Das transatlantische Bündnis droht zu zerbrechen. Denn US-Präsident Donald Trump negiert die grundlegenden Prinzipien, die es es zusammenhalten – ja, er zeigt offene seine Verachtung für die normativen und ideellen Fundamente der westlichen Freiheitsordnung. Das wird auf fatale Weise an seinem Bestreben deutlich, der Ukraine einen “Frieden” aufzuzwingen, der mit Gebietsabtretungen an den völkermörderischen Aggressor Russland verbunden ist. Und Trump selbst schickt sich mit seinen Annexionsdrohungen gegen Grönland, Kanada und Panama an, den expansionistischen Ambitionen seines Vorbilds Putin nachzueifern.
Damit verstößt er eklatant gegen das zweite in der Atlantik-Charta von 1941 festgelegte Gebot, nach dem es “keinerlei territoriale Veränderungen, die nicht im Einklang mit den in voller Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen”, geben darf. Auf die als Atlantik-Charta bezeichnete Erklärung (in vollem Wortlaut unten im Anhang zu lesen) hatten sich am 14. August 1941 US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill geeinigt. In ihr wurden ihre gemeinsamen globalpolitischen Ziele in der „Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt“ festgehalten. Sie bildete damit den Keim für die künftige westliche Wertegemeinschaft.
Die noch vor dem offiziellen Kriegseintritt der USA bei einem Treffen der beiden Staatsmänner auf einem britischen Schlachtschiff im Atlantik formulierte Deklaration war von enormer symbolischer, im Effekt aber auch praktischer Bedeutung. Sie ließ vor aller Welt den fundamentalen Unterschied zwischen der globalen Vision der demokratischen Zivilisation und den Absichten ihrer totalitären Feinde plastisch werden. Auf den Prinzipien der Atlantik-Charta gründete die Einheit der Westalliierten im Zweiten Weltkrieg, sie wirkten aber auch weit darüber hinaus. Sie dienten als ideelle Quelle für die Errichtung der europäischen demokratischen Nachkriegsordnung und für die Entwicklung supranationaler Strukturen, von den UN bis zur NATO., ebenso wie für den Prozess der Entkolonisierung nach 1945 und die Wiedervereinigung Europas in Freiheit 1989/90.
Auch wenn sich der Westen nur allzuoft nicht an diese seine eigenen Prinzipien gehalten hat – grundsätzlich sind die in der Atlantik-Charta formulierten Leitlinien als fundamentale Orientierung für das weltgeschichtliche Wirken der Demokratien gültig geblieben. Heute jedoch befindet sich die transatlantische Idee in der historischen Defensive, wenn sie nicht vor einem epochalen Rückschlag steht. Ob die Vereinigten Staaten noch einmal zu ihren universalistischen demokratischen Idealen zurückkehren werden, ist fraglich, kann doch keineswegs ausgeschlossen werden kann, dass sich die von Trump betriebene Umwandlung der US-Demokratie in ein autoritäres Herrschaftsystem als unumkehrbar erweisen wird. Aber auch in Europa schwindet die Anziehungs- und Integrationskraft der liberalen demokratische Ordnung, und sie ist durch den Aufstieg autoritärer, von Autokratien wie der russischen und chinesischen unterstützter Kräfte existenziell bedroht.
Atlantik-Charta 2.0
Umso mehr wäre es jetzt dringend geboten, die gemeinsamen essenziellen weltpolitischen Prinzipien der demokratischen Nationen in einer neuen Grundsatzerklärung zu bekräftigen und zu kodifizieren. Es sollte ein Dokument sein, das die freiheitlichen Ziele demokratischer Globalpolitik offensiv den aufstrebenden neuen Autokratien entgegensetzt, das im schlimmste Fall aber auch dazu geeignet ist, das Versprechen auf eine besseren Welt über mögliche kommende dunkle Zeiten autoritären zivilisatorischen Rückschritts hinweg zu bewahren und die Hoffnung auf die Überwindung eines solchen reaktionären Rückfalls aufrechtzuerhalten.
Ein solcher Kodex der Demokratie könnte aktuell auch als Grundlage für eine Fraktionsbildung der Demokratien innerhalb der Vereinten Nationen dienen und dabei helfen, das Vorgehen der demokratischen Staaten innerhalb der Weltorganisation, die zunehmend unter den Einfluss autoritärer Mächte wie China zu geraten droht, stärker zu koordinieren. Demokratische Regierungen, die eine entsprechende Mehrheit dafür organisieren können, sollten das Bekenntnis zu den Zielen der neuen Atlantik-Charta zudem in der Verfassung ihres jeweiligen Landes verankern. Dies würde es antiliberalen Kräften, sofern sie in demokratischen Ländern an die Regierung kommen, erschweren, eine fundamentale Wende in der Außenpolitik weg von der transatlantischen Orientierung zu vollziehen.
Im Juni 2021 hatten der damalige US-Präsident Joe Biden und der zu dieser Zeit amtierende britische Premierminister Boris Johnson bereits eine “Atlantik-Charta 2.0.” verabschiedet, deren Wirkung jedoch weitgehend verpuffte. Dazu trug nicht zuletzt der fluchtartige Rückzug der USA aus Afghanistan im August desselben Jahres bei, mit dem das Land der totalitären Willkür der Taliban ausgeliefert wurde und der die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses Bidens zur weltweiten Verteidigung der Demokratie massiv erschütterte. Biden versuchte in der Folge dennoch, eine “Allianz der Demokratien” ins Leben zu rufen, um die Kooperation zwischen den demokratischen Nationen zu stärken und die Attraktivität und Strahlkraft der demokratischen Idee zu steigern. Doch diese Initiative scheiterte unter anderem daran, dass der Kreis der Teilnehmer zu weit gefasst und auch Staaten einbezogen wurden, deren demokratische Reputation und Stabilität eher zweifelhaft sind. So kam bei diesem Projekt nicht mehr heraus als vage Lippenbekenntnisse und diplomatische Allgemeinplätze, und es verlief bald im Sand.
