francis fest: „Trotz lautstarker Ablehnung der Pipeline hofft die Biden-Regierung Berichten zufolge immer noch auf eine vorläufige Einigung für den Besuch der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in den USA Mitte Juli. Das Weiße Haus könnte dann den Segen des ukrainischen Staatchefs Wolodymyr Selenskyj erbitten, der einige Wochen später zu einem Besuch eingeladen wurde. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass der ukrainische Präsident einem Pipeline-Projekt zustimmt, das speziell darauf ausgelegt ist, sein Land in die Knie zu zwingen.“

Können wir es uns leisten, in einer für Europa sicherheitsstrategisch derart entscheidenden Situation Zeit und Energie mit Erregungskaskaden über die Höhe irgendwelcher Stipendiengelder für Annalena Baerbock zu verschwenden, statt die von ihr erhobene Forderung nach dem Ende von Nord Stream 2 stark zu machen – gegen ihre Konkurrenten Laschet und Scholz, die mit Zähnen und Klauen daran festhalten? Putin seinerseits lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er sich von keinerlei vermeintlichen Absicherungsmaßnahmen gegen den Missbrauch von Nord Stream 2 davon abbringen lassen wird, die Pipeline für seine erpresserischen politischen Absichten einzusetzen. „Anfang Juni“, schreibt Anne Francis treffend. „erklärte Putin auch offen, dass Kyjiw, um eine Fortsetzung des Gastransits durch die Ukraine zu gewährleisten, zunächst ´guten Willen` gegenüber Russland zeigen müsse. Solche kaum verborgenen Drohungen enthüllen die waffenstarrende Realität hinter den wirtschaftlichen Argumenten, die so oft verwendet werden, um die Zusammenarbeit mit dem Kreml im Energiebereich zu rechtfertigen.“

