Thomas Mann: Was uns sein Kampf für Demokratie lehrt

Am 6. Juni jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag von Thomas Mann. Aber nicht nur das literarische Werk des nach Goethe und Schiller wohl berühmtesten deutschen Schriftstellers verdient die Aufmerksamkeit, die es weltweit unvermindert genießt. Auch seine politische Essayistik ist auf bemerkenswerte – und bedrückende – Weise gegenwärtig. Das gilt vor allem für die Schriften und Reden des Literaturnobelpreisträgers von 1929 zur Verteidigung der Demokratie. Denn auch heute wieder droht, wovor Mann vor vielen Jahrzehnten eindringlich gewarnt hat: die Zerstörung der demokratischen Zivilisation.

Dabei war Thomas Manns Parteinahme für die Demokratie das Resultat einer ungewöhnlichen Wandlung. Im Ersten Weltkrieg hatte er den deutschen Waffengang zu einem Verteidigungskrieg des “deutschen Geistes” gegen den “Imperialismus” der Westmächte verklärt. Die Demokratie, die diese ihm aufzwingen wollten, sei Deutschland wesensfremd. In seinen Reflexionen zum Krieg, die 1918 unter dem Titel “Betrachtungen eines Unpolitischen” zusammengefasst wurden, stellte er das “Deutschtum” als den Ausdruck von “Kultur, Seele, Freiheit, Kunst” über die westliche “Zivilisation” und Begriffe wie “Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur”, die er den westlichen Demokratien zuschrieb.

Doch 1922 trat Mann in einer spektakulären Rede mit einem überraschenden Bekenntnis zur Weimarer Republik und ihrer demokratischen Staatsform hervor. Stehe diese doch für das Streben nach einer allumfassenden Humanität, wie es in der deutschen Geistestradition angelegt sei. Der extremen Rechten, die seine früheren Schriften als kanonische Texte einer kommenden “konservativen Revolution” betrachtet hatte, galt er nunmehr als Verräter an der “deutschen Sache”. Mann aber entwickelte sich in den folgenden Jahren umso entschlossener zum Streiter für die demokratische Idee. Sein Konservatismus öffnete sich zunehmend liberalen und sogar sozialdemokratischen Einflüssen. Wie kaum eine andere Stimme aus der bürgerlichen Mitte stemmte er sich der schrittweisen Zerstörung der Weimarer Demokratie entgegen, die in Hitlers Machtergreifung kulminierte.

Gegen Appeasement  

Auch angesichts des unaufhaltsam scheinenden Vordringens von Nationalsozialismus und Faschismus auf dem Kontinent hielt Mann an der Überzeugung fest, dass der Demokratie die Zukunft gehöre, wie er in seiner 1938 im amerikanischen Exil gehaltenen Rede mit dem Titel: “Vom zukünftigen Sieg der Demokratie” bekräftigte. Allerdings setze dieser Sieg “die tiefe und kraftvolle Besinnung der Demokratie auf sich selbst, die Erneuerung ihres geistigen und moralischen Selbstbewusstseins” voraus. Ebenso müssten die Demokratien begreifen, so Mann in seiner Rede weiter, dass das Welt- und Geschichtsbild des Faschismus “ein absoluter, von Moral und Vernunft völlig freier und ihnen fremder Dynamismus” ist, “dessen Forderungen nicht mit Zugeständnissen zu befriedigen und zur Ruhe zu bringen, sondern durchaus uferlos, unbestimmbar und ohne Grenzen ist.” 

Damit trat Thomas Mann entschieden der westlichen Appeasement-Politik entgegen. Sie zeigte in seinen Augen, dass die Demokratie “noch weit entfernt” sei, “sich eine deutliche Vorstellung von dieser faschistischen Konzentration, dem totalen Staat, seinem Fanatismus, seiner Unbedingtheit zu machen”. Sie müsse aber das Neue, “das damit in die Welt gekommen ist, in seiner durchaus bösartigen Neuheit begreifen, um dagegen bestehen zu können.” 

Man muss nur das Wort “deutsche” durch “russische” und das Wort “Nationalsozialismus” durch “Putin-Regime” ersetzen, um die unheimliche Aktualität der Feststellung Manns zu erkennen, dass “deutsche Forderungen im Munde des Nationalsozialismus niemals dem Frieden, sondern ausschließlich der Machterhöhung und der Verbesserung der Kriegsaussichten gelten”, und dass man daher “mit ihrer Erfüllung nicht dem Frieden, sondern dem Krieg” dient.

Das Böse erkennen 

Auch wenn sich der Putinsche Terrorstaat nicht eins zu eins mit seinen faschistischen und nationalsozialistischen Vorläufern deckt, treffen diese Erkenntnisse doch exakt auch auf ihn zu. Umso deprimierender ist es, dass sich die meisten demokratischen Staaten und Gesellschaften einmal mehr als unfähig erwiesen haben, das sich in neuem Gewand erhebende Böse rechtzeitig in seiner ganzen Gefährlichkeit zu erkennen. Und das, obwohl Thomas Mann, der nicht nur in Deutschland als einer der bedeutendsten Humanisten des 20. Jahrhunderts verehrt wird, ihnen deutlich ins Stammbuch geschrieben hatte, welche verheerende Konsequenzen mangelnde Wachsamkeit gegenüber entstehenden Gewaltsystemen hat, die sämtliche moralische und ideelle Grundlagen zivilisierten Zusammenlebens aggressiv negieren.

Allerdings ging die Hellsicht, die Mann gegenüber Faschismus und Nationalsozialismus bewiesen hat, bei ihm mit einer Verharmlosung des sowjetischen Totalitarismus einher, die er 1938 – im Jahr des Höhepunkts der Stalinschen “Säuberungen” und der Moskauer Schauprozesse, und ein Jahr vor dem Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts – als “Friedensmacht” pries. In dieser Hinsicht, meinte er, stehe die Sowjetunion den Demokratien nahe. 

Ungeachtet dieser gravierenden Fehleinschätzung lohnt es sich aber unbedingt, Thomas Manns eindringliche Gedanken zur Demokratie aufmerksam zu studieren. Dies umso mehr, als sich die Feinde der Demokratie heute oftmals eines Tricks bedienen, der sie schwerer als solche erkennbar macht als ihre historischen Vorgänger: Sie geben sich als die  Verfechter wahrer Demokratie, als Verteidiger individueller Freiheit und freier Meinungsäußerung aus. Davon, dass die demokratischen Gesellschaften diese Irreführung durchschauen, hängt ihr Fortbestand ab. Nur Demokratien, die sich gegenüber ihren inneren wie äußeren Feinde wehrhaft zeigen und ihnen mit selbstbewusstem Vertrauen in ihre überlegene politisch-gesellschaftliche, wirtschaftliche und moralische Kraft entgegenstellen, haben eine Zukunft.

Der Text ist zuerst als Kolumne auf Ukrainisch hier und auf Deutsch hier erschienen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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