Der Mitte März unter dem Titel „Für Europa“ in der Süddeutschen Zeitung“ veröffentlichte Beitrag, in dem sich Jürgen Habermas zur aktuellen deutschen und europäischen Verteidigungspolitik angesichts des transatlantischen Zerwürfnisses und der Bedrohung durch Russland äußert, ist die Manifestation eines intellektuellen und moralischen Versagens.
Versäumt es der berühmte Sozialphilosoph doch, beim Namen zu nennen, um was es sich bei der russischen Aggression gegen die Ukraine tatsächlich handelt: um einen von der Kreml-Führung offen angekündigten und planmäßig betriebenen Völkermord. Die zahlreichen von Russland systematisch begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die diesen Tatbestand eindeutig belegen, finden bei Habermas keine Erwähnung.
Indem er das genozidale Motiv des russischen Vernichtungskriegs ausblendet, spielt er das Ausmaß der Gefahr herunter, die von Russland nicht nur für die europäische Sicherheit im Ganzen, sondern für das zivilisatorische Fundament Europas als solchem ausgeht. Zwar bestreitet Habermas nicht, dass Russland in diesem Krieg der Aggressor ist, doch relativiert er diese Feststellung mit dem Einwand, der Krieg sei womöglich vermeidbar gewesen, hätte der Westen nur rechtzeitig mit dem Kreml verhandelt.
Doch abgesehen davon, dass europäische Staatslenker wie Olaf Scholz und Emmanuel Macron, aber auch US-Präsident Joe Biden vor der russischen Vollinvasion geradezu händeringend versucht haben, dem Kreml-Chef seine Kriegspläne auszureden, die dieser bis zuletzt lügnerisch bestritt – worüber hätte man eigentlich mit ihm „verhandeln“ sollen?
Fiktion “Verhandlungslösung”
Als Voraussetzung für solche Verhandlungen hatte der Kreml nicht nur ultimativ die „Entnazifizierung“ – dass russische Codewort für die Beseitigung der ukrainischen Demokratie – und die Entmilitarisierung der Ukraine gefordert, sondern auch den Rückzug der NATO aus Osteuropa sowie die Rückkehr zum Status von 1997, das heißt: vor Beginn der Beitrittsverhandlungen mit den osteuropäischen Demokratien. Auch nur der Gedanke daran, auf derartige Forderungen einzugehen, wäre der Selbstaufgabe des demokratischen Westens gleichgekommen. Und tatsächlich hatte sie der Kreml nur aufgestellt, um davon abzulenken, dass der Einmarsch in die ganze Ukraine längst beschlossene Sache war – ebenso wie dessen Zielsetzung, die Eliminierung des ukrainischen Staats sowie der ukrainischen nationalen Identität, von der die russische Führung bis heute keinen Millimeter abgerückt ist.
Habermas aber ignoriert diese Tatsachen, um seine Fiktion von einer verpassten „Verhandlungslösung“ aufrechtzuerhalten – womit er sich die entsprechende russische Desinformation zu eigen macht. Bereits in einem Anfang 2023 erschienen Zeitungsbeitrag hatte er den russischen Überfall zwar als “völkerrechtswidrigen, ja kriminell geführten Angriff auf Existenz und Unabhängigkeit eines souveränen Staates“ bezeichnet. Doch zog er aus dieser Feststellung die widersinnige Schlussfolgerung, zwischen dem Aggressor Russland und seinem Opfer, der Ukraine, könne und müsse „ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden.“ Als komme es der Ukraine bei ihrem Verteidigungskrieg darauf an, „ihr Gesicht zu wahren“, und als kämpfe sie nicht vielmehr um ihre pure Existenz als Nation sowie der Bewahrung des Lebens und der Menschenwürde seiner Bürger vor der Auslöschung! Und als seien der Aggressor und sein Opfer zwei Kriegsparteien, die gegenseitige „Forderungen” aneinander stellten, welche, so Habermas damals, zwar “einstweilen” noch „einander diametral entgegengesetzt“ seien, am Ende aber doch in einen „Kompromiss“ überführt werden könnten.
In seinem neuen Text wirft Habermas dem Westen nun „fahnenschwenkendes Kriegsgeschrei“ vor. Statt des „lauthals angestrebten `Sieges´ über eine Atommacht wie Russland“ sei nach dem Februar 2022 „ein realistisches Nachdenken über die Risiken eines längeren Krieges am Platz gewesen.“ Er wärmt damit implizit die unsinnige These auf, eine Atommacht könne nicht militärisch besiegt werden – so, als habe es Niederlagen wie die der USA in Vietnam und der Sowjetunion in Afghanistan nie gegeben.
Angesichts der chronischen Zögerlichkeit, die der Westen bei der militärischen Unterstützung der Ukraine an den Tag gelegt hat – aus Angst, den Aggressor zu sehr zu „provozieren“ und so selbst in den Krieg hineingezogen zu werden – stellt die Behauptung, er sei in „Kriegsgeschrei“ verfallen, eine groteske Verzerrung der Wirklichkeit. Und regelrecht infam ist Habermas´ Vorwurf, die Europäer hätten sich „ganz in die Hand der ukrainischen Regierung gegeben“, indem sie sich „ohne eigene Zielsetzung und ohne eigene Orientierung auf eine unbedingte Unterstützung der ukrainischen Kriegsführung eingelassen“ hätten. Habermas schürt damit antiukrainische Ressentiments, wie sie in Deutschland sonst vor allem von extremen Rechten wie der Kreml-Partei AfD verbreitet werden. Doch in Wahrheit war es namentlich die deutsche Regierung unter Olaf Scholz, die die ukrainische Kriegsführung durch ausbleibende Waffenlieferungen und die Verweigerung dringend benötigter Waffensysteme immer wieder torpediert hat.