Kanadas ideelle Führungsrolle
Im Gegensatz dazu sollte die Abfassung einer neuen Version der Atlantik-Charta einem engeren Kreis führender demokratischer Regierungen übertragen werden, der aber doch größer sein sollte als es bei seinem historischen Vorläufer der Fall war. Diese Charta sollte ähnlich knapp und präzise formuliert sein wie ihr historisches Vorbild, trotzdem aber umfassender ausfallen als die Erklärung von 1941. Nicht zuletzt hätte sie zu berücksichtigen, dass es auch außerhalb des atlantischen Raums gefestigte Demokratien gibt – wie Australien und Neuseeland, aber auch Südkorea, Japan und Taiwan – die nicht weniger zur Festigung und Verbreitung des Prinzips der Selbstregierung freier Völker beizutragen haben als die Demokratien der westlichen Hemisphäre, und die deshalb in eine neue Aktlantik-Charta einbezogen werden sollten. Auch wenn das atlantische Bündnis einstweilen noch immer das Rückgrat der weltweiten demokratischen Zivilisation bildet und für deren Fortbestand unverzichtbar bleibt, sollte das neue Dokument daher eine universelle Bezeichnung erhalten wie etwa “Charta der Demokratien”.
Wer aber sollte diese neue Atlantik-Charta ausarbeiten und verabschieden? Die stärkste Kraft und bisherige Führungsmacht der demokratischen Welt, die USA, würden sich unter dem Regime Donald Trumps auf Regierungsebene diesem Vorhaben wohl verweigern. Doch könnten führende Repräsentanten der US-Demokratie wie Gouverneure und Senatoren, die der transatlantischen Idee treu geblieben sind, dafür gewonnen werden, sie zu unterstützen. Sie würden damit deutlich machen, dass sich ein großer Teil der amerikanischen Gesellschaft ungebrochen zur transatlantischen Gemeinschaft bekennt und so den Druck auf die Trump-Regierung erhöhen, den Verrat an ihr nicht zu weit zu treiben.
Eine wichtige Rolle als Initiator einer neuen Charta sollte Kanada zukommen, dessen Ministerpräsident Mark Carney seinen kürzlichen Wahlsieg seiner klaren Absage an Trumps expansionistischen Autoritarismus und dem kämpferischen Bekenntnis zu demokratischer Souveränität und liberaler Rechtstaatlichkeit verdankt. Gemeinsam mit einigen herausragenden demokratischen Regierungspersönlichkeiten (unbedingt sollte der ukrainische Präsident Selenskyj dabei sein, aktuell eindeutig der Anführer der freien Welt) aus Europa, Asien, Lateinamerika und Afrika, könnte Kanadas Premier einen Text verfassen und in der gesamten demokratischen Welt um Zustimmung für ihn werben.
Die Entstehung eines solchen Nachfolgedokuments der Atlantik-Charta ist freilich fürs erste nur eine Vision und ungewisse Hoffnung. Ein demonstratives Signal, dass die Demokratien den vereinten Kampf gegen die weltweite Herausforderung durch mörderische autokratische und totalitäre Mächte offensiv aufzunehmen bereit sind, ist jedoch zwingend notwendig.
Anhang: Der Text der Atlantik-Charta vom August 1941
Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und Ministerpräsident Churchill, als Vertreter der Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich, erachten es als ihr Recht, einige allgemeine Prinzipien der Politik ihrer Länder bekanntzugeben, Prinzipien, auf deren Verwirklichung sich ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt gründen.
- Ihre Länder streben keinerlei Bereicherung an, weder in territorialer noch in anderer Beziehung.
- Sie wünschen keinerlei territoriale Veränderungen, die nicht im Einklang mit den in voller Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen.
- Sie achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die ihrer durch Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden.
- Sie werden, ohne ihre eigenen Verpflichtungen außer Acht zu lassen, für einen freien Zutritt aller Staaten, der großen wie der kleinen, der Sieger wie der Besiegten, zum Welthandel und zu jenen Rohstoffen eintreten, die für deren wirtschaftliche Wohlfahrt vonnöten sind.
- Sie erstreben die engste Zusammenarbeit aller Nationen auf wirtschaftlichem Gebiete, eine Zusammenarbeit, deren Ziel die Herbeiführung besserer Arbeitsbedingungen, ein wirtschaftlicher Ausgleich und der Schutz der Arbeitenden ist.
- Sie hoffen, dass nach der endgültigen Vernichtung der Nazi-Tyrannei ein Frieden geschaffen werde, der allen Völkern erlaubt, innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und der es allen Menschen in allen Ländern ermöglicht, ihr Leben frei von Furcht und von Not zu verbringen.
- Dieser Friede soll allen Völkern die freie Schifffahrt auf allen Meeren und Ozeanen ermöglichen.
- Sie sind von der Notwendigkeit überzeugt, dass aus praktischen wie aus sittlichen Gründen alle Völker der Welt auf den Gebrauch der Waffengewalt verzichten müssen. Da kein Friede in Zukunft aufrechterhalten werden kann, solange die Land-, See- und Luftwaffen von Nationen, die mit Angriff auf fremdes Gebiet gedroht haben oder damit drohen können, zu Angriffszwecken benutzt werden können, halten sie bis zur Schaffung eines umfassenden und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit die Entwaffnung dieser Nationen für notwendig. Ebenso werden sie alle Maßnahmen unterstützen, die geeignet sind, die erdrückenden Rüstungslasten der friedliebenden Völker zu erleichtern.