Ich bin wohlweislich kein Anhänger der Grünen und des gesellschaftlichen Zukunftsmodells, das im grünen Wahlprogramm dargelegt wird. Über dieses soll und muss selbstredend inhaltlich gestritten werden. Darüber darf jedoch auch nicht vergessen werden, dass die Grünen unter den deutschen Parteien immerhin diejenigen sind, die am klarsten gegen autoritäre Mächte wie Russland und China Stellung beziehen. Annalena Baerbock und der grünen Führungsspitze mag ihrerseits vorzuhalten sein, dass sie sich zu selbstreferenziell mit der Rechtfertigung ihrer eigenen politischen Kunstfehler befassen, statt das drängende Problem von Nord Stream 2 und seiner Folgen offensiver in den Vordergrund zu stellen. Aber statt sich über die eingebildete Gefahr zu echauffieren, die von einem vermeintlichen grünen Öko-Totalitarismus ausgehe, sollten sich alle, die es mit der Verteidigung der liberalen Demokratien ernst meinen, den wirklich existenziellen Bedrohungen zuwenden, mit denen diese konfrontiert sind. Eine solche Bedrohung aber stellt keineswegs Baerbock dar, sondern vielmehr Putin – und die Bereitschaft, mit der ihm so viele hierzulande die Tür öffnen.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • In weniger als drei Monaten wird eine neue Regierung gewählt. Die Menschen möchten laut Umfragen eine Wende, aber interessieren sich dann doch nicht dafür. Lieber echauffiert man sich über die Frage, ob Baerbocks Buch formal das Zeug zu einer wissenschaftlichen Arbeit hätte. Nein, hat sie nicht zumal es nie ihre Absicht war eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, sondern die Wähler über ihre Absichten aufzuklären.
    Gerade ob des Umstands, dass fast alle Parteien eine Klimawende anstreben, würde man sich erwarten, dass die unterschiedlichen Politikansätze und wirtschaftlichen Konzepte, ihre Kosten und ihr Nutzen vor der Wahl breiter diskutiert würden, damit man jedermann weiß, was nach der Wahl auf ihn zukommt.
    Eine CO2-Abgabe macht Sinn um die Kräfte des Marktes auf erneuerbare Energie umzulenken und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und damit Staaten wie Russland zu verringern, aber nur dann, wenn es auch eine Grenzausgleichsabgabe gibt. Ohne diese würde sich die Produktion von CO2-emittierenden Produkten ins Ausland verlagern um der heimischen, CO2-Neutralität anstrebenden Produktion den Garaus zu machen.
    Es ist kein Zufall, dass Russland schon einmal Protest gegen eine solche Grenzausgleichsabgabe eingelegt hat. Das würde nicht dem Klimaschutz dienen, sondern sei gegen Russland gerichtet. Russisches Öl und Gas werden uns in dieser Denke als Beitrag zum Klimaschutz verkauft.
    Die Frage „Wie hältst Du’s mit Putin“ ist die Gretchenfrage, um welche die etablierten Parteien einen großen Bogen schlagen. Man will sich nicht erklären müssen und hofft sich irgendwie durchlavieren zu können. Die Zeiten in der man sich solche Schwächen leisten konnte, sind jedoch vorbei. Freiheit, Frieden, Sicherheit für Europa interessieren Russland nicht. Ein starkes, geeintes, liberale Werte offensiv vertretendes Europa liegen nicht im Interesse des russischen Regimes. Bleibt die Frage, was die nächste deutsche Regierung interessiert. So hasenfüßig wie man gegenüber Putin und Co auftritt, zieht man es wohl vor nicht mehr auf Menschenrechte zu pochen, wenn es um Russland geht.
    Für die Grünen sind Menschenrechte nicht verhandelbar. Für Russlandversteher schon. Wie konnte es dazu kommen? Wenn die Altparteien sich nicht entschieden von den Feinden des Westens in den eigenen Reihen distanzieren, leistet man diesen Kräften und damit dem Kreml Vorschub. Wie Gerhard Schröder in einem kürzlich erschienen Werk erklärte, handelt es sich bei Menschenrechten, Demokratie, Rule-of-Law etc. um Werte die „nur der Westen als für sich verbindlich definiert“. Ob diese auf andere übertragbar sind stellen Putinversteher grundsätzlich infrage. Sie finden den westlichen Blick «überheblich» und «gönnerhaft». Inhaftierte chinesische Demokraten in Hongkong oder Oppositionelle in russischen Lagerhaft werden das vermutlich anders sehen.. Die Frage, ob man sich auf der Seite des Rechts oder der Macht positioniert, ist für unsere Zukunft von entscheidender Bedeutung. Die Grünen haben klargemacht auf welcher Seite sie stehen, was man von den anderen Parteien leider so nicht sagen kann.

  • Die grüne Kandidatin demontiert sich selber.
    Putin beeinflusst sicher mit seinen KGB Methoden und auch Infoportalen, und Internet Trollheeren einige Leute,
    doch im Falle der grünen Kandidatin ist es sicher so ,das die vielen Fehler ,die Sie macht zu sinkenden Umfragewerten führen.
    Eine Veränderung der Klima &Energiepolitik fällt nicht vom Himmel und sicher ist Nordstream zwei ein Manipulationsmittel von Putin doch es wird fleißig an alternativen Energieerzeugungsanlagen gebaut.
    In den nächsten 10 Jahren wird deswegen Nordstream an Bedeutung verlieren.

  • Baerbock wird im Kreml kaum einer kennen – vorher nicht und jetzt erst recht nicht.
    Wenn jeder vehemente Gegner der russischen Gasleitung zum Bundeskanzler qualifiziert wäre, brauchten wir uns keine Sorgen zu machen.
    Die ,,Kandidatin“ (die tatsächlich erst eine werden möchte, s. Art 63 GG) hat sich durch eigenes Verhalten so schnell demontiert beschädigt, dass CDU-Aufsteigerin Angela Merkel – ohne ideolgisches Brimborium oder feministische Abstraktionen – lange Zeit die einzige Bundeskanzlerin sein wird.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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