Vom akademischen Katheder
Dabei spricht sich Habermas, im Gegensatz zu anderen Kritikern der westlichen Ukrainepolitik auf der Linken wie Rechten, nicht grundsätzlich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Immerhin konzediert er, dass nach dem Beginn des russischen Überfalls „ein militärischer Beistand zur Aufrechterhaltung der staatlichen Existenz der Ukraine gewiss geboten gewesen“ sei. Doch glaubt er offenbar, vom akademische Katheder herab besser als die ukrainische Regierung beurteilen zu können, welcher militärische Aufwand zur Erreichung dieses Ziels notwendig ist.
Tatsächlich offenbart sich in Habermas´ Vorbehalten gegen eine zu starke Unterstützung der Ukraine ein grundsätzlich gebrochenes Verhältnis zur militärischen Seite der Verteidigung der westlichen Freiheit. Habermas, der stets als entschiedenster Befürworter der Westbindung der Bundesrepublik gelten wollte, hat nie ganz akzeptiert, dass die NATO der zentrale institutionelle Ausdruck eben der Westbindung ist. So warf er im Historikerstreit der späten 1980er Jahre, als er sich gegen den die Shoa relativierenden Geschichtsrevisionismus Ernst Noltes wandte, diesem seltsamerweise „eine deutsch-national eingefärbte NATO-Philosophie“ vor – als gälten in Wahrheit der deutsch-nationalen Rechten nicht gerade Institutionen wie die NATO als Manifestationen der vermeintlichen Zwangseingliederung Deutschlands in Strukturen eines von den USA kommandierten Westens.
Zwar befürwortet Habermas grundsätzlich die Stärkung der Verteidigungskraft Deutschlands, doch ist das für ihn nur unter der Voraussetzung eines „entsprechend weiteren Schrittes in der europäischen Integration“ akzeptabel. Daraus spricht wohl seine Sorge, dass Deutschland, wenn es seine Aufrüstung nicht in eine vertiefte europäische Integration einbettet, wieder zu einer militärischen Gefahr für seine Nachbarn würde. Dabei ist ihm offenbar entgangen, dass die europäischen Partner – insbesondere die osteuropäischen, und an erster Stelle Polen – diese Sorge nicht nur nicht teilen, sondern seit langem darauf drängen, dass Deutschland seinen militärischen Beitrag zur Verteidigung Europas endlich massiv erhöht. Ungeachtet dessen glaubt er in der überfälligen deutschen Aufrüstung eine „Wiederbelebung einer zu Recht überwunden geglaubten militärischen Mentalität“ erkennen zu können.
“Gegenseitige Verfeindung”
Die akute Bedrohung der EU durch Russland, die er als „höchst spekulative Annahme“ abtut, stellt für Habermas jedenfalls keinen ausreichenden Grund für verstärkte militärische Verteidigungsanstrengungen dar. Vielmehr akzeptiert er sie nur unter dem vermeintlich höheren Aspekt, wie sich Europa auf globaler Ebene werde behaupten können, sollte es von den USA sicherheitspolitisch im Stich gelassen werden. Er findet es sogar „bedrückend“, dass die „ganz ungewöhnliche Anstrengung zu einer Aufrüstung der Bundeswehr im Klima einer gegen Russland aufgeheizten Stimmung diskutiert“ werde. Suggeriert wird damit, die Bedrohung durch Russland sei künstlich aufgebauscht und gegen den Aggressor werde – „forciert von einer einseitigen politischen Meinungsbildung“ – ungerechtfertigterweise Stimmung gemacht. So habe sich die westliche Öffentlichkeit „in den Sog einer gegenseitigen Verfeindung mit dem Aggressor hinein ziehen lassen.“
Die Haltung, die in dieser Argumentation zum Ausdruck kommt, gleicht auffällig der, die deutsche linksliberale Intellektuelle bereits im Bosnienkrieg seit 1992 an den Tag legten. Ihr ethisches Selbstverständnis hatten sie aus dem Imperativ abgeleitet, ein neues Auschwitz müsse in Zukunft unmöglich gemacht werden. Doch als in Europa zwar keine neues Auschwitz, doch immerhin ein neuer Genozid auftrat, galt das nicht mehr. Führende Intellektuelle wie Habermas und Günter Grass stemmten sich damals gegen eine westliche Intervention zum Schutz der vom serbischen Völkermord bedrohten Bosnier. Bestand ihre Hauptsorge doch darin, eine „einseitige“ Parteinahme des Westens könnte zu einer “Eskalation” des Konflikts führen. Die Furcht davor, der Krieg könnte auch in die eigene Oase zivilisierter Friedfertigkeit vordringen, stand über der Solidarität mit den Opfern einer völkermörderischen Aggression. Daran hat sich bei dem Gros der deutschen Intellektuellen bis heute nichts geändert.
Der Text ist zuerst am 10.5.2025 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.